Theater der Zeit

2.3.5 Das halbe Leid von SIGNA

von Theresa Schütz

Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)

Assoziationen: Performance SIGNA

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Das halbe Leid entstand 2017 als Produktion des Schauspielhauses Hamburg in der ehemaligen Werkhalle der Firma Heidenreich & Harbeck am Wiesendamm in Hamburg-Barmbek, wo zwischen 1917 und 1976 Drehmaschinen und Werkzeug produziert wurden. SIGNA hat den vorderen Teil der Halle in die Unterkunft des fiktiven Vereins »Das halbe Leid e.V.« verwandelt. Auf der rechten Seite befindet sich der Trakt mit insgesamt acht Therapiesitzungsräumen, mittig befindet sich erhöht und verglast ein Fitnessraum und links sind der Schlaftrakt auf zwei Etagen sowie der Küchenbereich, ein Versammlungsraum, eine Kleiderklammer, ein Umkleideraum, ein Überwachungsraum sowie ein Sammelbad eingerichtet. Dieser Bereich erinnert sehr stark an eine soziale Notunterkunft oder temporäre Einrichtung für obdachlose und/oder geflüchtete Menschen.

In der Fiktion existiert der vom Ehepaar Peter und Viola Freund mitgegründete und geleitete Verein bereits seit 2007. Doch erst 2017 haben sie damit begonnen, Kurse auch für die breite Öffentlichkeit anzubieten. Damit ist insbesondere der Kurs »Geteiltes Leid« gemeint, an dem jede*r Zuschauer*in einer Aufführung teilnimmt. SIGNA schließen hier einerseits an ihre Arbeiten der Dorine Chaikin Trilogie (2007/08) sowie Bleier Research Inc. (2011) und Ventestedet (2014) an, insofern es sich wieder um ein Therapie-Setting handelt, in das das Publikum involviert wird und andererseits – mit Blick auf die Spieldauer von zwölf Stunden – auch an frühere Langzeit-Performances wie Die Erscheinungen der Martha Rubin oder Secret Girl. Nach einer kurzen Einführungsveranstaltung wählt sich jede*r »Leidende« – also Menschen, die innerfiktional in der Unterkunft leben – je eine*n bis drei Zuschauer*innen als »Kursist*innen« aus. Es gilt seitens der Gäste, sich für zwölf Stunden in das Leid seiner Mentorin/seines Mentors einzufühlen. Hierfür gelten verschiedene Regeln, jene »Leidsätze«, die im Kursheft, das den Zuschauer*innen zu Beginn ausgehändigt wurde, festgeschrieben sind. Für die Kursteilnahme müssen die Gäste ihre eigene Kleidung gegen bereitgestellte Kleidung ihrer Mentor*innen eintauschen. Der Kurs ist in zwei Phasen unterteilt. Von 20 Uhr bis Mitternacht stehen verschiedene Therapie- und Gesprächsformate auf dem Programm, an dem die Kursist*innen mit ihren Mentor*innen gemeinsam teilnehmen und diese dadurch etwas besser kennenlernen können. Dabei gibt es sportliche (»Inferno«), musikalische (»Körperschleusen«), kreativ-spielerische (»Leidgestalt«), wissensvermittelnde (Vorträge wie »Sich selbst im Leiden anderer finden«) wie auch intensive gesprächstherapeutische Einheiten (»Rückenwind«). Nach Mitternacht, mit Beginn der Bettruhe, beginnt die zweite Kursphase, in der Zuschauer*innen – vorausgesetzt sie bleiben weiterhin an der Seite ihrer Mentor*innen und legen sich nicht (wie es dezidiert möglich ist) schlafen – mit den eher »dunklen Methoden« der Vereinsleitenden, die auch »Mitleidende« genannt werden, in Berührung kommen.

Orientiert an der Realität obdachloser Menschen107 entwirft Das halbe Leid den künstlerischen Mikrokosmos eines fiktiven Vereins, der Therapiezentrum und Notunterkunft vereint und in dem marginalisierte Menschen ›vom Rand der Gesellschaft‹ für einen Kurs zur Empathie-Steigerung privilegierter Menschen ›aus der Mitte der Gesellschaft‹ instrumentalisiert und dabei emotional wie ökonomisch vorgeführt und ausgebeutet werden. Im Vergleich zu anderen SIGNA-Arbeiten ist die mythisch-okkulte Dimension, die jeder SIGNA-Fiktion stets – nicht zuletzt aus Ästhetisierungs- und Verfremdungszwecken – mitgegeben ist, in Das halbe Leidzurückgenommen. Anstelle einer fiktiven Gesamtnarration geht es bei Das halbe Leid vor allem um die insgesamt 42 fiktiven Biografien der »Leidenden« und »Mitleidenden«, die ein Spektrum höchst unterschiedlichster Einzelschicksale bilden. Die meisten Leidenden kommen aus zerrütteten und/oder sozial und finanziell benachteiligten Elternhäusern, sind dann von der ›rechten Bahn‹ abgekommen und in der Prostitution, im Gefängnis, in einer Alkohol- und/oder Drogensucht und damit zuletzt auf der Straße gelandet. Z. T. leiden sie auch an Psychosen, schweren Halluzinationen oder Formen der Schizophrenie. Bei den Mitleidenden, die zumeist aus bürgerlichen Verhältnissen kommen, gab es im Verlauf ihrer fiktiven Biografie zumeist eine einschlägige »Leid«-Erfahrung, die dazu geführt hat, dass sie sich – wie zur Kompensation oder Selbsttherapie – fortan sozial engagieren wollten. Im Verein haben sich seitens der Leidenden über die Zeit Gruppen gebildet, so z. B. die rechtsradikale Gruppe der »Deutschen«, die der osteuropäischen Migrant*innen, die »Irren« oder die Drogen-Stricher-Gang. Die Figuren werden von ihren Darsteller*innen je nach schauspieltechnischem Vermögen vornehmlich vermittels psychologisch-realistischer Spielweise verkörpert. Ein Ausstieg aus der Figur ist auch in dieser Produktion SIGNAs zu keinem Zeitpunkt erlaubt. Textlich improvisieren sie im Rahmen der vorab festgelegten fiktiven Biografie frei – sowohl untereinander als auch mit den Kursist*innen. Eine wichtige ästhetische Inspirationsquelle für Raum, Kostüm und Maske waren Signa zufolge die inszenierten Milieu-Fotografien von Klaus Pichler.

Die Therapiemethoden, die im fiktiven Verein »Das halbe Leid« zum Einsatz kommen, sind wiederum relativ wahllos und eklektisch zusammengesammelt. Während sich Mitgründer Peter Freund an schulmedizinisch anerkannten Methoden der (insbesondere) personenzentrierten Psychotherapie wie sie u. a. der US-amerikanische Psychologie Carl Rogers vertreten und entwickelt hat, orientiert, erinnern einige der »dunklen Methoden« in der Nacht, in denen es darum geht, Schmerz nur überwinden zu können, indem man sich ihm wieder und wieder aussetzt – insbesondere mit Blick auf die aktive Zuschauer*innen-Involvierung in diesen »Sitzungen« –, eher an sozialpsychologische Studien wie das Milgram-Experiment (1961). Mit der zentralen Methode des »Identitätswechsels«, welchen einerseits Mitleidende und Leidende in ausgewählten Konstellationen vollziehen, um sich in die je andere Position besser einfühlen zu können, und den andererseits auch wir Kursist*innen mit den fiktiven Leidenden im Rahmen des Aufführungsbesuchs durchführen sollen, ist gewissermaßen ein metatheatraler Kommentar – nicht nur zur Immersion (im Sinne eines leiblichen Eintauchens in die Lebenswelt einer anderen Person, vgl. Kap. 1.2), sondern auch zum Verhältnis von Repräsentation und Einfühlung im Gegenwartstheater – eingetragen.

107 Zur Vorbereitung der Darsteller*innen auf die Fiktion und ihre Figuren haben Arthur und Signa Köstler auf die Sichtung zahlreicher Dokumentationen und Reportagen zum Leben obdachloser Menschen in Deutschland verwiesen, wie z. B. Leben wie Penner!? Obdachlos in Deutschland (ZDF 2017).

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