Bericht
Anachronismus als Potential
12. Blickwechsel-Festival in Magdeburg
Vom 23. bis 29. Juni lud das internationale Figurentheaterfestival Blickwechsel zum inzwischen 12. Mal nach Magdeburg. Die mit dem Motto „Mehr Licht!“ überschriebenen Festivaltage versuchten sich dabei auch daran, eben etwas mehr Licht in Selbstverständnis und (Eigen-)Verortung einer Kunstform zu bringen, die seitens öffentlicher und medialer Wahrnehmung nach wie vor eine bestenfalls von sporadischen Streiflichtern reflektierte Randexistenz führt.
von Steffen Georgi
Erschienen in: double 38: Face-Off – Politiken von Gesicht und Maske (11/2018)
Assoziationen: Sachsen-Anhalt Puppen-, Figuren- & Objekttheater Puppentheater Magdeburg
Thesen
Vielleicht muss man an dieser Stelle tatsächlich erst einmal mit Thesen beginnen, schlicht weil es zu diesem Blickwechsel so einige zu hören gab. Freilich: Man könnte einfach sagen, dass sich das bei einem Festival, das im Ursprungsland der Reformation stattfindet, gewissen liebgewonnenen Traditionen schuldet, es dabei belassen und sich dem Wesentlichen, der Kunst nämlich, widmen. Aber als ungefähr zur Festival-Halbzeit zum inzwischen 7. double-Diskurs geladen wurde, saßen auf dem Podium des Magdeburger Puppentheaters unter anderem zwei freundliche und gar nicht geheimniskrämerische Vertreter einer „Geheimen Dramaturgischen Gesellschaft“ und stellten dort ein 15-punktiges Thesenpapier zur Debatte. Eins, das sich nicht nur den ja latent vakanten „innerbetrieblichen“ Fragen nach einer Optimierung/Reformierung von Produktionsstrukturen widmete und gezielt nach Partizipationsmöglichkeiten abseits hierarchischer Normierungen fragte (Thesen: Die Strukturen bleiben hierarchisch - Das Kollektiv bleibt Experiment), sondern das darüber hinaus den Blick von diesem „Innerbetrieblichen“ dezidiert auch auf Selbstverständnis und Außenwirkung, auf Eigen- und Fremdwahrnehmung des Figurentheaters richtet. Um einfach zwei diesbezügliche Thesen-Beispiele herauszugreifen:
Es braucht eine Neulabelung, um die tradierten und auch belasteten Genre-Begriffe hinter sich zu lassen; einen Begriff, der auch außerhalb eines akademischen Umfeldes anschlussfähig ist.
Und als selbstironische Volte echter Erkenntnis:
Das Diskutieren über den Begriff hält uns ab, über anderes zu sprechen.
Wie wahr! Also sprechen wir hier doch erst einmal über anderes. Über Kunst zum Beispiel.
Denn Kunst gab es natürlich einige zu sehen auf diesem Festival. Was Blickwechsel-Kurator Frank Bernhardt nach Magdeburg holte, bezeugte - auch im qualitativen Kontrast - ein Spektrum der Vielfalt, an dem man sich gut und gern reiben konnte. Nicht zuletzt, weil so manche der gezeigten Arbeiten - und sei es in kurzen Szenen und Bildern, in bestimmten, in den berühmten „magischen“ Momenten – von jener reizvollen Eigenwilligkeit kündeten, die Figurentheater auszeichnen kann und an der dann schnell auch mal akademische Diskurse und Thesen sowieso aufs schönste Gefahr laufen zu zerschellen.
Es soll hier in Folge auch der kleine Versuch unternommen werden, einige dieser Momente zu umkreisen. Thesen können beim Lesen im Hinterkopf behalten werden.
Traumtüren
Penelope weiß um die Welt der Träume; eine Welt, die interessanterweise dem Hades ähnelt. Und sie weiß um die zwei Türen zu dieser Welt. Aus Elfenbein ist die eine, aus Horn die andere. Die Tür aus Elfenbein durchschreiten die „reinen“, d.h. die täuschenden Träume. Die Tür aus Horn öffnet sich für die wahren - besser: die wahrsagenden - Träume.
Nachzulesen ist das im 19. Gesang der „Odyssee“ des Homer; Vergil griff dieses rätselhafte Bild später in seiner „Äneis“ auf – und auch zu den in Magdeburg gezeigten „Variations sur un départ“ wird es beschworen, wenn die griechische Performerin und Tänzerin Katerini Antonakaki auf ihrer ganz persönlichen Odyssee alle vier Bühnenhimmelsrichtungen durchmisst und dabei ein (wortwörtlich!) ganzes Haus im Schlepptau hat.
Herkunft als Prägung und Ballast. Und das Reisen, das – gerade auch im Sinne eines existenziellen Wechsels und Neubeginns – zu bloßen „Variationen einer Abreise“ wird, die hier aus poetischer Sprache (variierend griechisch, französisch, englisch), abstrahierenden Szenen-Bildern, impressionistisch gefärbter Klaviermusik und mit Fäden und Stricken im Raum ein Netz knüpfen; Meridiane, zwischen denen man treibt und in denen man gleichsam gefangen bleibt. Und so artifiziell hermetisch das anmutet, so transparent gerät es in jenem Moment, in dem die Inszenierung von Penelope spricht, Antonakakis besagte Traumtüren streift und das Traumlicht der Sinngebung sich aus Täuschung und Wahrheit mischt. Ein wunderbar flüchtiger Augenblick, in dem die Allegorie auf menschliche Sinnsuche mit einer auf das Wesen der Kunst zusammenfällt.
Die wahrsprechenden und die täuschenden Träume: Die Vögel sind nicht real, sagt Alfred Hitchcock ein wenig orakelhaft über die Vögel in seinem gleichnamigen Alptraummeisterwerk. Ausgehend von dem Filmklassiker und dem Statement seines Regisseurs, zeigt die spanische Multimedia-Performance „Birdie“ eine faszinierende Meditation über Kino- und Nachrichtenbilder, Angst und Angstprojektion. Kurz: über Ikonographie und Psychologie westlicher Alpträume, nicht nur, aber gerade auch in Zeiten der „Flüchtlingskrise“. Über das, was wir sehen – und das, was wir zu sehen meinen. Und über, wie es im Stück einmal so schön heißt, „das Bild, das über die Realität, die es abbildet, hinausgeht.“
In „Birdie“ ist das eine schier endlose Karawane von sage und schreibe 2000 Miniaturtieren, die sich als gleichsam gespenstische und pittoreske Installation einer (Migrations-)Bewegung in Erstarrung über die große Bühne des Magdeburger Schauspielhauses zieht. Und die einmal einer der Performer in aller suggestiven Ruhe abschreitet mit einer Videokamera, die – natürlich aus der Vogelperspektive – dieses akribische, surreale Modell eines immer wieder von Kriegsgerät gesäumten Exodus auf die Bühnenrückwand projiziert. Dort fügt sich der Kameraflug ein in Szenen aus Hitchcocks Film und Fotos, die in Melilla entstanden. Also in jener spanischen Enklave an der Grenze zu Marokko, die von einem hohen Zaun umstanden ist – eine Brandungsmauer der „Festung Europa“ gegen Menschenströme. Ein Menetekel der Abkapselung.
„Birdie“ kreist dabei mit weitwinkligem Blick über den Assoziationsräumen einer Realität, von der auch die schwedisch-finnische Produktion „Invisible Lands“ erzählt. Nur eben nicht aus erhöhter Perspektive, sondern intimer, unmittelbarer, im kleinen Bühnenraum, mit den Zuschauern auf Augenhöhe. Gleich zu Beginn sitzen da eine Frau und ein Mann (Sandrina Lindgren, Ishmail Falke) und rauchen eine Zigarette, während irgendwo der Krieg tobt. Nicht weit weg, sondern ganz nah, gleich hier, im Bühnendunkel, ist er zu hören. Und man begreift: Es ist die Zigarette vor der Entscheidung, die letzte Zigarette vor der Flucht. Eine kleine Frist, bevor diese zwei Leben zum Spielball – und ihre Körper zum Spielfeld der Ereignisse werden. Denn als bestechend simple Metamorphose und ebensolche Metapher, manifestiert „Invisible Lands“ den Körper als Bühne. Als Erfahrungsraum und Landschaft, durch die filigran-zerbrechliche Miniaturfiguren fliehen. Bis zum blau gemalten Bauch; dem Bauch des Meeres, über das auch diese Odyssee geht und der, man weiß es ja nur zu gut, voll ist von Verschlungenen, von Toten.
Tänze
Die Grille, sie tanzt. Tanzt um ihr Leben am Ende des Sommers. So wie die Alte, die die Grille tanzen lässt im dämmrigen Bühnenlicht, sich selbst einen weiteren Sommer Lebenszeit zu ergaukeln hofft mit ihrem Spiel. Die Geschöpfe eines Geschöpfes: Die Ameise und die Grille und der Fisch im Netz und die Spinne an der Wand und das vom Vater missbrauchte Kind – und dann Ilka Schönbein, die, gleichsam ein Geschöpf ihrer Geschöpfe, mit diesen zwischen Poesie, Traum und Traumata im dunklen Strom der Märchen und Fabeln treibt, von denen ihr die Szenen zu „Weißt du was? Dann tanze jetzt!“ eingeflüstert wurden.
Eine Inszenierung, in Magdeburg als Deutschlandpremiere zu sehen, in der Schönbein einmal mehr das Kunststück vollbringt, Figurenspiel immer wieder wie dunkle Totentänze und diese zugleich nach lebensgierigen Balztänzen aussehen zu lassen. Passend, wie sich dazu Schuberts Goethevertonung „Nur wer die Sehnsucht kennt“ als trunken wehmütige Jahrmarktsmoritat einfügt (Musik: Aleksandra Lupidi, Suska Kanzler). Und ein wohl auch am Butoh geschultes Vokabular der Mimik und Gesten Momente einer Zwiesprache erschafft, die weder mit Thesen noch Diskursen, sondern nur mit Kunst, Poesie zu umgreifen ist. Und vielleicht hat zur Beschreibung von Schönbeins Inszenierung dann ja auch Ingeborg Bachmann schon die bestmöglichen Worte geliefert: „Wie Orpheus spiel ich / auf den Saiten des Lebens den Tod / und die Schönheit der Erde …“
Was das Figurentheater kann. Oder besser: was so nur allein das Figurentheater kann.
Die Aufzählung dieser Blickwechsel-Augenblicke jedenfalls ließe sich fortsetzen. Anhand bekannter Namen, wie Agnès Limbos, die in ihrem Stück „Quo Vadis“ nirgendwo mehr hin-, sondern vielmehr still und stoisch sitzend untergeht – und auch das natürlich wortwörtlich, in einem becketthaften Endspiel mit Gegenständen und höhnendem Affen. Oder anhand von Neuentdeckungen, deren schönste sich vielleicht Magali Rousseau und ihrem Kabinett der mechanischen Insekten-Hybriden verdankt. Filigrane Nachtwesen, die die Künstlerin in „Je brasse de l´air“ aus ihrem Schattendasein ins Licht trügerischer Wahrnehmungen lockt.
Und in und neben all dem gab es dann immer wieder auch jene Momente, die in mitunter bestechender handwerklicher Einfachheit (freilich ohne nur „einfach Handwerk“ zu sein) Metamorphosen zwischen Mensch und Ding unmittelbar vor unseren Augen geschehen lassen. Zwei dieser Momente seien noch aufgeführt: Einmal wird da ruck, zuck ein Frauenkörper zur Quetschkommode, aus der das Grauen kriecht. Adolf Hitler gar, den die Israelin Michal Svironi in ihrer Show-Groteske „Mein Kind - The Dictator‘s Mom“ als entertainmentwütige Mutter Courage des Wahnsinns neben noch so einigen anderen Artgenossen aus der diktatorischen Bruderschaft zum Veitstanz erweckt. So wie der Spanier José Antonio Puchades in „Nymio“ lediglich das Licht einer schlichten Wanderlampe und seine Hände und Finger braucht, um einen kleinen, melancholischen Hand-Helden samt Mikrokosmos zu erschaffen, der dennoch groß genug ist, um darin bis zu den Sternen zu tanzen. Momente, die für sich sprechen.
Eine grosse Freiheit
Um wieder beim double-Diskurs zu sein. Zu dem sich sieben Diskutanten – Theatermacherinnen und Theatermacher, Theaterwissenschaftlerinnen und Theaterwissenschaftler – vorrangig an der Frage abarbeiteten, welche Art Klassifizierung und welcher zeitgeistkompatible Terminus für diese Objekt-Material-Figuren-Puppen-Kunst gefunden werden müsse, auf dass die aus der Randenklave mehr ins Zentrum öffentlicher Wahrnehmung rücke.
Klar: Geht es um Begrifflichkeiten, geht es um Befindlichkeiten. „Puppentheater“, so ist da etwa zu vernehmen, ist „eine vollendete Kunstform wie auch die Oper“. Weshalb es gelte, diese Kunstform auch so zu klassifizieren, so „anzuerkennen wie die Oper“. Oder man spricht von einer „nötigen Optimierung“ der auch „nationalen Aufmerksamkeit“ und hadert, wie oben schon angeführt, mit „belasteten Genre-Begriffen“ die dieser Aufmerksamkeit im Wege stünden.
So der Tenor der Theaterwissenschaft. Interessant ist, was Theatermacher dazu sagen. Renaud Herbin zum Beispiel bemerkt hübsch lakonisch: „Ich werde im besten Fall als nicht klassifizierbar klassifiziert.“ Und aus dem Publikum meldet sich Claudia Luise Bose vom Puppentheater Magdeburg: „Ich verstehe ja die Sehnsucht, wegzukommen vom Kleinkunstbeigeschmack – aber dass das Puppentheater eben keine Oper ist, ist doch eine große Freiheit!“
Ist es in der Tat. Wie dann ja auch dieser Blickwechsel zeigte. Nicht zuletzt mit den Präsentationen im Rahmen des Projektes „Aufbruch II“; jenem Feldforschungsunternehmen, das sich dem Nachwuchs und den Entwicklungsmöglichkeiten speziell im Ensemble-Figurentheater widmet. Eine Masterclass „Regie im Theater mit Puppen“ verwies dabei mit vorgestellten Szenenskizzen, die thematisch Kafkas „Verwandlung“ umkreisten, auch auf diese zwei Umstände: Dass es tatsächlich keine akademische Ausbildung für Figurentheater-Regie gibt. Und welches schlummernde Potential dort zugleich zu wecken wäre.
Denn was selbst schon in den dargebotenen Skizzen des Regie-Nachwuchses und den von Ensemblemitgliedern kommunaler Puppentheater initiierten „Laboratorien“ zu erkennen war, ist einmal mehr auch das: die Freiheit nämlich, die darin liegt, sich in Zeiten des manischen Diktats technologisch-digitaler Fixierungen von einem Material – von Materie – inspirieren, im doppelten Sinne berühren zu lassen; sich am Material – erneut wortwörtlich – zu reiben. Diese Kunstform ist auch deshalb heute vor allem eins: ein Anachronismus. Genau darin aber liegt ihr Potential. Eine Relevanz, die tiefer greift, essentieller wirkt als das Illustrieren gesellschaftlicher Diskurse. Label-Namen sind da bloße Probleme für die PR-Abteilung. –
www.puppentheater-magdeburg.de