Theater der Zeit

Magazin

Kitt und Bruch

Mirjam Meuser und Janine Ludwig (Hg.): Literatur ohne Land? Schreibstrategien einer DDR-Literatur im vereinten Deutschland. Band 2. Fördergemeinschaft Wissenschaftlicher Publikationen von Frauen e. V.

von Hugo Velarde

Erschienen in: Theater der Zeit: Fuck off (09/2015)

Assoziationen: Buchrezensionen

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Motiviert durch die öffentliche Resonanz, die der erste Band von „Literatur ohne Land?“ (2009) ausgelöst hatte, entwickelten die Herausgeberinnen Mirjam Meuser und Janine Ludwig ihren zweiten Band anhand einer zweifachen These, die das vormalige Ansinnen konsequent erweitert und vertieft. So soll zum einen „einem Teil der vielen Autoren Beachtung widerfahren, die der letzte Band aus Gründen der Beschränkung unberücksichtigt lassen musste, und dadurch ein relatives Gleichgewicht zwischen den Vertretern der einzelnen Generationen hergestellt werden (…). Zum anderen soll es anhand dieses durch das erweiterte Textkorpus annähernd ‚repräsentative[n] Gesamtbild[es]‘ möglich werden, erste literaturhistorische Aussagen über die Folgen des Einschnitts von 1989 für die Literatur der DDR zu treffen.“

Diesem Anspruch wird dieser Band gerecht. Daher ist völlig unerklärlich, warum die kritische Würdigung, die dem ersten Band widerfuhr, dem zweiten gegenüber bisher ausgeblieben ist. Denn es geht weiterhin um nichts weniger als „eine Literatur, die lebt, von der weiterhin Impulse ausgehen, die aber von der Geschichte deterritorialisiert wurde“, so Frank Raddatz in seiner Rezension in Theater der Zeit (5/2010).

Gewiss, es gibt sie noch, diese Literatur – auch ohne Raum. Zeitlich eingebettet in alltags-, expertenkulturelle, lebensweltliche und identitätsstiftende Problemfelder, an große Kämpfe und Kontroversen des 20. Jahrhunderts erinnernd, die – wie es die jüngste Realismusdebatte in Deutschland zeigt – keineswegs tot sind.

Post mortem ist eben nicht post festum. Erstes trifft den Hund, das Zweite seine Flöhe. Die ostdeutsche Literatur kämpfte bereits nach 1945 um Anwesenheit. So lautete 1961 Wolfgang Hilbigs hellsichtige, existenzielle Identitätsfrage: „Wie lange noch wird unsere Abwesenheit geduldet?“ Eine Lebensverlegenheit.

Das betrifft auch die ostdeutsche Literatur in der 1989er Wende- und Nachwendezeit, die dieser Band vorzüglich historisiert. Damit werden Kitt und Bruch der literarischen Produktion Stefan Heyms, Stephan Hermlins, Hermann Kants, Peter Hacks’, Sarah Kirschs oder Karl Mickels mit derjenigen von Wolfgang Hilbig, Sascha Anderson, Bert Papenfuß, Igor Kroitzsch oder Durs Grünbein ins Verhältnis gesetzt. Eine literaturwissenschaftlich und sogar wissenssoziologisch beachtenswerte Leistung.

25 Jahre nach der deutschen Vereinigung plädiert der einleitende Essay von Mirjam Meuser und Janine Ludwig dafür, sie als eigenständige Epoche der deutschen Nachkriegsliteratur aufzufassen. Festgemacht wird die Argumentation weiterhin an einem Konzept von „littérature engagée“, das, wie kritisch-loyal oder ablehnend auch immer, als deutlich an das Land und seinen gesellschaftlichen Entwurf gebunden erscheint.

Neben der literaturgeschichtlichen Einordnung der DDR-Literatur selbst setzt der einleitende Essay in einem zweiten Teil die Ergebnisse der Einzelstudien zur Entwicklung der gesamtdeutschen Literatur nach 1989 in Beziehung. Und so versteht er sich als Beitrag zur literaturhistorischen Grundlagenforschung des 20. bzw. 21. Jahrhunderts. //

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