Theater der Zeit

Dystopien aus der »Welt davor«

von Leyla-Claire Rabih und Frank Weigand

Erschienen in: Scène 22: Neue französischsprachige Theaterstücke (10/2020)

Assoziationen: Europa Dramatik

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Seit 1999 erscheinen in der Reihe SCÈNE französische und frankophone Theatertexte in deutscher Übersetzung. Bei der künstlerischen Auswahl der Stücke war es stets unser Anliegen, einem deutschsprachigen Publikum vorzustellen, wie Autorinnen und Autoren andernorts auf aktuelle gesellschaftliche Ereignisse reagieren. Dies machte unsere Auswahl oft politisch und spiegelte Debatten wider, die zum Zeitpunkt des Erscheinens unserer Anthologie virulent waren.

SCÈNE 22 ist ein Sonderfall. Nach Abschluss der Textauswahl wurden wir alle, Autorinnen und Autoren, Übersetzerinnen und Übersetzer und auch wir als Herausgeber, von der globalen COVID19-Pandemie überrollt, und das krisenhafte Weltgeschehen nahm stellenweise dystopischere Züge an als die pessimistischsten unserer Stücke.

Ironischerweise hatten wir für diese 22. Ausgabe von SCÈNE acht Texte ausgewählt, die sich mit unterschiedlichen Formen von Krisen und den Möglichkeiten ihrer Bewältigung beschäftigten. Gemeinsam ist allen Arbeiten, dass sie das aktuelle Weltgeschehen – die drohende Klimakatastrophe, die Migrationskrise und die unbewältigten Nachwirkungen des Kolonialismus – als eine gefährliche Sackgasse erleben. Während einige von ihnen messerscharf aber letztendlich fatalistisch die Missstände und die Unmenschlichkeit des Spätkapitalismus analysieren und abbilden, suchen andere nach Auswegen oder neuen Organisationsformen, die letztendlich ein anderes Leben ermöglichen sollen. Angeregt von Bewegungen wie Fridays for Future scheint es besonders die junge Generation zu sein, die erfolgreich nach Alternativen zu dem scheiternden System sucht, das ihnen die Älteren hinterlassen.

So eröffnet der erste Text unserer Auswahl, »Dunkeltunke« von der französischen Autorin Claudine Galea trotz des düsteren Titels die Anthologie mit einem federleichten Hoffnungsschimmer. In einem französischen Badeort am Ärmelkanal verbringen die 10jährigen Freundinnen June und Winter einen Sommer, umschwärmt von zwei nur unwesentlich älteren Verehrern, dem »Kleinen« und dem syrischen Geflüchteten Haytam El Marwan, der von Australien träumt und den sie der Einfachheit kurzerhand »Mayo« taufen. Vollkommen alleingelassen von der Erwachsenenwelt inszenieren die beiden Mädchen Rollenspiele, erkunden ihre Gefühle füreinander und die beiden Jungs und finden in Kunst und Sprache Gegenentwürfe zu der tristen Arbeitsrealität ihrer überforderten Eltern. Humorvoll und politisch unkorrekt zeichnet die Autorin hier das hoffnungsvolle Portrait einer Generation, die die Welt bewusst erlebt, ohne defätistisch an ihr zu verzweifeln. Anstatt sich von den »dunkeltunkenden Gedanken« lähmen zu lassen, die sie immer wieder überfallen, beschließt Winter trotzig, alles, was sie stört, ebenfalls »dunkel zu tunken« und arbeitet gemeinsam mit ihren Freunden an der positiven Veränderung der Welt, in der sie leben.

Ganz anders ist der Tonfall, den die quebecer Dramatikerin Annick Lefebvre in ihrem Monolog »Stacheldraht« anschlägt. Eine Figur, deren Geschlecht nicht genau bestimmt ist – »vielleicht ein Mann, vielleicht eine Frau und vielleicht jemand, für den Geschlecht etwas Fließendes ist« – und die vor Kurzem Vater oder Mutter geworden ist, hat soeben erkannt, dass im Inneren eines jeden Menschen in der westlichen Welt ein Stacheldraht schlummert, der ständig länger wird, sich nach und nach durch alle Organe bohrt und schließlich zum Tod seines Wirts führt. Atemlos gegen das Verrinnen der Zeit anredend vollzieht die Figur eine Generalabrechnung mit sich selbst und ihrem schizophrenen Dasein zwischen Selbstoptimierung, Alltagsrassismus, Geschlechterungleichheit, Familiendramen und social-media-erfahrenem Gutmenschentum. Trotz seines Tempos und poetry-slam-artigen Sprachwitzes ist »Stacheldraht« die bitterböse Bestandsaufnahme einer Gesellschaft ohne wirkliche Bedrohung von außen, die diese Bedrohung nach innen verlagert hat und so den Keim ihrer eigenen Zerstörung bereits in sich trägt.

Auch »Final Cut« der in Belgien lebenden Französin Myriam Saduis ist ein Monolog, der jedoch immer wieder collagenartig durch Stimmen aus der Weltgeschichte und dem persönlichen Umfeld unterbrochen wird. In einer Art lecture-performance rollt die Schauspielerin und Regisseurin anhand ihres persönlichen Lebenstraumas das historische Trauma der französischen Kolonialisierung Tunesiens und seiner Folgen bis in die Gegenwart auf. Wie in einer Psychoanalysesitzung zeichnet sie die gescheiterte Liebe ihrer Eltern (Mutter: Tunesierin italienischer Abstammung, später französische Staatsbürgerin – Vater: arabischer Tunesier, der aus Frankreich ausgewiesen wird) und den anschließenden administrativen Kleinkrieg nach. Trotz aller historischen, politischen und künstlerischen Exkurse (es wimmelt in dem Stück von Verweisen auf Filme und Chansons, die die kulturelle Atmosphäre im Frankreich der 1960er-Jahre wiedergeben) bleibt der Text ein zutiefst persönliches Dokument einer pathologischen Mutter-Tochter-Beziehung. Am Beispiel der eigenen Biografie zeigt Saduis, wie eine Generation, die zwischen den Folgeschäden des Kolonialismus aufwächst, buchstäblich von der Geschichte erdrückt wird.

Bewusst künstlich und anti-psychologisch kommt dagegen »Manifest der Jungen Frau« von dem quebecer Theatermacher Olivier Choinière daher. Das Bild der »Jungen Frau«, wie es Lifestyle-Magazine und einschlägige Mode- und Beziehunghilfeblogs zeichnen, wird hier zur schrillen Chiffre für die Funktionsweisen des Kapitalismus. Eine Gruppe von Performer*innen unterschiedlichen Alters verkörpert mit Perücken die ideale Konsumentin, die alles tut, um ein vollwertiger Teil der Gesellschaft zu sein. Sprechblasenartig werden Werbeslogans deklamiert, bis sich die Thematik nach und nach in den Bereich des Politischen verschiebt. In seinem Hochgeschwindigkeitsoratorium, das in seinen besten Momenten an den frühen René Pollesch und seine Verzahnung von persönlicher Hysterie und gesellschaftlicher Zwangssituation erinnert, vollzieht Choinière einen nur scheinbar zynischen Rundumschlag durch das Zeitgeschehen vom Jugendwahn bis hin zum Terrorismus und endet beinahe sentimental mit einer durchaus ernstgemeinten Hymne an die transformatorische Kraft des Theaters. Sein Metatheater, das in Québec, wo nach wie vor das psychologisierende Schauspiel dominiert, eine Ausnahmestellung einnimmt, ist somit kein Selbstzweck sondern von einem beinahe brechtschen politischen Impetus getragen.

Auch der Belgier Alex Lorette beschäftigt sich mit der kapitalistischen Verheißung der Wunscherfüllung. In seinem formal komplexen, in mehreren Erzählsträngen angelegten, mit immerhin sechs Schauspielern besetzten Text, erzählt er die Geschichte von Chloé, die sich nach einem Archäologiestudium prekär von Job zu Job hangelt und schließlich im gewaltigen Lager eines multinationalen online-Versandhandels landet, hinter dem sich unschwer zu erkennen Amazon verbirgt. Als sie schließlich wegen der unmenschlichen Zeittaktung eine Fehlgeburt erleidet, legt sie ein Feuer in der Firma und flieht nach Südamerika, um das Werk des Künstlers Carlos Cruz-Diez zu erforschen, über den sie vor langer Zeit ihre Abschlussarbeit geschrieben hatte. Parallel dazu laufen die Geschichten ihres Freundes Fred ab, der vom DJ zum Kurierfahrer absteigt und die von Paul, der für sich unterschiedliche Firmen um die Entlassungen und Neuvermittlung überflüssigen Personals kümmert. Gegenfigur zu Chloé ist ihre Freundin Mélina, die nach einer schweren Krankheit in ihrer Jugend nun alles tut, um sich die glänzenden Träume der Konsumwelt zu erfüllen. Hinter der kunstvollen Verwebung der Handlungsstränge verbirgt sich ein kaum verhehlter Aufruf zur Revolte. In diesem System, in dem jeder, auch die Chefs selbst, instrumentalisiert und ausgebeutet werden, ist Zerstörung womöglich die einzige Überlebenschance.

Während »Dream Job(s)« eine komplexe Realität in eine trotz allem geschlossene Theaterform übersetzt, ist in »Wutströme« der Genfer Dramatikerin Julie Gilbert das Widersprüchliche und Fragmentarische Programm. Einerseits werden in dem vielstimmigen Text über Exil, Migration und Identität Fragmente von Fluchtgeschichten und persönlichen Schicksalen miteinander verquickt, bis das Bild einer universellen Welle des Leidens entsteht, die aus dem globalen Süden in den Norden schwappt. Gleichzeitig stellt die Autorin diesen lyrisch überhöhten Klagegesängen immer wieder Szenen gegenüber, die die Perspektive des westlichen Dramatikers hinterfragen, der anstelle der eigentlichen Protagonisten spricht und ihre Biografien nur benutzt. Gilberts Stück, das bereits 2011 entstand, nahm bereits zahlreiche Fragestellungen vorweg, die heute spätestens seit der Europäischen Migrationskrise von 2015 Allgemeingut sind. Wie lassen sich globale Katastrophen abbilden? Wer besitzt die Legitimität, darüber zu sprechen? Die Autorin löst die Spannung zwischen Dominanz und Schuldgefühl nicht auf, die die Beziehungen zwischen den reichen Industrienationen und dem Süden prägen. Ihr Text »Wutströme« ist eine Art Aufschrei, der nicht heilen will, sondern Paradoxa benennt und sie bewusst stehenlässt.

Auch der Text der zweiten Schweizer Autorin, »SapphoX« von Sarah Jane Moloney, widersetzt sich einer zusammenhängenden Narration, die versuchen würde, »Sinn zu schaffen«. Die junge Dramatikerin, die ursprünglich aus dem Bereich der Performance stammt, stellt in ihrem ersten »richtigen « Theatertext eine Beziehung zwischen der aktuellen Migrationskrise und der griechischen Antike, der Wiege der abendländischen Kultur her. Protagonistin ist die legendäre Lyrikerin Sappho, von deren Werk nur mehr 650 Verse erhalten sind und die im Laufe der Jahrhunderte immer wieder gewaltsam neu gedeutet wurde – von der romantisch Liebenden bis hin zur Ur-Mutter des Queerfeminismus. Diese Sappho wird nun in einer Science Fiction-Handlung von zwei Wissenschaftlern zum Leben erweckt, die von ihr die »fehlenden Wörter« fordern, um endlich die »wahre«, stichhaltig nachweisbare Lesart des Sapphoschen Werkes zu finden. Parallel dazu wird die Geschichte zwei junger Freiwilliger erzählt, die sich aus der Schweiz nach Lesbos aufgemacht haben, um in dem alptraumartigen Auffanglager Moria als Helfer zu arbeiten. Während das Mädchen nach dem ersten Schock wieder abreist, findet der arabisch-stämmige junge Mann in der Tätigkeit einen Teil seiner Identität wieder. Ebenso wie ihre Protagonistin bleibt die Autorin jedoch klare Antworten schuldig. »SapphoX« spielt auf drei Zeitebenen: in der Science-Fiction- Handlung (2070), der Gegenwart (2020) und in den 1970er-Jahren, als Sapphos Insel Lesbos zu einem Hotspot des beginnenden lesbischen Sextourismus wurde. Anstatt uns klare Aussagen und Ergebnisse zu präsentieren, nimmt Sarah Jane Moloney Sprache und Zeit als Phänomene ernst und bricht eine Lanze für Komplexität und Uneindeutigkeit.

Mit einem weiteren hoffnungsvollen Kinder- und Jugendstück aus Frankreich endet dieser Band. Auf Anregung ihres Kollegen Fabrice Melquiot hatte die junge Autorin Gwendoline Soublin Kinder und Jugendliche nach ihren Ängsten und Wünschen für die Zukunft befragt. Daraus entstand »Und alles«, eine rührende humorvolle Hymne an eine Generation, die sich nicht mehr mit verquälten Grübeleien aufhält, sondern pragmatisch zur Rettung des Planeten schreitet. Eine Gruppe Kinder sucht nach dem verschwundenen 12jährigen Ehsan, doch befindet sich dieser – wie sich zuletzt herausstellt – nicht in dem vom Vater eingerichteten Atomschutzbunker, sondern an der bretonischen Küste, um dort einen gestrandeten Wal zu retten. Die Suche der anderen nach dem Verschwundenen läuft so hemdsärmelig-pragmatisch ab, dass man als Zuschauer großes Vertrauen in die Zukunft bekommt. Neue Probleme erfordern ein neues Bewusstsein und eine kollektive Strategie. Gwendoline Soublins Protagonisten tragen »migrantische« Namen wie Chalipa, Ehsan oder Salvador, leiden aber keineswegs unter ihren multiplen Identitäten. Wie in »Dunkeltunke« sind die Eltern abwesend, jedoch ohne, dass dies irgendein Trauma hinterließe. In der neuen Solidargemeinschaft, die diese Kinder bilden, werden alle ernstgenommen – unabhängig von Alter, Geschlecht oder Herkunft. Im Geiste von Fridays for Future scheint hier eine neue Gesellschaft möglich. Vielleicht könnten Texte wie dieser Werkzeuge für sie sein?

Wir hatten die Textauswahl für diesen Band im Februar 2020 festgelegt. Die Arbeit an den Übersetzungen geschah zur Zeit des Lockdowns über Landesgrenzen hinweg, die nun plötzlich wieder unüberwindbar trennend geworden waren. Während überall Gewissheiten zerbrachen und eine hygienisch-verträgliche Zukunft der Kunstform Theater in den Sternen stand. Erfreulicherweise stellten wir fest, dass alle acht Texte auch in der »Nach-Corona-Welt« immer noch Gültigkeit besitzen. Diese Stücke aus der »Welt davor« haben uns auch heute noch eine Menge zu sagen. Manche Stelle hat durch den neuen Kontext sogar an Schärfe und Aktualität gewonnen. Wenn in »Und alles« Chalipa davon phantasiert, dass bald alle Menschen »OP-Masken« tragen müssen und die Hauptfigur in »Stacheldraht« Desinfektionslösung gegen ihre Probleme trinken möchte, wirken die Texte geradezu prophetisch. Und wenn Olivier Choinière im Finale von »Manifest des Jungen Mädchens« von der zwischenmenschlichen Komponente des Theaters schwärmt – »Das Theater findet seine Daseinsberechtigung bei euch, den Zuschauern, die an die Kraft der direkten Verbindung glauben« –, so kann man nur wünschen, dass all diese Texte bald (wieder) in weitgeöffneten, gut besuchten Theaterräumen gespielt werden.

August 2020

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