Asyl als Übergang
Transiträume in der griechischen Tragödie
von Susanne Gödde
Erschienen in: Recherchen 135: Flucht und Szene – Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden (05/2018)
Assoziationen: Wissenschaft Theatergeschichte

I. Hikesie versus Asyl
Mit dem Heiligtum – sei dies der Tempelbezirk in seiner gesamten Ausdehnung oder, konkreter, der Altar in dessen Innerem – betritt ein um Schutz Bittender, ein Verfolgter, ein ‚Asylant‘ in der griechischen Antike einen sakralen Ort, einen Ort, der den Göttern heilig ist, einen Ort, von dem er – dies die Grundbedeutung von asylos – nicht ‚geraubt‘, also entfernt, werden darf. Diese Zuflucht im Heiligtum, so sehr das ungeschriebene Sakralrecht sie garantiert, ist jedoch immer temporär und zu unterscheiden von einem dauerhaften Schutz, der nur durch eine politische Instanz gewährt werden kann. „The god and his altar“, schreibt Froma Zeitlin, „are only the intermediary in the transaction between suppliant and polis“.1 Zwar konnten antike Heiligtümer größere Mengen von Menschen über einen längeren Zeitraum aufnehmen [zu den räumlichen Dimensionen vgl. die Abb. 1 und 2], und es sind Fälle von bis zu 20-jährigen Aufenthalten von Schutzsuchenden im Tempelbezirk überliefert, deren Verfahren so lange anhängig waren2 – doch ändert dies nichts an der Tatsache, dass das Heiligtum immer nur als Transitraum, als Durchgangsstation hin zu einem dauerhafteren und insofern sichereren Aufenthaltsort gelten kann, über den politische Instanzen zu beschließen hatten.
Man mag im antiken Sakralrecht, das...