Theater der Zeit

III Richard Wagner

»Das deutscheste von allen Wagner-Stücken« öffnet sich dem Fremden

Barrie Koskys Inszenierung von Richard Wagners Die Meistersinger von Nürnberg

von Günther Heeg

Erschienen in: Recherchen 161: Fremde Leidenschaften Oper – Das Theater der Wiederholung I (12/2021)

Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg, Bayreuther Festspiele 2017. Inszenierung Barrie Kosky, Bühne und Kostüme Rebecca Ringst. 1. Akt Villa Wahnfried, ›Privataufführung‹ der Oper. Foto: Enrico Nawrath, Bayreuther Festspiele.
Richard Wagner: Die Meistersinger von Nürnberg, Bayreuther Festspiele 2017. Inszenierung Barrie Kosky, Bühne und Kostüme Rebecca Ringst. 1. Akt Villa Wahnfried, ›Privataufführung‹ der Oper. Foto: Enrico Nawrath, Bayreuther Festspiele

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28. August 2018. Im Richard-Wagner-Park vor dem Bayreuther Festspielhaus ist die Ausstellung Verstummte Stimmen. Die Bayreuther Festspiele und die ›Juden‹ 1876 bis 1945 zu sehen. Sie zeigt, dass die Diskriminierung jüdischer Künstler:innen nicht erst das Werk der Nationalsozialist:innen war, sondern bereits im 19. Jahrhundert mit Cosima Wagner begann. Im Festspielhaus wird an diesem Tag im zweiten Jahr die Inszenierung der Meistersinger von Barrie Kosky gegeben.2 Er ist der erste jüdische Regisseur, der dieses »deutscheste von allen Wagner-Stücken«3, so Kosky, in Bayreuth inszeniert. Die Inszenierung einer Oper, die zur Konstruktion und Affirmation dieses Deutschtums den Ausschluss des Fremden braucht, durch einen Regisseur, der noch im 20. Jahrhundert als Fremder verfolgt und vernichtet worden wäre, ist an sich bemerkenswert. Zum künstlerisch-politischen Ereignis wird sie durch die doppelte Historisierung, die Kosky vornimmt: die Historisierung der Oper und die Historisierung seiner selbst. Sie ermöglichen es, die Meistersinger einerseits vor Gericht zu stellen und sie andererseits aus dem Mausoleum deutschtümelnder Nationalkultur zu befreien und zu retten.

Der Ort, an dem die Oper vor Gericht steht, ist der Schwurgerichtssaal 600 in Nürnberg, der Ort, an dem die Nürnberger Prozesse gegen die nationalsozialistischen Kriegsverbrecher stattgefunden haben. Wenn sich die Wände dieses Saals am Ende des 1. Akts vor die Dekoration schieben, ist der Horizont klar, in dem die Meistersinger stehen: Mit ihrer Dramaturgie der Exklusion des Fremden in Gestalt des antisemitisch gezeichneten Beckmessers sind sie prominentes Exempel eines kulturellen Furors, der in der Konsequenz in den Schwurgerichtssaal 600 geführt hat.

Aber Barrie Kosky zieht keine direkte historische Linie von Wagner zu Hitler, von den Meistersingern und ihrer inhärenten Ideologie zu den Verbrechen des Nationalsozialismus. Bloße Ideologiekritik ist Koskys Sache nicht. Ihm geht es um die Wieder-Holung von Geschichte, um das Heute in ein fremdes Licht zu tauchen und aus der Erfahrung der Fremdheit der Gegenwart Zukunft zu gewinnen. Die Wieder-Holung von Geschichte, die Kosky betreibt, ist das Gegenteil einer historistischen Rekonstruktion. Kein ausgemaltes Bild von Alt-Nürnberg blickt uns aus Koskys Meistersingern an, zu besichtigen sind lediglich historische Kostüme in einer unpassenden, fremden Umgebung. Die Wiederholung der Vergangenheit greift nicht auf ein geschlossenes Bild der Geschichte zurück, sondern auf die Bruchstücke und Überreste, die in der Gegenwart noch präsent sind und uns heimsuchen.

Zu diesen Heimsuchungen zählen auch die Phantasmen, die vergangene Zeiten imaginieren, um sich selbst in der Gegenwart zu überhöhen. Phantasmen sind Wunsch- und Trugbilder eigener Allmacht. Diese Macht soll sich bestätigt sehen durch Szenarien, die eine affektive Bindung an die »eigene« Gemeinschaft herstellen. Ihr gilt alle Liebe und Bewunderung, aller Abscheu gilt dem Fremden innerhalb und außerhalb dieser Gemeinschaft. Allmachtsphantasien sind nicht grundsätzlich moralisch verwerflich und gesellschaftlich gefährlich. Sie gehören zum psychischen Inventar der Kindheit. Sie werden in der Regel überwunden in der Adoleszenz und spielen keine Rolle im Leben des Erwachsenen. Es sei denn, die psychische Entwicklung läuft schief und die Regression auf das frühkindliche Phantasma von Omnipotenz wird befeuert durch fundamentalistische und populistische Bewegungen, die für ihre rückwärtsgewandten politisch-sozialen Ziele eben jene psychischen Dispositionen benötigen und sie verstärken. In dieser Situation kann die reflektierte Erinnerung an das kindliche Allmachtsstreben ein wacher Seismograph sein, der die psychischen Erschütterungen und Verwerfungen, die in solchen Bewegungen zugange sind, genau verzeichnet und ihre Wirkung verständlich macht, ohne sie zu akzeptieren. In diesem Sinn kommt Barrie Kosky auf Allmachtsphantasien seiner Kindheit zurück in einer Reihe von Gesprächen auf der Zugfahrt von Berlin nach Bayreuth. Sein historisierender Blick auf die eigene Geschichte beginnt mit der Erinnerung an die Großmutter aus Budapest, die vor der Deportation der ungarischen Jüd:innen nach Australien geflohen ist, aber die Liebe zur Oper in Budapest und Wien dorthin mitgebracht und auf den kleinen Barrie übertragen hat. Die europäischen Opernstoffe, von denen die Großmutter erzählt, werden für den Jungen, der sie begierig aufsaugt, zu phantasmatischen Welten, in denen er sich versenken und die er gestalten kann, um der eigenen Ohnmachts- und Einsamkeitsgefühle Herr zu werden. Auf die Frage, ob er als Kind gelangweilt war, antwortet Kosky:

Ich fühlte mich eher einsam als gelangweilt. Denn ein Großteil meiner Altersgenoss*innen und Freund*innen teilte meine Interessen nicht. Ich liebte es, stundenlang Klavier zu spielen, mich mit meinem kleinen Puppentheater zu beschäftigen, Musik zu hören oder mit chinesischen Essstäbchen Mahler-Sinfonien in meinem Kinderzimmer zu dirigieren. Hin und wieder verkleidete ich mich auch und schlüpfte in unterschiedliche Rollen.4

Es ist der verfremdende Blick des etablierten und gefeierten Opernregisseurs von heute auf seine Antriebe in der kindlichen Vergangenheit, die ihn empfänglich machen für die Gepflogenheit des erwachsenen Richard Wagner. Wagner nämlich, so berichtet Ulrich Lenz, der langjährige Dramaturg von Barrie Kosky, in einem luziden Beitrag im Programmheft der Aufführung, pflegt die Welten seiner Imagination immer wieder erneut auszuleben und sich und anderen vorzustellen durch die private Aufführung seiner Werke im kleinen Kreis.5 Bei der Rezitation des Librettos übernimmt Wagner dann alle Rollen selbst und weiß sie stimmlich virtuos gegeneinander abzusetzen. Dabei begleitet er sich selbst am Flügel, erläutert die Bühnenanweisungen und markiert selbst die Linien des Gesangs. Von einem solchen Vortrag des Meistersinger-Librettos in Mainz 1862 berichtet der dortige Musikdirektor des Stadttheaters:

Die Modulationsfähigkeit seiner Stimme war so groß, dass er bald nicht mehr nötig hatte, die Namen der handelnden Personen einzeln zu nennen. Jeder wusste gleich: das ist jetzt Eva, Stolzing, Sachs oder Pogner, die da reden, und gar erst bei David und Beckmesser war in seinem Stimmklang jede Verwechslung mit den andern absolut ausgeschlossen. Selbst in dem lebhaften Durcheinandergerede der Meister hob sich jeder von dem andern so deutlich ab, dass man schon ein förmliches Ensemble zu hören glaubte, das die Zuhörer mit sich fortriss und sie zu stürmischen Kundgebungen veranlasste.6

Ausgehend von den eigenen kindlichen Weltbeherrschungen entwickelt Kosky ein Gespür für das persönliche Phantasma Wagners. Er macht dessen Allmachtsphantasien für die Inszenierung der Meistersinger produktiv und er stellt das Phantasma der Meistersinger als kollektives Imaginäres der deutschen Geschichte aus.

Wenn sich der Vorhang in Bayreuth hebt, blicken wir auf das hochherrschaftliche Interieur eines Salons des 19. Jahrhunderts ohne seine Bewohner und ohne Musik (Bühne Rebecca Ringst). Ein eingeblendetes Schriftband wie im Film belehrt uns Zeile für Zeile aufscheinend und verschwindend über Ort und Zeit des Geschehens.

Wahnfried.

3. August 1875.

12.30 Uhr.

Außentemperatur 23 Grad Celsius.

Kapellmeister Hermann Levi aus München hat sein Kommen angekündigt.

Auch Franz Liszt ist auf dem Weg nach Bayreuth, um Tochter

Cosima und Schwiegersohn Richard einen Besuch abzustatten.

Cosima liegt mit einem Migräneanfall im Bett.

Richard ist außer Haus …

Molly und Marke Gassi zu führen.

Dann setzt die Ouvertüre ein und mit dem ersten Akkord fliegt die Tür auf. Richard kommt mit Molly und Marke, zwei riesigen Neufundländer-Hunden, zurück. Ein Dienstmädchen nimmt sie ihm ab. Cosima, Liszt und der Dirigent Hermann Levi treffen ein, Kaffee wird eingeschenkt, Kaffeetässchen weitergereicht und fortwährend werden Geschenke gebracht und ausgepackt. Exakt zum ersten C-Dur-Akkord probiert Richard die neuen Stiefel an, danach müssen noch etliche Parfums ausprobiert werden. Dann aber gibt’s kein Halten mehr. Wagner und Levi beugen sich über eine Partitur, berauschen sich an der Musik, sie setzen sich an den Flügel und dirigieren zu den Klängen der Ouvertüre ein imaginäres Orchester. Das alles hat etwas von einer Türschlagkomödie à la Georges Feydeaux und Eugène Labiche, nimmt aber ernste Züge an, wenn Wagner beim anschließenden Choral, der Johannes dem Täufer gewidmet ist, den jüdischen Dirigenten zwingt, am christlichen Ritual des Hinknieens, Betens und Sich-Bekreuzigens teilzunehmen. Von Beginn an ist Hermann Levi der Fremdkörper in der Gemeinde. Nur naheliegend deshalb, dass er in der anschließenden privaten Aufführung in der Villa Wahnfried von Wagner auch die Rolle des Beckmessers aufgenötigt bekommt. Wagner selbst spielt Sachs, mit dem er sich während der Arbeit an den Meistersingern so sehr identifiziert hat, dass er Briefe mit »Sachs« oder »Hans Sachs« unterzeichnet. Cosima spielt die Eva, eine der Dienstbotinnen die Magdalena. So entfaltet sich der ganze 1. Akt als Richards ganz persönliches großmächtiges Puppentheater, in dem, der Logik des Kinderspiels folgend, die Meister aus dem Flügel auf die Bühne steigen und sich in Richards guter Stube wichtig tun, damit ihr Kunstgebilde Alt-Nürnberg blühen und gedeihen kann.

»Wie friedsam treuer Sitten / Getrost in Tat und Werk / Liegt nicht in Deutschlands Mitten / mein liebes Nürenberg«, singt Hans Sachs. Alt-Nürnberg ist das rückwärtsgewandte heartland der Wagner-Gemeinde, eine Retrotopie im Sinne Zygmunt Baumanns.7 Retrotopien, rückwärtsgewandte Utopien, sind nicht nur im 19. Jahrhundert, sondern auch in unserer Gegenwart die Gegenbewegungen zu den Nivellierungs-, Entdifferenzierungs- und Entwertungstendenzen der Globalisierung. Sie phantasieren das goldene Zeitalter einer homogenen, traditionsgestützten Gemeinschaft mit stabiler Ordnung und verbindlicher Weltanschauung herbei, das es nie gegeben hat, das aber den von der Globalisierung gebeutelten Existenzen Halt und Orientierung bieten soll. Retrotopien sind fundamentalistisch. Sie leben vom Ausschluss des Fremden. Das christliche Abendland heute und Alt-Nürnberg damals sind solche fundamentalistischen, fremdenfeindlichen Phantasmen.

Es ist die geniale Idee von Barrie Kosky, dass er die phantasmatische Welt von Alt-Nürnberg nicht historistisch ausmalt, als käme ihr historische Existenz zu, sondern dass er die Verfertigung des Phantasmas durch die bürgerliche Salongesellschaft des 19. Jahrhunderts vorführt und ausstellt. Die Ausstellung offenbart den komisch-grausamen Charakter der Retrotopie Alt-Nürnberg ebenso wie den Wunsch seiner imaginären Bewohner:innen nach einer durch die Kunst geordneten Gemeinschaft.

Der Wunsch ist der Triebgrund des Phantasmas, das alles Fremde aus den Mauern von Alt-Nürnberg vertreiben will. Koskys Ausstellung des Phantasmas verurteilt nicht von oben herab aus der Position des moralisch Überlegenen. Sie nimmt die Sehnsüchte und Ängste der Menschen ernst und zeigt, was sie dazu treibt, sich ein geliebtes Herzensland einzubilden und sich daran zu klammern. Aber Koskys Ausstellung zeigt auch die Konsequenzen des wirkmächtigen Phantasmas. Deshalb schiebt sich vor die Villa Wahnfried der Schwurgerichtssaal 600, in dem der 2. und 3. Akt ihr Dasein fristen müssen.

Die harsche Formulierung für die Existenz am unwillkommenen Ort ist nicht zu hoch gegriffen. Denn dass die Bewohner:innen von Alt-Nürnberg im 2. und 3. Akt der Meistersinger bei sich und zu Hause wären, davon lässt sich in Koskys Inszenierung gerade nicht sprechen. Die Johannisnacht des 2. Akts spielt im Niemandsland zwischen den Zeiten. Das Mobiliar und die gesamte Einrichtung des Wahnfried-Salons sind auf einen Haufen geworfen in einem leeren Raum, dessen Wände die des Nürnberger Gerichtsaal markieren. Die Retrotopie hat keinen Ort und keine Zeit mehr. Sie ist nurmehr Gerümpel. Gerade deshalb entfaltet sich ihre exzessive Gewalt gegen Beckmesser mit besonderer Wucht. Jacques Lacan zufolge wirkt das Phantasma umso unerbittlicher, je weniger es der Realität entspricht8 – an den populistisch-fundamentalistischen Bewegungen unserer Tage lässt sich das nahezu täglich beobachten. Die ubiquitär abrufbare Wirkmacht des bodenlosen Phantasmas der homogenen Alt-Nürnberger Gemeinschaft demonstriert Kosky am Ende der Prügelfuge des 2. Akts, wenn inmitten der aufeinander einschlagenden Bewohner:innen Alt-Nürnbergs in Renaissancekostümen gleich einem riesigen Ballon oder einer überlebensgroßen Puppe die Stürmerkarikatur des Juden aufgeht. Eine blitzhafte Erdung des Phantasmas und eine schockhafte Konfrontation, wenn einem aus der zusammengesunkenen und nach vorn gekippten Puppe nicht die verzerrten Züge der Karikatur, sondern das menschliche Auge des Opfers anblickt.

Die riesige Karikatur des Juden zielt auf Beckmesser. Beckmesser aber ist in den Meistersingern kein Jude, stellt Barrie Kosky im Programmheft zur Inszenierung fest. Um dann fortzufahren:

Er ist eine Frankenstein-Kreatur, zusammengeflickt aus allem, was Wagner hasste: Franzosen, Italiener, Kritiker, Juden. Was immer Wagners Abscheu erregte, findet sich in Beckmesser wieder. Seine Haut mag die eines Stadtschreibers aus dem 16. Jahrhundert sein, aber seine Seele und sein Charakter sind mariniert in jedem nur denkbaren antisemitischen Vorurteil, das aus den im mittelalterlichen Europa kursierenden Blutanklagen gegen die Juden hervorgegangen ist: Er ist ein Dieb, er ist gierig, er ist unfähig zu lieben, unfähig, wahre Kunst zu verstehen, er raubt deutsche Frauen, er stiehlt deutsche Kultur, er stiehlt deutsche Musik.9

Die Charakterisierung des Nichtjuden Beckmesser und seine Verstoßung aus der Gemeinschaft der Meistersinger trägt alle Züge des Antisemitismus. Der Hass auf das Fremde, der dem Phantasma Alt-Nürnbergs innewohnt, ist der Hass auf die Juden.

Die Verfertigung des Phantasmas in den Meistersingern auszustellen ist kein Regieeinfall Koskys, sie ist angelegt in der Oper selbst. Die Macht des Phantasmas firmiert dort unter der Bezeichnung Wahn. Wahn ist ein zentrales Thema für Wagner – in den Meistersingern und privat. Nicht umsonst trägt sein Haus den Namen Wahnfried. Frieden und Befreiung vom Wahn wünscht auch Hans Sachs im großen Monolog »Wahn! Wahn! Überall Wahn« zu Beginn des 3. Akts. Nur als ein Werk des Wahns kann sich Sachs den Exzess in der Nacht zuvor erklären. Unerklärlich bleibt für Sachs, dass der Wahn ausgerechnet hier, in seinem lieben Nürnberg, um sich greifen konnte. Dabei wäre es nur ein kleiner Schritt bis zur Einsicht, dass es die Konstruktion der Retrotopie Alt-Nürnberg mit ihrer Exklusion des Fremden selbst ist, die den Wahn der Verfolgung im doppelten Sinn auslöst: zum einen als die wahnhafte Verfolgung anderer, zum anderen als der Wahn, von anderen verfolgt zu werden. Im Kern des Phantasmas lauert die Paranoia. Von der Paranoia wird auch Stolzing im Johannisnacht-Akt heimgesucht, wenn er sich von den Meistern, die ihn zuvor nicht in ihre Gemeinschaft aufgenommen haben, real verfolgt fühlt. Wie sehr das Thema Wahn Wagner und Sachs beschäftigen, zeigt die Wendung ins Positive, die Sachs dem Wahn geben will, um die Geschichte zu einem guten Ende zu bringen. Die positive Gestalt des Wahns nämlich ist für Wagner und Sachs der Traum, inkorporiert in Poesie und Musik. »Mein Freund, grad das ist Dichters Werk / des Menschen wahrster Wahn / Wird ihm im Träumen aufgetan«, so unterrichtet Sachs Stolzing, um dann das Werk der Kunst grundsätzlich als »Wahrheitstraumdeuterei« zu bestimmen.

Während der »Wahn« eine klare Grenzlinie zieht zwischen dem Drinnen und Draußen einer Gemeinschaft sowie zwischen dem ihr vermeintlich Eigenen und dem Fremden, setzt sich der Traum über solche, der Ausschließung dienenden Trennungen hinweg. Der Traum sucht und findet verborgene Ähnlichkeiten im Unähnlichen, Eigenes im Fremden und Fremdes im Eigenen. Daraus ergeben sich andere Verbindungen und Stellungen der Figuren unter- und zueinander, die die Demarkationslinie des Wahns überschreiten. Die Meistersinger folgen der Ausgrenzungslogik des Wahns, das ist wahr. Über sie aber schiebt sich die Ähnlichkeitslogik des Traums. Das macht den Reichtum an Einsichten, und ja, an Wahrheit dieser Oper bei ihrer gleichzeitigen Schrecklichkeit aus. Zu den Einsichten, die sich durch die »Wahrheitstraumdeuterei« der Meistersinger gewinnen lassen, zählen vor allem die Doubles, die die Linie der Entgegensetzungen und eindeutigen Zuordnungen überschreiten: das Double David und Beckmesser, die beide auf ihre Weise an der Kunst verzweifeln und die Möglichkeit zeitgemäßer Kunst überhaupt fragwürdig werden lassen, das Double Stolzing, das sich Sachs/Wagner geschaffen haben und das in den Triumph Stolzings die Erfahrung des Alters und der Endlichkeit einschreibt. Schließlich das doppelte Gesicht einer durch Kunst organisierten Gemeinschaft, die einerseits zum totalitären Gesamtkunstwerk tendiert und andererseits die Utopie einer Kunst-Gemeinschaft im Medium der Kunst erfahren lässt. All das ist in den Meistersingern zu finden. All das zeigt Barrie Koskys Inszenierung. Indem sie Wagners Thematisierung des Wahns zur Exposition des Phantasmas weitertreibt und den Spuren der »Wahrheitstraumdeuterei« folgt, entgehen die Meistersinger von Nürnberg dem Wahn der Retrotopie, dem sie verfallen sind.

Das zeigt sich nicht zuletzt am Double Beckmesser-Sachs, in der Aufführung hervorragend gesungen und gespielt von Johannes Martin Kränzle als Beckmesser und Michael Volle als Sachs. Was wäre Beckmessers Ständchen ohne den klopfenden Rhythmus des Schusters. Was prima vista als Störung erscheint, erweist sich als eingespieltes Duett von Partnern mehr als von Kontrahenten. Der tiefere Grund dafür ist: Beide sind Fremdkörper in der Gemeinschaft. Beckmesser ist dieser Fremde ganz offensichtlich, aber auch Sachs, der unter den Meistern zwar hochgeehrt ist, dessen hohes Bild der Gemeinschaft aber im Alltag der Nürnberger Handwerker keine Heimat findet. Das zeigt auch die Szenerie zu Beginn des 3. Akts. Der Schwurgerichtssaal 600 ist nun mit den Sitzreihen und Tischen gefüllt, die man von den Fotos der Nürnberger Prozesse her kennt. Sachs campiert improvisiert auf einem der Tische am Rand vorne links und treibt dort die Geschäfte, bis das Volk der Festwiese mit Fahnen und Transparenten den Saal entert. Nachdem Beckmesser gescheitert und vertrieben und Stolzing wie einst der Führer die Herzen und die zum Heil ausgestreckten Arme des Volks gewonnen hat, leert sich der Schwurgerichtssaal. Die Menge zerstreut sich und nimmt Bänke, Sitzreihen, Fahnen und Transparente mit sich. Stolzing, obgleich er den Wettbewerb gewonnen hat, will kein Meistersinger sein und geht mit Eva ab. So richtet sich Sachsens Replik in seiner großen Schlussarie »Verachtet mir die Meister nicht« an niemanden mehr im Saal. Sachs ist allein im leeren Schwurgerichtssaal. Er geht an das Pult des Zeugenstands und wendet sich ans Publikum, um nicht wie üblich dem jubelnden Volk der Festwiese, sondern den Anwesenden im Bayreuther Festspielhaus das Urteil zu überlassen. Bei den Worten der Schlussarie

Drum sag’ ich Euch:

Ehrt eure deutschen Meister

dann bannt Ihr gute Geister!

Und gebt Ihr ihrem Wirken Gunst,

zerging’ in Dunst

das Heil’ge Röm’sche Reich,

und bliebe gleich

die heil’ge deutsche Kunst!

öffnet sich der Prospekt des Schwurgerichtssaals 600, er verschwindet. Nur Sachs allein bleibt am Pult des Zeugenstands zurück. Ein stummes Orchester und ein Chor werden hereingefahren, die Sachs/Richard singend dirigieren. Wir sehen das Phantasma und den Traum des kleinen Richard, vielleicht auch den des kleinen Barrie. Es ist ein Bild von tiefster Einsamkeit und Ohnmacht inmitten des triumphalen Getöses der Musik. Ein Bild von ergreifender Fremdheit. Barrie Koskys historische Wieder-Holung des Phantasmas und des Traums der Meistersinger offenbart die Fremdheit im Herzland des Eigenen. Sie öffnet »das deutscheste von allen Wagner-Stücken« dem Fremden und lässt das Trug- und Wunschbild von Nürnberg, der Stadt der Meistersinger, der Reichsparteitage und des Schwurgerichtssaals 600, hinter sich.

Endnoten

  • 1 Vortag auf dem Symposium Theatre and Internationalization – Barrie Kosky: Past, Present, Future, veranstaltet von der Macquarie University und dem Goethe Institut Sydney am 26. und 27. April 2019 in Sydney.
  • 2 Die Premiere fand am 25. Juli 2017 statt.
  • 3 Äußerung von Barrie Kosky vor der Premiere im Interview mit Rainer Pöllmann, Deutschlandfunk Kultur, 25.07.2017.
  • 4 Kosky, Barrie: Nächster Halt Bayreuth. Eine Zugfahrt mit Barrie Kosky, hrsg. v. Felix von Böhm, Rainer Simon, Berlin 2017, S. 12.
  • 5 Vgl. Lenz, Ulrich: »Schläft ein R. in allen Dingen … oder Wie viel Richard ist in den Meistersingern?«, in: Richard Wagner. Die Meistersinger von Nürnberg, Programmheft 4/2018, S. 16 – 29.
  • 6 Zitiert nach Lenz: »Schläft ein R. in allen Dingen«, S. 26. Lenz zitiert Weißheimer, Wendelin: Erlebnisse mit Richard Wagner. Franz Liszt und vielen anderen Zeitgenossen nebst deren Briefen, Stuttgart/Leipzig 1998.
  • 7 Vgl. Baumann, Zygmunt: Retrotopia, Frankfurt a. M. 2017.
  • 8 Vgl. Lacan, Jacques: Der individuelle Mythos des Neurotikers: oder Dichtung und Wahrheit der Neurose, aus dem Franz. v. Hans-Dieter Gondek, Wien 2008.
  • 9 Kosky: »›If I had a hammer‹«, in: Richard Wagner. Die Meistersinger von Nürnberg, Programmheft 4/2018, S. 10 – 13, hier S. 12.
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