Theater der Zeit

Bericht

Das Schöne sehen

Die Lesungen der 36. Jüdischen Kulturtage in Berlin

von Iven Yorick Fenker

Assoziationen: Berlin

Die Lesung von Michel Friedmann während der 36. Jüdischen Kulturtage in Berlin. Foto Boaz Arad
Die Lesung von Michel Friedmann während der 36. Jüdischen Kulturtage in BerlinFoto: Boaz Arad

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Zwei Veranstaltungen während der 36. Jüdischen Kulturtage Berlin waren Lesungen. Sie fanden in einem Zelt statt, unter dessen Dach sich die spätsommerliche Hitze sammelte und ein Begegnungsort entstand. Es wurde diskutiert, musiziert, erzählt und: aus Büchern gelesen. Bücher jüdischer Autor:innen, Bücher vielfältiger jüdischer Positionen. Unter dem Motto „Kaleidoskop – Das Schöne sehen“ wollte das Festival eine vielgestaltige und lebendige Kultur zeigen. Das ist gelungen. Jedes Buch, jeder Text ist ein Zeugnis davon und bleibt für immer am Leben, wird gelesen – neben der Staatsoper, auf dem Bebelplatz, dort, wo am 10. Mai 1933 die Nationalsozialisten Bücher von jüdischen, sozialdemokratischen und kommunistischen Autor:innen verbrannten.

Kultur-Institution

„Über jeden Verdacht erhaben“ ist ein Band, der Texte versammelt, die sich wissenschaftlich und künstlerisch mit dem nicht aufgearbeitetem Antisemitismus der deutschen Kulturinstitutionen auseinandersetzen. Text für Text wird das Bild der „rettenden Insel“ der Kultur weggeschwemmt. Zurück bleibt brauner Morast. Herausgegeben wird das Buch von der Kulturwissenschaftlerin Stella Leder, Mitbegründerin des Vereins Instituts für neue soziale Plastik e.V., aus dessen Arbeit zu kultureller Bildung zu Antisemitismus der Band entstand. Leder sitzt auf dem Sofa, das auf der Bühne aufgebaut ist. Sie wird (na klar) nach der Documenta gefragt. Sie sagt, dass die Anfragen an das Institut seitdem extrem zugenommen haben. Ebenso sei das Buch deutlich öfter gekauft worden, so Nora Pester, Verlegerin des Buches und Moderatorin der Lesung. Die Institutionen sehen also „Nachholbedarf“. Aber Nachhilfeunterricht für die gesamte deutsche Kulturlandschaft kann ein Potsdamer Verein allein nicht leisten. Gut, dass es dieses Buch gibt.

Babylon, Liebe, Leid

Rainer Herrn hat eine tolle Stimme, ist gut gekleidet, selfmade Medizinhistoriker und hat ein beeindruckendes, wichtiges Buch geschrieben. Ein Buch, das zurecht viel Aufmerksamkeit bekommen hat, worauf auch der Moderator der Lesung, der Lektor Thomas Sparr, hinweist. „Der Liebe und dem Leid“ ist es gewidmet und so heißt es auch (guter Titel btw und auch sonst ist dieses Buch sehr gut gemacht; Suhrkamp <3). Worum geht’s? Im Buch und im Gespräch hier in diesem Zelt geht es um die Entstehung der Sexualwissenschaft, einer jüdischen Wissenschaft. Jedenfalls legt dies die Entstehungsgeschichte dieser Disziplin nahe. Sie wurde vor allem von Jüdinnen und Juden begründet, was auch daran liegt, dass jüdische Menschen nur eingeschränkt berufliche Laufbahnen wählen konnten. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, Berlin wird gerade zur Metropole, entsteht das Institut für Sexualwissenschaft am Berliner Tiergarten, gegründet von Magnus Hirschfeld. Das Buch beschreibt seine Geschichte, die Geschichte des Instituts, deutsche (Geistes-) Geschichte, die Geschichte des Verlustes der geistigen Errungenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts, vor allem aber auch eine Geschichte Berlins. Ein dichtes Buch, an dem Herrn Jahre gearbeitet hat, eine Aufarbeitung. Und da bald die vierte Staffel „Babylon Berlin“ in der Mediathek verfügbar sein wird, darum geht es gerade im Gespräch zwischen Herrn und Sparr, die zurückgelehnt durch das vergangene Jahrhundert erzählen, sei noch erwähnt, dass dieses Buch auch mit dem Ruf der wilden und „freien“ 20er Jahre aufräumt. Weit ist es damit nicht her, weit sind wir vielleicht gekommen, aber es ist noch ein weiter Weg.

„Jüdisch Jetzt!“

So heißt der Gesprächsband der Journalistin Andrea von Treuenfeld, der Einblick in Lebensbilder jüdischer Gegenwart gibt, in die Biografien von Jüdinnen und Juden heute. Einer der Gesprächspartner:innen ist Jonathan Kalmanovich, aka Ben Salomo. Ex-Host des legendären Internetformats „Rap am Mittwoch“, das er wegen des Antisemitismus in der Deutschrapszene aufgab. „Was machen Sie nun?“, wird er gefragt. „Nun gebe ich Vorträge an Schulen.“ Auf der Couch auf der Bühne lässt sich ein lockeres Gespräch verfolgen, über einen Lebenslauf, aber auch über die Vielfältigkeit jüdischer Lebensläufe und Einstellungen. Kalmanovich betont das im Gespräch immer wieder: Das ist meine Erfahrung, es gibt aber viele. „Ist es möglich ein Buch über Juden und Jüdinnen zu schreiben, ohne die Koordinaten Shoah, Antisemitismus und Nahostkonflikt?“ ist die nächste Frage der Moderatorin an Treuenfeld. Kurze Antwort: „Nein.“ In dem Gespräch und in dem Buch geht es aber darum, Menschen kennenlernen zu dürfen. Und miteinander zu sprechen, hilft meist, oder ist doch oft erhellend.

Erzählfluss an der Grenze zur Realität

Tomer Dotan-Dreyfus liest aus seinem Debütroman „Birobidschan“. „Wenn sie nicht verstehen, worum es geht, haben sie es verstanden“, sagt er – das Publikum lacht. Die Erzählung ist ambitioniert. Der Text unterwirft sich dem Narrativ nicht und schafft es doch, zu einer guten Geschichte zu werden, und nicht in die Sprachkunst abzudriften. Der Titel des Romans ist der Handlungsort, ein fiktiver, obwohl es ihn gibt. Dotan-Dreyfus hat beim Jiddisch-Unterricht unter dem Tisch gegoogelt: „Wo ist Jiddisch Amtssprache?“, und kam auf Birobidschan, der jüdischen autonomen Oblast, einem ehemaligen stalinistisch-sozialistischem Experiment, nahe der russischen Grenze zu China, benannt nach zwei Flüssen, hier neu erschaffen in dem mitreißendem Erzählfluss. Eine erlebnisreiche Lektüre, eine unterhaltsame Lesung.

Die Schlaraffen

„Die Schlaraffen (...)“ so fängt Michel Friedman immer wieder an und führt dann aus, was „die Schlaraffen“ so machen oder machen sollten, weil sie es nicht machen. „Die Schlaraffen“ (er sagt das so toll), das sind „wir“ (das sagt er auch) und „wir“ haben Angst. Oder: „Ich bin Angst.“ Damit beginnt das neue Buch von Michel Friedman „Schlaraffenland abgebrannt?“. Davor das Vorwort: „Ich habe nie in einem Schlaraffenland gelebt“. Friedman schließt vom „ich“ zum „wir“ und begibt sich in dem Buch auf eine Denkreise, die im Handeln münden soll. Er nimmt rhetorische Auswege, um zu Auswegen zu kommen. Und so ist auch seine Lesung eher ein Vortrag, mehr eine Rede, die Moderatorin kommt kaum dazwischen, das braucht Friedman, selbst Moderator, auch gar nicht. Er gibt sich die Stichworte selbst, setzt nie ab und es ist wirklich mitreißend, in der verbalen Ausführung teilweise dann doch rhetorisch überzeugender, als die praktischen Vorschläge, wie jetzt die Demokratie zu retten sei. Das führt er schriftlich besser aus. Und zumindest schafft er irgendwie Zuversicht, dass die vielen Krisen (you name it, Friedman rattert sie durch) zu lösen sind. Das Publikum ist begeistert, der Applaus brandet wirklich auf. Das muss man auch erstmal bei einer Lesung schaffen.

Erschienen am 25.9.2023

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