Theater der Zeit

Auftritt

Weimar: Gegen das Vergessen

Kunstfest Weimar: „Und alle Tiere rufen: Dieser Titel rettet die Welt auch nicht mehr“ (UA) von Thomas Köck; „438 Tage NSU-Prozess – Eine theatrale Spurensuche“ von Nuran David Çalış und Tunçay Kulaoğ

von Lara Wenzel

Erschienen in: Theater der Zeit: Angst und Widerstand – Thema Afghanistan (10/2021)

Assoziationen: Kunstfest Weimar

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Erhob sich ein Schwarm Wandertauben, um einen Nistplatz zu finden, verdunkelte er oft tagelang die Sonne. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird von Milliarden Tieren berichtet, die als dunkle Masse den Himmel bevölkerten. Um einen Vogel zu erlegen, schossen die Jäger einfach in die Luft. Sie trafen immer. Etwa hundert Jahre später stirbt Martha, die letzte Wandertaube, im Zoo von Cincinnati. Die europäische Kolonisation führte zum Aussterben der damals größten Vogelpopulation Nordamerikas. Maßlos erlegt für Fleisch und Federn verschwand sie mit dem Vorrücken der Siedler. Von ihr bleibt, wie von allen vernichteten Arten, nur das menschliche Zeugnis. Präparate, Zeichnungen und ihr Name konservieren den besitzergreifenden Blick, der den einzigen Bezugspunkt der Erinnerung bildet.

Wie soll Trauer aussehen, wenn das Verlorene nie gekannt und Ersatz unmöglich ist? Während des Kunstfests in Weimar ­beschwört ein Lamento die verlorenen Zukünfte der ermordeten Arten und jener, die niemals gewesen sein werden. „Und alle Tiere rufen: Dieser Titel rettet die Welt auch nicht mehr“ von Schriftsteller und Dramatiker ­Thomas Köck ist zugleich Klage und Anklage, die sich gegen den alles vereinnahmenden Europäer richtet. Regisseurin Marie Bues entscheidet sich in der Uraufführung des repetitiven Texts gegen Spiel und Spektakel. Mit dem Zettel in der Hand sprechen die Schauspielerinnen und Schauspieler nach vorn, während sie selbst in einem nur halb fertig wirkenden Bühnenbild, das Frank Holldack gestaltete, stehen. Die offenen Strahler hinter dem schräg im Raum hängenden Gazevorhang könnten Überrest oder Neuanfang einer Szenografie sein. Auch hier geht es um die Imagination des Möglichgewesenen, die sich aus der Sprache über die Bühne legt.

„Hören Sie den Takt der Erinnerungen?“, fragt Schauspielerin Astrid Meyerfeldt mit dem Betreten der Bühne. „Eine Erinnerung, die aus allem besteht, was uns längst verlassen hat?“ Und aus allem, wie sie hinzufügt, das wir nie gesehen haben werden? Natürlich hört das Publikum, das mit Kopfhörern verstreut im Saal sitzt, diesbezüglich nichts. Nur die Lücke, die die Namen der verschwundenen Tiere bezeichnen. Trotzig weigert sich der Text aufzuzeigen, wie das Leben in paradiesischen oder apokalyptischen Zeiten aussehen könnte. Er beschreibt, ohne zu belehren, die bekannte Katastrophe, in der sich Gegenwart und Zukunft als Tempi passati ausbreiten.

Die lange, klagend vorgetragene Liste der ausgestorbenen Tiere leistet keine Trauerarbeit für die verlorenen Leben, sondern für das notwendige Ende des Menschen, dessen Abgrenzung von der Natur auf der Benennung – dem Mord am Ding – beruht. Beim Verlesen der Namen zeigt sich so die adamitische Szene im Paradies als Blutbad. Daraus entwickelt sich zum Ende der Aufführung eine immer stärker werdende Lust am eigenen Verschwinden. Dass hier keine einfache Perspektive, kein „Es wird schon wieder“ geboten wird, macht der Text von Beginn an klar. Zur Wahl steht nur die Form der Selbstnegation: warten, bis das Fortschreiten des Kapitalismus uns – vielleicht alles – aufzehrt, oder „Rausch und Selbstentäußerung“, wie es bei Giorgio Agamben heißt, um den Menschen als sprechendes Wesen zu überschreiten. Das ist die wirkliche revolutionäre Tat, schreibt der italienische Philosoph in seinen sprachontologischen Überlegungen, denn sie negiert das grundlegend gewaltsame Verhältnis selbst und schafft so die Möglichkeit eines radikalen Neubeginns. Im stummen Schrei der nie gewesenen Arten, der sich in Köcks Text mitteilt, wird das Aussterben der vereinnahmenden Beziehungsweisen antizipiert. Dafür braucht es nicht das Ende aller Menschen. Nur das monadische Subjekt und mit ihm die kapitalistischen Verhältnisse müssen zugrunde gehen.

Die Aufführung von Köcks sprachgewaltigem Text steht in einer Reihe von Produktionen, die sich während des Theaterfestivals mit der Ausbeutung und Vernichtung der Natur beschäftigten. Unter der künstlerischen Leitung von Rolf C. Hemke ist das Programm auf die dringlichen Fragen der Gegenwart ausgerichtet, ohne den lokalen Bezug zu vernachlässigen. Beide Ansprüche verbinden sich im 17-tägigen Reenactment des NSU-Prozesses, der von 2013 bis 2018 am Oberlandesgericht in München stattfand. Dessen unaufgeklärte Leerstellen sprechen noch immer Bände über die Verfasstheit des deutschen Rechtsstaats. Regisseur Nuran David Çalış und Dramaturg Tunçay Kulaoğlu sehen ihr Projekt „438 Tage NSU-Prozess – Eine theatrale Spurensuche“, das wiederum Teil des bundesweiten Projekts „Kein Schlussstrich! Jena und der NSU-Komplex“ ist, als erneuten Versuch der Aufarbeitung, die den Taten und der Strafverfolgung mit gleichbleibendem Entsetzen gegenübersteht.

Um die Prozessprotokolle zu verlesen, wurde ein spannungsgeladener Aufführungsort gewählt. Ein Gerichtssaal bildet das Bühnenbild in der Nietzsche-Gedächtnishalle, deren Bau in der NS-Zeit begonnen wurde. Unterteilt in thematische Kapitel steht der letzte Tag des Projekts unter dem Titel „Das Urteil“. Einen Abschluss findet die Rekapitulation in drei Teilen an diesem Abend nicht. Es dauert eine Stunde, bis der Brief Beate Zschäpes an das OLG München vollständig verlesen ist. Beginnend mit ihrer Kindheit werden darin die rechtsextremen Taten bis zum Suizid von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt und die darauffolgende Selbstenttarnung im Jahr 2011 geschildert. Drei Schauspielende sprechen abwechselnd den biografischen Text, in dem sich die Angeklagte im Konflikt mit der Beweislage von den Morden distanzierte.

Darauf trägt Schauspieler Sebastian Kowski in der Position des vorsitzenden Richters Manfred Götzl das Urteil und dessen schriftliche Begründung vor. In der sehr auf dokumentarische Genauigkeit achtenden Produktion ist die folgende, durch einen kleinen Ton gesetzte Unterbrechung sehr wirkungsvoll. Mit dem Tod von Mundlos und Böhnhardt sowie der Verhaftung Zschäpes sei der NSU aufgelöst, heißt es im herausgestellten Satz.

Die folgenden Stellungnahmen der Angehörigen bezweifeln dieses unglaubwürdige Fazit. Gesprochen werden diese unter anderem vom Thüringer Minister für Migration, Justiz und Verbraucherschutz Dirk Adams, der Direktorin der Kunsthalle in Baden-Baden Çağla İlk und dem freien Künstler und Bildhauer Naneci Yurdagül. Persönlich und emotional klagen die Statements an: Was ist mit den Verstrickungen anderer Rechtsextremisten und staatlicher Organe in die Mordserie? Familie Yozgat, deren Sohn Halit 2006 in Kassel erschossen wurde, hinterfragt die ­Position des Verfassungsschützers Andreas Temme. Bis heute ist er nicht verurteilt, obwohl er nach eigener Aussage zum Zeitpunkt des Mordes am Tatort war, im familiengeführten Internetcafé der Yozgats. Dennoch habe der V-Mann nichts Verdächtiges wahrgenommen. In der Tatrekonstruktion der Rechercheagentur Forensic Architecture zeigt sich, dass dieses Szenario höchst unwahrscheinlich ist.

Bereits in „Die Lücke – Ein Stück Keup­straße“ am Schauspiel Köln und „NSU 2.0“ am Schauspiel Frankfurt inszenierte Çalış ­Erinnerungsarbeit. Aus dem Prozess mit seinen zahlreichen Ungereimtheiten und losen Enden lässt sich kein abgeschlossenes Narrativ bauen. Deshalb geht er immer wieder von Neuem auf Spurensuche, um die Aktualität der Geschehnisse aufzuzeigen. Die Dringlichkeit des Vorhabens drängt sich mit jedem ­rassistischen und antisemitischen Mord auf, der als Tat eines Einzelnen bezeichnet wird. Es ist ein aufklärerisches Angebot, das über die konkreten Fälle hinaus auf rechtsextreme Strukturen und institutionalisierten Rassismus verweist und angesichts des verbreiteten Nazismus weiter nötig bleibt. //

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