Der andere Körper des Theaters
von Ulrike Haß
Erschienen in: Kraftfeld Chor – Aischylos Sophokles Kleist Beckett Jelinek (01/2021)
Assoziationen: Theatergeschichte
Der Chor, der aus der aktuellen Zeit heraustritt und auf der Seite von Äon mit weit zurückreichenden Erinnerungskünsten betraut wird, ist der Chor der stásima. Die Standlieder, deren innere Strophengliederung äußerst variabel gehandhabt werden konnte, sind selbstständige Dichtungen, die zwischen den Epeisodien für den Horizont der Tragödie sorgen. Der Terminus Horizont (von gr. horidzein, begrenzen) wird hier zunächst verwendet, um für die Standlieder eine Reihe anderer Funktionen auszuschließen: Sie bilden keinen Kommentar der jeweiligen Auftritte, genauso wenig wie deren Perspektivierung. Sie bedeuten, interpretieren oder konterkarieren das Geschehen nicht und sie sind mit der mutmaßlichen Auffassung des Dichters nicht enger verbunden als die anderen Teile der tragischen Komposition auch oder diese insgesamt.
Das auffällige Merkmal der Eigenständigkeit der Stasima ist immer wieder unterschiedlich gedeutet worden. Aber noch vor aller Deutung ist festzuhalten, dass der Chor den großen anderen „Körper des Theaters“107 bildet und dass er sich als solcher in der Tragödie auf zwei völlig verschiedene Weisen präsentiert. Zum einen erscheint er vielstimmig verwickelt in die Epeisodien der Protagonisten, mit denen er zum Teil heftige Wortwechsel austrägt, zum anderen trägt er die Stasima als eigenständige Dichtungen zwischen den Auftritten der Protagonisten vor. Auf den ersten Blick haben diese beiden...