Theater der Zeit

Pragmatische Annäherungen

von Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand

Erschienen in: Scène 14: Neue französische Theaterstücke (11/2011)

Assoziationen: Europa Dramatik

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Im Juni 2011 fand im Berliner Deutschen Theater im Rahmen der Autorentheatertage eine beeindruckende Veranstaltung statt. Unter dem Titel »Bal littéraire« waren vier französische und vier deutschsprachige Theaterautoren zusammengekommen, um über drei Tage hinweg eine Art theatralischen Fortsetzungsroman zu schreiben. Als Grundgerüst diente eine »Playlist« von acht Popsongs, um die herum die acht Dramatiker eine tragikomische deutsch-französische Verwechslungskomödie ersannen. Das Ergebnis trugen die Autoren selbst in einer temporeichen Mischung aus Party und Lesung einem begeisterten Publikum vor.

Beeindruckend war die Veranstaltung vor allem deshalb, weil sie mit leichter Hand alle gegenseitigen Vorurteile und eingefahrenen Gewohnheiten zweier Theatersysteme überwand und aushebelte. Auf der Bühne waren acht Individuen zwischen 25 und 45 Jahren zu sehen und zu hören, die sich - zwar deutlich komödiantisch verbrämt, aber immerhin - mit einer Realität im Spannungsfeld zwischen Popkultur, Weltpolitik und persönlichen Schicksalen beschäftigten, die trotz der unterschiedlichen Perspektiven etwas Universelles bekam. Vielleicht lässt sich aus diesem spielerischen Workshop-Format einiges darüber lernen, wie sich der Theateraustausch zwischen Deutschland und Frankreich produktiver gestalten ließe: Anstatt fortwährend darüber zu debattieren, dass sich hier äußerst verschiedene Traditionen und Sprachauffassungen gegenüberstehen und die Zirkulation von Texten zwangsläufig Missverständnissen, Klischees und im besten Falle falsch verstandener Faszination unterworfen ist, könnte man doch auch - ganz pragmatisch und bescheiden - lediglich nach Berührungs- und Anknüpfungspunkten suchen. Insofern versteht sich die hier vorliegende 14. Ausgabe der Reihe Scène vor allem als Angebot, die vorgeschlagenen Texte nicht sofort unter dem Schlagwort »Frankreich« ins Regal einzusortieren, sondern sie als potentielle Spielvorlagen für Deutschland zu betrachten. Diese Konzentration auf die Theaterpraxis kommt nicht von ungefähr. Als in Deutschland und Frankreich arbeitende französische Regisseurin (Leyla-Claire Rabih) und deutscher Übersetzer französischsprachiger Dramatik (Frank Weigand) haben wir beide in den letzten Jahren die Erfahrung gemacht, dass man leichter zu einem Ergebnis kommt, wenn man die unterschiedlichen Systeme als komplementär betrachtet und keines der beiden zum Nonplusultra erhebt. Erbitterte Grundsatzdiskussionen über den Status des Textes an sich (»Material« in Deutschland contra »Partitur« in Frankreich) erweisen sich häufig als ähnlich fruchtlos wie die forcierte Aufarbeitung bi-nationaler Klischees in staatlich finanzierten Kooperationsprojekten. Was wir bereits vor unserer Ernennung zum Herausgeberduo von Scène teilten, war ein unbedingtes Interesse an Texten, die sich »mit der Welt« beschäftigen, d. h. künstlerisch auf gesellschaftliche Entwicklungen reagieren und den eigenen Standpunkt als Autor und Akteur innerhalb eines kulturpolitischen Systems hinterfragen. Daher haben wir bei unserer Textauswahl für Scène 14 nach Stücken gesucht, die nicht nur diesen Anspruch erfüllen sollten, sondern auch formal für das deutsche Stadttheater interessant sein können. Was also verbindet die in diesem Band versammelten Autoren? Trotz unterschiedlicher formaler Ansätze setzen sich alle hier erstmals in deutscher Übersetzung vorgestellten Texte mit der schwer fassbaren Komplexität unserer Gegenwart auseinander - vom Familiendrama einer Nathalie Fillion bis hin zu Samuel Gallets apokalyptischem Bürgerkriegsszenario. Konfrontiert mit der immer offenkundiger zutage tretenden sozialen und wirtschaftlichen Instabilität stellen sich die Figuren aller fünf Stücke die Frage nach ihren familiären Bindungen, die mal als Last, mal als einziger Schutz in der Unübersichtlichkeit der Realität erlebt werden. Während in Nathalie Fillions »Durch den Wind« kurzerhand eine generationen- und nationenübergreifende Patchworkfamilie zusammengestellt wird, um sich gegen die Anforderungen einer veränderten Wirklichkeit zu wappnen, irren Gallets Figuren in »Mitteilung Nummer 10« ziellos durch die Trümmer der Gesellschaft, da sich ihre Eltern als Versager erwiesen haben, die nicht in der Lage waren, ihnen dauerhafte Werte als Rüstzeug für den Überlebenskampf mitzugeben. Auch in Eric Pessans »Alles muss raus« wird das Versagen der Eltern zum Auslöser von Gewalt, als der junge Andreas die Waren eines Einkaufszentrums zerstört, um seine verschuldeten Eltern zu rächen. In beiden Texten müssen die Protagonisten feststellen, dass ihnen die Generation vor ihnen nichts weiterzugeben hat - weder materielle Werte noch Ideale, die in der heutigen Welt noch Gültigkeit hätten. Die Wut über dieses Vakuum führt schließlich zum Aufstand. In Eric Noëls »Kinder machen« kehrt sich diese Situation quasi um: Hier konfrontiert der durch Drogen und Prostitution herbeigeführte Tod seines Sohns ein geschiedenes Elternpaar mit der Unmöglichkeit, das Leben der Kinder zu kontrollieren. William Pellier verleiht in seiner minimalistischen Textfläche »wir waren« einem älteren Ehepaar eine Stimme. Die Frau und der Mann haben sich längst aus den Strukturen von Verwandtschaft, Reproduktion und sozialem Leben ausgeklinkt und sich mit der tristen Kleinbürgerlichkeit eines Daseins zwischen Kreuzworträtseln, Fernsehkonsum und gelegentlichen rassistischen Ausfällen gegen die arabischen Nachbarn abgefunden. Das letzte bisschen Würde im Leben versuchen sie sich durch einen gemeinsamen Selbstmord zu bewahren. Als sie dabei scheitern und der Mann nach dem Tod der Frau
allein im Pflegeheim zurückbleibt, entpuppt sich das Eheleben in all seiner Banalität rückblickend als sinnstiftende Liebesgeschichte. Neben Familienbeziehungen spielt auch der Raum eine wichtige Rolle. In allen ausgewählten Texten wird die Frage nach der Besetzung des Stadtraums gestellt, in dem Privatsphäre und öffentliche Sphäre ineinander übergehen. Während bei Gallet die Protagonisten aus den buchstäblich umkämpften Straßenschluchten und Wohnblocks ins Niemandsland der Peripherie ausweichen, spielt sich bei Eric Pessan gerade in diesem Vorstadtgebiet, genauer gesagt, in einem riesenhaften Einkaufszentrum, eine Art kollektiver Aufstand ab. Den Stadtraum als Ware (oder »Beute«, wie René Pollesch schreiben würde) finden wir auch bei Nathalie Fillion, wo Sohn Jean die wertvollen Immobilien der Familie an gierige Investoren verschleudern will. Zwar werden die derzeit allgegenwärtigen Themen Gentrifizierung und Verödung der Zentren nicht explizit angesprochen, doch ziehen sie sich untergründig durch alle Stücke aus Frankreich. Bei Eric Noël, dem einzigen Nordamerikaner unter unseren Autoren, findet sich erstaunlicherweise ein relativ traditionelles Bild vom Stadtraum: Für den jungen Stricher Philippe ist die Stadt ein Ort der Sünde, an dem er sich verliert und selbst zerstört, während dagegen der Fluss am Haus seiner Eltern in der Kleinstadt L'Assomption eine Art naturmystische Erlösung symbolisiert. Ob das Schaffen der fünf ausgewählten Autoren repräsentativ für die frankophone Welt ist, mag dahingestellt sein. Tatsache ist jedoch, dass sich an ihren unterschiedlichen Werdegängen und poetologischen Überlegungen durchaus ablesen lässt, wie vielschichtig die Theaterlandschaft in den französischsprachigen Ländern tatsächlich ist. Die jüngsten unserer Autoren (Samuel Gallet, Eric Noël) haben prägende Schulinstitutionen durchlaufen und ein Studium in Szenischem Schreiben absolviert. Beiden geht es vor allem darum, die Funktionsweise von Bühne und Theaterapparat zu erforschen und für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. »Schreiben ist und bleibt für mich eine Arbeit an der Zerstörung, der Fragmentierung der Wirklichkeit ... Es geht mir nicht darum, irgendetwas auszudrücken ... Mein Theater hat nichts zu sagen, will kein Thema behandeln, hat nichts mitzuteilen«, schreibt der 27-jährige Eric Noël in einem Blog auf der Website der Quebecer Autorenvereinigung CEAD. Interessanterweise berührt sein Stück »Kinder machen«, das sich im ersten Akt direkt auf den französischen Theaterpoeten Olivier Py beruft, jedoch weniger durch Lyrismen oder revolutionäre Erneuerungen, als durch die präzise Beobachtung zwischenmenschlicher Machtstrukturen, wie man sie auch bei Strindberg, O'Neill oder in den Stücken von Rainer Werner Fassbinder wiederfindet. Im Gegensatz dazu stellt sich der drei Jahre ältere Franzose Samuel Gallet ganz explizit die Frage nach der Rolle des Theaterautoren in der Gesellschaft. Er nimmt an Kollektivarbeiten teil, konfrontiert sich ständig mit neuen Arbeitszusammenhängen, um das Verharren im Elfenbeinturm des allzu Bekannten zu vermeiden. Sein Ziel ist es, neue Formen für ein sozial engagiertes Theater zu entwickeln, das durchaus auch gesellschaftliche Veränderung anstrebt. Dieser bewusst politische Ansatz mag zwar im Gegensatz zu den ironisch gebrochenen, bewusst nicht auf eine konkrete Aussage festlegbaren Texten von Gallets deutschen Altersgenossen naiv und revolutionsromantisch wirken. Doch entfaltet sein Text »Mitteilung Nummer 10« seine Wirkung eben gerade durch eine Kombination aus pointiert geschriebenen Dialogen, atmosphärischer Dichte und manifestartigen Monologen, wie sie sich weniger im Theater findet als in den Endzeit-Comic-Epen des Comiczeichners Enki Bilal oder Klassikern des düsteren Science-Fiction-Kinos wie »Blade Runner«. Für die 1964 geborene Nathalie Fillion dagegen ist das Theater kein Instrument, sondern eine Existenzform. Als Schauspielerin, Regisseurin und Autorin in Personalunion ist sie seit Jahren in den unterschiedlichsten Kontexten der französischen Theaterszene zu Hause. Ihr groß angelegtes Familienstück »Durch den Wind« entwickelte sich aus einer einaktigen Auftragsarbeit für die Comédie Française hin zu einem ehrfurchtgebietenden Abendfüller. Über vier Akte hinweg sucht ein buntes Personenarsenal in den Wirren von Globalisierung und Finanzkrise nach neuen Formen des Zusammenlebens, ohne dabei die eigenen, egoistischen Interessen aus dem Blick zu verlieren. Mit humoristischem Augenzwinkern, federleichtem Dialogwitz und einer schlafwandlerisch sicheren Figurenführung gelingt es der Autorin, »schwere« Themen wie Alter, Demenz und kulturelle Identität zu behandeln, ohne dass dabei jemals ein mahnender Zeigefinger sichtbar würde. »Durch den Wind« ist in jeder Hinsicht ein well-made Play, das es tatsächlich vermag, mit seinem unbedingten Glauben an das Funktionieren des Theaters unsere undurchschaubare überbordende Realität für einen Abend lang zusammenzuhalten. Neben ihrer Tätigkeit als Autorin und Dozentin an einer Schauspielschule ist Nathalie Fillion Mitbegründerin des Autorenkollektivs La Coopérative d'Ecriture, das auch den eingangs erwähnten Berliner »Bal littéraire« inszeniert hat. Eric Pessan (geb. 1970) dagegen ist in erster Linie Romancier. Sein soeben mit großem Erfolg beim Festival d'Avignon vorgestelltes Stück »Alles muss raus« (szenische Einrichtung: Frédéric Maragnani) ist im Grunde genommen »nur« Nebenprodukt eines umfangreichen Buchprojekts über das destruktive Konsumverhalten des Menschen, das den Autor bereits seit zehn Jahren beschäftigt: »Ich war fasziniert von der Tatsache, wie schnell das Bedürfnis nach Konsum in Krawall umschlagen kann. Dies sagt viel über unser ambivalentes Verhältnis zum Konsum aus: Wir alle wollen konsumieren, sind aber nicht in der Lage, dieses Bedürfnis jemals völlig zu befriedigen. Dieser Mechanismus bringt Gier, Frustration und schließlich Gewalt hervor«, sagt Pessan in einem Interview mit seinem Regisseur. Neben »Alles muss raus« ist aus diesem Forschungsprozess auch noch ein zweiter Theatertext, »La Grande Décharge«, sowie ein Roman mit dem Titel »Incident de personne« entstanden. In seiner minutiösen Schilderung der Demontage eines Einkaufszentrums verzichtet Pessan auf eine durchgehende Psychologisierung seiner Figuren und exerziert ein stark rhythmisiertes temporeiches Oratorium über Gier, Zerstörung und Konsum, in dem sprachlicher Realismus und poetische Formung aufeinandertreffen. Auch William Pellier (geb. 1961) ist ein untypischer Theaterautor. Er schreibt seit 1984 für die Bühne. Dabei entstehen zumeist seltsame Hybriden zwischen Drama und Prosatext. Fasziniert von den Experimenten des Nouveau Roman und von deutschsprachigen Autoren wie Thomas Bernhard oder Robert Walser, hat er über die Jahre hinweg sein eigenes unverwechselbares Universum entwickelt. Nachdem er zu Beginn seiner Karriere sowohl als Autor, Schauspieler und Regisseur aktiv war, entschied er sich irgendwann für den Brotberuf des Französischlehrers, der es ihm ermöglicht, seine hochkomplexen Sprachkunstwerke voll lakonischen Humors über lange Zeiträume hinweg zu gestalten, ohne sich den Logiken des Subventionsbetriebs beugen zu müssen. Trotz seiner durchaus sozialen Thematik ist Pelliers »wir waren« keineswegs ein Porträt der Zustände in Pflegeheimen oder eine Beschäftigung mit dem Phänomen Alter, sondern ein eher abstraktes formales Experiment, das all diese »realistischen« Komponenten benutzt und sie in einer Sprachkomposition anordnet, die an abstrakte Malerei oder Minimal Music erinnert. »wir waren«, das 1996 verfasst wurde aber erst 2009 einen Verlag fand, ist ohne jeden Zweifel das experimentellste und vielleicht sogar zeitgenössischste Stück dieser Anthologie. Die Auswahl dieser Texte versteht sich ganz bewusst als Momentaufnahme: Aus 120 Stücken haben wir diejenigen fünf ausgewählt, die unserer Meinung nach zum gegebenen Zeitpunkt Chancen hätten, im deutschen Theaterapparat anzukommen. Bonne lecture!


Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand im August 2011

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