Theater der Zeit

I Aischylos Sophokles / Antike Konstellationen

Der andere Körper des Theaters

von Ulrike Haß

Erschienen in: Kraftfeld Chor – Aischylos Sophokles Kleist Beckett Jelinek (01/2021)

Assoziationen: Theatergeschichte

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Der Chor, der aus der aktuellen Zeit heraustritt und auf der Seite von Äon mit weit zurückreichenden Erinnerungskünsten betraut wird, ist der Chor der stásima. Die Standlieder, deren innere Strophengliederung äußerst variabel gehandhabt werden konnte, sind selbstständige Dichtungen, die zwischen den Epeisodien für den Horizont der Tragödie sorgen. Der Terminus Horizont (von gr. horidzein, begrenzen) wird hier zunächst verwendet, um für die Standlieder eine Reihe anderer Funktionen auszuschließen: Sie bilden keinen Kommentar der jeweiligen Auftritte, genauso wenig wie deren Perspektivierung. Sie bedeuten, interpretieren oder konterkarieren das Geschehen nicht und sie sind mit der mutmaßlichen Auffassung des Dichters nicht enger verbunden als die anderen Teile der tragischen Komposition auch oder diese insgesamt.

Das auffällige Merkmal der Eigenständigkeit der Stasima ist immer wieder unterschiedlich gedeutet worden. Aber noch vor aller Deutung ist festzuhalten, dass der Chor den großen anderen „Körper des Theaters“107 bildet und dass er sich als solcher in der Tragödie auf zwei völlig verschiedene Weisen präsentiert. Zum einen erscheint er vielstimmig verwickelt in die Epeisodien der Protagonisten, mit denen er zum Teil heftige Wortwechsel austrägt, zum anderen trägt er die Stasima als eigenständige Dichtungen zwischen den Auftritten der Protagonisten vor. Auf den ersten Blick haben diese beiden Erscheinungsweisen des Chors wenig miteinander zu tun. Zu unterschiedlich scheinen die Form des geschlossenen Liedvortrags und der innerepisodische Auftritt von Leuten, die sich vom Geschehen widersprüchlich affizieren lassen. Ziehen wir jedoch die topologischen Eigenschaften der Chorfigur in Betracht, wird deutlich, dass sich die beiden Erscheinungsweisen des Chors nicht widersprechen, sondern vielmehr genau den beiden Modi der Konfiguration entsprechen, die das Handwerk der Tragödie, ihre technē, insgesamt ausmachen: „zusammentragend-auseinandertragend“. Wenn wir konstatieren, dass der Chor die Tragödie formensemantisch trägt, müssen wir auch konstatieren, dass dieses Tragen nur vollständig sein kann, wenn es zwischen den beiden Modi seines Tragens wechselt und beide Modi gleichermaßen nährt. Denn genauso wie tópos bei Aristoteles das zugleich Umfassende und Auseinanderhaltende ist und den Ort nur in der Form einer Mit-Teilung der Grenzen des Umfassten bildet, kann sich auch der Chor als tragende Struktur nur zusammen-auseinandertragend verhalten. Es ist wie beim Möbiusband: Noch nicht einmal ein ‚und‘ passt zwischen die beiden ineinander verschlungenen Enden.

Für die Standlieder hat sich das Schlagwort vom Chor als „Sprachrohr des Dichters“ durchgesetzt, das ebenso auf Schlegel zurückgeht wie die Formel vom Chor als „idealisierter Zuschauer“. Mit kühnem Schwung hat August Wilhelm Schlegel in seinen Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur 1846 notiert, dass der Chor „den personifizierten Gedanken über die dargestellte Handlung“ zur Darstellung bringe und somit innerdramatisch die „Teilnahme des Dichters als des Sprechers der gesamten Menschheit“108 verkörpere. Die einprägsame Kurzformel vom Chor als „Sprachrohr des Dichters“109 geht jedoch zurück auf eine Ursprungs- und Urform versessene Studie des Altphilologen Walther Kranz aus dem Jahr 1933, die das Übrige zur inflationären Verbreitung dieses Gemeinplatzes beigetragen hat. Entkleiden wir ihn jedoch und lassen wir die Metaphysik des Dichters beiseite, mit der Schlegel und Kranz ihn ausgestattet haben, so können wir ihm zumindest den Punkt entnehmen, dass zwischen den Stasima und der Tätigkeit des Dichters (poiēsis) sowie seiner Kunst (technē) eine enge Beziehung vorliegt.

Die Gedächtnisfunktionen der chorischen Stasima sind basiert in der Schrift und ihrer Ordnung, in der aufgeschrieben wird, was gesungen und geklagt werden soll. Sie gehen auf Zeichen zurück und auf deren Ordnung, die selbst nicht spricht, auf die stumme Ordnung der grámmata.110 Das grámma als Schriftwerk und dessen Ordnung spielt auf einer anderen Ebene als die Schrift selbst. Als grámma kann hier dasjenige gelten, was Zeichen zu einer Schrift zusammentreten lässt. Das grámma kann somit als die konstitutive, selbst schweigende Voraussetzung der Schrift, aber auch der Stimme gelten, die verlautbart und darüber hinaus als selbstständiges Gestaltungsmittel zwischen Laut und Bedeutung spielt. Laut und Bedeutung können als Zeichen der Affekte im Gemüt derer auftreten, die hören, während das grámma indes unvernehmbar bleibt.

Doch die Tätigkeit des Dichters ist nicht darauf beschränkt zu schreiben, was andere singen und klagen sollen. Die selbst schweigende Voraussetzung der Stimme gilt auch für den Schreibenden. Sie umfasst ihn. In dieser unaussprechlichen Umfassung, die eine dynamische Ordnung ist, schiebt sich die Stimme des Dichters, die sein Schreiben ist, ins Unvordenkliche hinein. Damit sind hier weniger die letzten großen Geheimnisse ‚der Menschheit‘ gemeint als vielmehr eine genuine und sozusagen alltägliche Eigenart der Schrift. In der Schrift vermag sich unvermittelt nebeneinander re hen, was unberechenbar und widersprüchlich erscheint. Im Medium der Schrift sind „Zusammen-Ergreifungen“ möglich, wie es im schon zitierten Heraklit-Fragment heißt.111 „Ganzes und Nichtganzes“ reihen sich „zusammenstimmend-auseinanderstimmend“. Wir werden auf mediale Eigenschaften der Schrift ausführlicher im Jelinek-Kapitel zurückkommen.112 An dieser Stelle ist es nur wichtig, die Kunst des Dichters als eine sich mit der stummen Ordnung der grámma auseinandersetzende und verzweigende technē zu skizzieren. Schreiben ermöglicht, sich ins äußerste Denk- und Sagbare vorzuschieben und diese Bewegung als Verlaufs- und Darstellungsform, die das Schreiben mit dem Denken teilt, in der Schrift aufzubewahren und zu archivieren. Die Stasima sind in besonderer Weise mit diesen medialen Möglichkeiten der Schrift verbunden und verdanken sich ihnen, indem sie diese vortragen. Es gibt eine Performanz der Sprache auf der Ebene der Schrift. Erst im Vortrag, zu dem auch das Lautlesen am Küchentisch gehört, können Erfahrungen einer auf der Schriftebene verborgenen Zusammengehörigkeit entstehen, die im Heraklit-Fragment als „innige Berührungen“ bezeichnet werden.

Der Chor im Binnenraum und an den Rändern der Tragödie

Das Verhältnis der Stasima zu den jeweiligen Epeisodien ist als eine weiträumige Bezugnahme vorzustellen, die mit einem Registerwechsel einhergeht. In bestimmter Hinsicht gleicht ihr Verhältnis jenem, das Maurice Halbwachs für das kollektive und individuelle Gedächtnis beschrieben hat. Wenn für den Beginn der Perser gezeigt werden konnte, dass die Aufführung eines kollektiven Gedächtnisses zwar vom Traum einer Einzelfigur angestoßen wird, aber in der szenischen Anordnung zuerst auftritt, bevor sich eine Erinnerung (die Halbwachs stets als „individuelles Gedächtnis“ bezeichnet), wiederum unter Rückgriff auf kollektives Material, zu formulieren vermag – dann gleicht diese Anordnung in ihrer auffälligen Asymmetrie genau derjenigen, die Halbwachs für das kulturelle Gedächtnis im Allgemeinen herausgearbeitet hat und die ihn zu seiner zentralen These führt: Das „kollektive Gedächtnis [ist] die einzige Grundlage für die Möglichkeit des sogenannten individuellen Gedächtnisses“113.

Die Weite des Bezugs, die Stasima an den Rändern der Tragödie des Protagonisten herstellen, kann von ganz unterschiedlichem Umfang sein. Die Bezeichnung dieser Ränder als Horizont schließt Spezifika dieses Begriffs mit ein, die sich ertragreich auch auf Strukturmerkmale des Chors beziehen lassen. Ein Horizont beschreibt die Grenze eines Gesichtskreises und sein Angrenzendes, das in der Diskussion des Welt-Ortes bei Aristoteles zum Beispiel auch als in sich Unbegrenztes begriffen wird, als ein selbst unabsehbares Umfassendes. Wird die Grenze eines Gesichtskreises indessen als partieller Horizont begriffen, dann ist damit besagt, dass die Gestalt des Horizonts von seinen spezifischen örtlichen Bedingungen abhängig ist und je nachdem in unterschiedlicher Ferne oder auch Nähe erscheinen kann. Die beiden Aspekte des Horizonts, sein Angrenzendes als Unbegrenztes und seine partielle, bewegliche Gliederung, liegen nicht streng getrennt voneinander vor, sondern gehen ineinander über und können sich vermischen.

So thematisieren die Chorlieder in der Antigone (Parodos, drei Stasima und Kommos) zum Beispiel nacheinander: 1. Erinnerung an die Schlacht um Theben und den Sieg der Thebaner (gestern); 2. Reflexion über den Menschen als erfindendes, sterbliches Wesen (sehr weit zurückgehend und ins Unvordenkliche ausgreifend); 3. Lobgesang auf die Macht des Eros (weithin geltende Überzeugung); 4. Aufzählung mythologisch verbürgter Fälle lebendiger Einmauerung (weit zurückgreifendes, literarisches Gedächtnis); 5. Klage (Gegenwart). Insgesamt wird hier durch die Chorlieder ein spezifischer Horizont aufgespannt. Seine Beschreibung setzt mit einem partiellen Horizont (Schlacht um Theben) ein, mit dessen unterschiedlichen Fern- und Nahbedingungen, mit dessen Ausblicken und verstellten Sichten. Dieser Horizont weitet sich im Verlauf der Standlieder ins Universelle und ins Allgemein-Gesellschaftliche und ins Allgemein-Gelehrte, um sich dann im konkreten und spezifischen Horizont im Theater dieser Tragödie Antigone zu vollenden. Dieser Horizont ist zusätzlich in sich vielfältig gebrochen und beweglich (Strophen, Gegenstrophen, wechselnde Rhythmen, spezifische Bewegungsformen wie etwa die ‚Zoom-Bewegung‘114 in der Parodos). Er gleicht daher auf keinen Fall einer Linie, sondern bildet eine Zone, in der sich der Gesichtskreis begrenzt. Seine Spezifik besagt darüber hinaus, dass der Horizont für jede Tragödie ein anderer ist und in je anderer Weise gebildet wird. (Es ist diese Regel, mit der Euripides bricht, wenn er Chorlieder für verschiedene Tragödien mehrfach verwendet. Das heißt, dass zuerst diese Horizontfunktion des Chors nicht mehr gesehen wird.) Der vom Horizont der Chorlieder insgesamt aufgespannte Raum, bezeichnet den Raum der Tragödie, in dem die zwei oder drei Geschehenslinien, geheftet an die jeweiligen Protagonisten, sich entwickeln, überschneiden, einander in den Weg geraten oder sperren.

In den Epeisodien steht der Chor im Binnenraum der Tragödie, der er als der andere Körper des Theaters so nahesteht wie kein anderer. Dennoch macht der Chor innerhalb des epeisodischen Raums keine Entwicklung durch. Er kann seine Meinung ändern – wie das zum Beispiel der Chor der Okeaniden im Prometheus-Fragment des Aischylos tut, der Prometheus zunächst als Frevler ablehnt, sich dann jedoch von ihm überzeugen lässt und ihm unverbrüchlich beisteht – aber die Meinungsänderung ist einem vielköpfigen Chor sowieso inhärent und gewissermaßen jederzeit möglich. Er braucht sich dafür nicht extra, wie ein Einzelwesen, zu entwickeln. Zwischen den Geschehenslinien der Protagonisten, zwischen ihren Positionen, Behauptungen, Entscheidungen und inmitten ihrer Ablaufzeit und deren Undurchschaubarkeit muss ein Chor zwingend in jene Vielstimmigkeit und Vielgliedrigkeit auseinandertreten, aus der er gemacht ist. Anstelle einer Entwicklung verwickelt er sich also. Ein Chor nimmt Anteil an diesem oder jenem, stärker oder schwächer, in jedem Fall schwankend und widersprüchlich. Er kann sich nicht selbst zusammennehmen und dafür gibt es im binnendramatischen Raum der Tragödie auch keinerlei Anlass. Unter den zahllosen Formen seiner Verwicklungen erscheinen mir drei besonders auffällig. Sie sollen hier kurz skizziert werden:

Erstens äußern sich chorische Verwicklungen in der Form des affektiven Mitgehens. Da ein Chor durchgehend an der Handlung partizipiert, ohne dass sich die Tragödie durch ihn vollzieht, besteht seine außerordentlichste Fähigkeit darin, in einer „Zusammenfügung der Geschehnisse“115 mitzugehen. Ein Chor geht mit. Und zwar sowohl im buchstäblichen als auch im übertragenen Sinn. Er bildet einen niemals ausweichenden Resonanzboden für die Affekte und ist ihr zuverlässiger Verstärker, vollends unverzichtbar für jede Klage. Es sind somit nicht zuerst die Zuschauer, bei denen die Affekte zünden sollen, oder zumindest wird ihnen die Last der affektiven Erschütterung nicht allein aufgebürdet. Der Chor übernimmt und die Zuschauer erhalten einen Spielraum, in dem ihre Rührung im Einzelfall mehr oder weniger oder gar nicht eintreten kann. Eine Rührung entsteht weder gratis, noch kann sie erzwungen werden. An dieser Scharnierstelle kommt es dem Chor zu, den Ort der Rührung, der Affekte und der Übertragungen zu bilden und dies zum Ausdruck zu bringen. Damit erhält das Emotionale in der Tragödie eine eigene Ausdrucksebene, die weder den Protagonisten noch den Zuschauern überlassen wird. Der Chor ist nicht Adressat von Emotionen, sondern ihr Ort: die gesicherte Stelle ihres Ausdrucks und ihres Kommentars.116 In dieser Struktur bekundet sich ein, nicht nur in meinen Augen, hinreißender homöopathischer Geist, eine Art Sorge, die alle anderen schont.

Zweitens äußert sich die Verwicklung des Chors als spürendes Mitempfinden. Der Chor spürt viel eher, als dass er irgendetwas weiß, und dies ist eine weitere, wesentliche Facette seines Ausdrucks. Dazu gehören alle Formen gespannter, atmosphärischer Wahrnehmung: ahnen, erwarten, befürchten, verzagen, zögern, zaudern, wittern, fühlen, wähnen, berührt sein. In den Übertragungen von Emil Staiger (der die Empfindungsebene vermutlich über Gebühr liebt) sagt der Chor zum Beispiel: Mich „rührt zu Tränen deine Rede“ (Totenspende, V. 181) oder: „Es erbebt mir das liebe Herz, da diese Klagen ich höre. Die Hoffnung schwindet, und Dunkel umfängt das Eingeweide bei solchem Wort“ (Totenspende, 410) oder:

„Ratlos bin ich, des Sinnes beraubt […] / ich fürchte das Prasseln des Regens von Blut“ (Agamemnon, V. 1530; V. 1533).

Drittens verwickelt sich ein Chor in das epeisodische Sprachgeschehen in der für ihn spezifischen Weise des Mitredens. Diese Äußerungsschicht ist mit den ersten beiden eng verbunden, da sich ja auch das Mitgehen und Mitempfinden nicht als solche zeigen, sondern nur anhand und in enger Verknüpfung mit sprachlichen Einwürfen und Partikeln. Darüber hinaus bildet der Chor jedoch seine eigene Form des Mitredens aus. Er schiebt sich mit meist uneigentlichen Kommentaren von nur wenigen Versen dazwischen. Er kündigt vieles an, aber ansonsten fragt er. Er fragt noch einmal, vergewissert sich, wiederholt, bittet, belustigt sich, spottet, gibt gute Ratschläge, verzagt und irrt. Häufig gibt er seinem Nichtwissen bzw. seinem Nicht-weiter-Wissen Ausdruck und sagt zum Beispiel: „Schmach, der Schmach begegnet sie hier, schwer zu entscheiden.“ (Agamemnon, 1560 f.) Seiner Vielstimmigkeit gemäß widerspricht er sich, nimmt Meinungen zurück und neigt zur schnellen Wechselrede der Stichomythie, in der ein Wort nicht aufhört, das andere zu geben.

In den genannten Äußerungsschichten tritt die Teilbarkeit der Chorfigur hervor. Sich zusammenziehen kann der Chor nur in der Klage und an den äußersten Rändern der Tragödie, indem er sich von der ablaufenden Zeit ausnimmt und in der Berührung mit einer äonischen Zeitlichkeit jenen Horizont artikuliert, den ihm die Dichtung der Chorlieder in den Mund legt.117 Innerhalb der Epeisodien tritt ein Chor auseinander und wird zu jener teilbaren und geteilten Konfiguration, die sich auffaltet und ausdehnt, ohne zu zerfallen. Innerhalb der Epeisodien bildet sie ein infinites Hörensagen ab:

„Was denn gibt’s? Was geschah? Was hörtest du heut?“ (Agamemnon, V. 85) Inmitten von ‚Charakteren‘ erscheint die chorische Konfiguration notwendig charakterlos, aber nicht ohne charakteristischen Einsatz. Sie hat ihren Einsatz im Mitgehen, im Mitempfinden, im Mitreden, im Mitteilen eines Mit, das als solches ohne sprachlichen Ausdruck bleibt. (Kein Mit im Sinn eines Ganzen, das in der Tragödie, in der „Ganzes und Nichtganzes“ sich zusammensetzen, schlichtweg unvorstellbar ist.) Es handelt sich um die Mitteilung eines gleichsam solitären Mit, konkret und unpersönlich zugleich. Es verdankt sich einem bloßen Nebeneinander, einer unbedingten Pluralität. Es gibt sich, indem ein Bezug weitergegeben und ein Besitz aufgegeben wird. Ein Bezug, der auf nichts berechnet ist, sondern die reine Möglichkeit zu einer Bezugnahme bildet, die sich selbst nicht sagen lässt. Sie tritt inmitten einer extremen Einsamkeit auf, wie sie namentlich die Protagonisten umgibt und grundiert.118 Eine Einsamkeit, die sich auf ihrer Bahn entfaltet und die sich im Zeichen des modernen Individualismus immer noch weiter ausbreitet. An den äußersten Rändern des Chors

In seiner Ablösbarkeit von der Einzelfigur ist der Chor nicht mehr das Umfassende, sondern selbst ein Körper und als solcher mit der Frage verbunden, an welches Umfassende er mit seiner äußersten Grenze rührt, was also sein Ort sei. Die Frage lässt sich insofern nur abstrakt verfolgen, als der Chor am Ort der Tragödie der einzige ist, von dem wir Genaueres wissen. Aber anhand seiner topologischen Eigenschaften und Strukturmerkmale lassen sich dennoch Tendenzen ausmachen. Zunächst ist unabweisbar, dass ein Chor, der einer dramatischen Komposition ihren Ort und ein Mit einräumt, selbst auch einen Rand, eine Grenze hat. Nicht nur eine, die den Protagonisten zugewandt ist, sondern ebenso eine, von der er sich aufmacht, um auf dem Schauplatz der Tragödie zu erscheinen. An seinem abgewandten Rand hat der Chor eine Mündung in das Unanschauliche und Unaussprechliche. Ebenso ist die Frage seiner äußersten Grenze selbst schwierig: Aischylos hat den Anteil des Chors verringert, heißt es. Aber aus welchem Teil ist diese Verringerung hervorgegangen und welche Stufen der Verringerung gingen dieser voraus? Die beiden Gesichter des Chors, zum einen im Binnenraum der Tragödie und zum anderen an seinen der Polis abgewandten Rändern, bezeichnet Kirsch als Vektoren, entlang derer sich der Chor ganz unterschiedlich verhält. Der Chor am Ort der Tragödie kommuniziert mit den Logos von Gesetz und Polis; er agiert choro-logisch. Der Chor an seinen äußersten, der Polis abgewandten Rändern wirkt indessen choro-nomisch im Sinne eines Nomos, der mit den ungeschriebenen Gesetzen nomadischer Verteilung einhergeht.119 In einer ebenfalls bei Kirsch in diesem Zusammenhang angeführten Stelle von Deleuze/Guattari heißt es dazu: „Der Nomos ist die Konsistenz einer unscharfen Menge; in diesem Sinn richtet er sich wie ein Hinterland, wie ein Berghang oder der nicht klar definierte Raum um eine Stadt gegen das Gesetz oder die Polis120. Entsprechend lässt sich vom Chor sagen, dass er im „Hinterland“ der Polis die „Konsistenz einer unscharfen Menge“ annimmt und eine Ambiguität gewinnt, die sich gegen das Gesetz richtet und aus der Stadt mit ihrem Theater und ihrer Tragödie hinausführt.

In der Polis reguliert die Göttin Artemis, die unter dem Vielen, für das sie steht, auch als Herrin der Ränder gilt, die Erfahrung der Grenze. Sie führt „von der äußersten Peripherie ins Zentrum, von der Differenz zur Ähnlichkeit“121, wie Jean-Pierre Vernant von der Artemis sagt. Aber am Rand der Ränder, von denen aus Artemis noch in den griechischen Gesellschaftskörper zurückleiten kann, berührt sich dieser Rand mit einer Heterogenität, die nicht mehr ins Zentrum zurückgeführt werden kann und die sich keiner Alternative mehr beugt, wie etwa der Alternative von Städten und unbewohnten Landstrichen (chōra). Am Rand seiner äußersten Peripherie wird das Enden selbst problematisch. Die Erinnerung an die choro-nomische Dimension des Chors zeigt sich durchweg fragmentarisch: Für seine disparaten Herkünfte werden die Dionysos-Kulte und die ländlichen Dionysien geltend gemacht, aber auch die Artemiskulte, sofern wir an Alkmans Chorlyrik für die adoleszenten Mädchen und jungen Frauen denken. Die ewig jungfräuliche Artemis und der tausendnamige, stets wiederkehrende Dionysos galten den Griechen als extrem facettenreiche Gottheiten, die aus der Fremde kamen, aus den Antipoden Griechenlands. Vernant beschreibt, wie diese Gottheiten zuerst als das Andere Griechenlands gegolten hatten und in den ihnen gewidmeten Kulten über Jahrhunderte hinweg allmählich griechisch wurden. Sie wurden integriert und erhalten schließlich einen Platz, an dem ihre wilde Fremdheit in Funktionen verkehrt wird, die es der Polis ermöglichen, „zusammen mit dem Anderen ihr Selbes“122 zu formulieren. Das Griechisch-Werden gilt also ebenso für die Selbstformulierung der Polis, die sich nur im Verhältnis zur Andersheit des Verschiedenen (to het́eron) als „Selbes“ fassen kann. Dies gelingt in dem Maß, in dem „die Griechen aus der Göttin der Ränder eine Integrations- und Assimilationskraft machten“ und „Dionysos, der im griechischen Pantheon die Figur des Anderen verkörperte, mitten hineinstellten in das gesellschaftliche Dispositiv, mitten auf die Bühne“.

Diese Bewegung der Assimilation inmitten von Verschiedenem wird durch Euripides vervollständigt und damit vorerst abgeschlossen. Der jüngste unter den drei großen, griechischen Tragikern kann als derjenige gelten, der wie ein Historiker oder Theoretiker den erinnerbaren kultischen, dionysischen bzw. vorolympischen Wurzeln der Tragödie nachgeht und aus diesen die zentralen Gegenstände seiner Tragödien gewinnt. So wird die Einführung des Dionysos-Kults in Theben zum Gegenstand in Die Bakchen, der Auftritt Apollons als Händler mit dem stellvertretenden Tod wird zum Thema der Alkestis (das im Agon an der Stelle der Komödie aufgeführt wurde). Die Barbarin und Zauberin Medea aus Kleinasien wird in Medea mit der Tagespolitik der griechischen Polis und den Karrieren ihrer freien Männer konfrontiert und rächt sich verheerend an Jason. Ein Zeus-Sohn und Halbgott hat seinen Auftritt in Herakles, die Tochter der Thetys, die den Alten des Meeres zugerechnet wird, den ihrigen in Elektra. Die Kyklopen als gottgleiche, einäugige Söhne von Uranos und Gaia geben das Satyrspiel Der Kyklop. Damit überträgt Euripides die Thematisierung der Ränder den Protagonisten, sie werden an ihnen gezeigt und dargestellt. Die Chöre erscheinen als zusätzliche Begleitung namentlich ausgezeichneter protagonistischer Grenzgänger, aber der Chor bildet nicht mehr selbst das Gedächtnis einer Grenze. Die Bakchen zeigen ihn als ein lärmendes Kultgefolge, das sich auf spektakuläre Weise ekstatischen Rhythmen hingibt. In der letzten, fast zeitgleich mit den Bakchen entstandenen Tragödie des Euripides, Iphigenie in Aulis (406 v. Chr.), wird der Chor aus jungen Frauen gebildet, die aus Chalkis zusammengelaufen sind, um das Heer des Agamemnon zu besichtigen. Sie beschreiben genau und ausführlich (V. 164–302), was sie aktuell vor Augen haben, und wirken damit wie Städtereisende. Der Chor als zusätzlicher Begleiter erinnert, wie auch in Ion von Euripides, an Touristen.123 Das Sehen rückt an die Stelle, die vormals dem Erinnerungsvermögen des Chors zukam. Entsprechend reicht das Gedächtnis dieses Chors nur noch bis gestern (bis zur Hochzeit der Eltern des Achilleus, dem sich Iphigenie versprochen hat, drittes Stasimon). Ansonsten gebietet Agamemnon dem Chor Stillschweigen über seinen Plan der Opferung Iphigenies – und der Chor hält sich daran. Der Chor ist im symbolischen Raum des Protagonisten und in dessen Gegenwartsbehauptung angekommen. In dieser Zeit, die nicht seine ist, fehlen ihm die Worte.124 Er hört auf, sich zu teilen, ein Mit zu teilen. In der Ablaufzeit und unter dem Gebot des Protagonisten stehend, verstummt er und verschwindet auf seinem langen Weg in die Theaterkulisse (wo ihn schließlich Richard Wagner aufstöbert und als „die zum Gehen und Singen gebrachte Dekorationsmaschinerie des Theaters“125 verspotten wird).

Dieses zügige, fast widerspruchlos erscheinende Schwinden des Chors weist jedoch auf eine bedeutende Eigenart des Chors hin, die zu seinen am meisten verkannten Merkmalen gehört und die bis heute zu den langlebigsten Missverständnissen führt, die den Chor immer wieder mit einem Kollektiv oder einer Gemeinschaft gleichgesetzt haben: Ein Chor hat keinen gemeinsamen Nenner und kein gemeinsames Projekt. Selbst in solchen Tragödien wie Ödipus, die ihn in seiner choro-logisch verkümmerten Version zeigen, bleibt der Chor durch ein infinites Hörensagen und ein vielstimmiges Au einandertreten gekennzeichnet. Darin wirkt sich, auch am Ort der Tragödie, seine choro-nomische, seine wilde Seite aus. Er kann sich nicht selbst zusammenschließen und verfügt daher auch über keinen irgendwie gearteten Selbsterhaltungstrieb. Ein Chor bezeichnet keine fest gefügte Gruppe, keine Versammlung, keine Gemeinschaft. Ein Chor steht vielmehr auf der Seite einer unbedingten Pluralität. Er entfaltet sein Gemeinsames nur, indem er Raum spendet, sich mitteilt und ausdehnt. Daher ist der Chor ein Phänomen der Verteilung, ein Verteilungsmodus und kommt vielmehr mit einer Sphäre überein, die in einer anderen Sprache den Namen res extensa erhielt. Diese Sphäre lässt sich, wie anhand der Dramaturgie der Ödipus-Tragödie deutlich wurde, keinesfalls ‚menschlich‘ begrenzen.

Der Chor hütet wesentlich Erfahrungen von Exteriorität und Gedächtnisse, die dem unpersönlichen Leben von Gattungswesen gelten. Auch in seiner assimilierten Variante hält der Chor einen Außenbezug aufrecht, der die ein- und ausschließende Logik des Protagonisten vielfältig schneidet und konterkariert. Auf diese Weise bildet der Chor ein Widerlager zur Gründung der Polis und allen von der Gründung infizierten Prozessen. Der Herausbildung stammbaumförmiger Genealogien steht der Chor mit seiner Erfahrung eines vorübergehenden Zusammenhalts auf Zeit entgegen. Anders als die Körper der Genealogie, die mit einer Idee von Herkunft und mit dem Phantasma ihrer tendenziell unendlichen Fortsetzung in der Zukunft verknüpft wurden (woher, wohin), ist der Körper des Chors jeweils temporär begrenzt und jeweils (immer wieder, von neuem) ein anderer. Der Chor ist eine Anti-Genealogie, ohne die Kraft zur Opposition aufzubringen. Er teilt sich derart mit, dass er den Protagonisten des genealogischen Projekts Raum gewährt und ihnen einen Ort zu ihrer Artikulation verleiht. Das bedeutet umgekehrt jedoch auch, dass Protagonisten am Ort des Chors niemals zu ihren eigenen Bedingungen auftreten. Als lebendiges Wesen kommt der Chor darum vollständig mit einer ausgedehnten Sache überein. Im Begriff der Sache (res) deutet sich an, dass es hier um Körper geht, die jedoch nicht einfach vorliegen, sondern als sich ausdehnende und werdende Körper zu denken sind. Das ist, mit anderen Worten, der Chor in seiner choro-nomischen Dimension und als Außenbezüglichkeit. Er ist nicht in seinen Grenzen zu bestimmen und auch nicht als Grenze, sondern als Grenzendes, das die Grenzen einfaltend und ausfaltend vervielfältigt und auf diese Weise ins Spiel bringt. Als einen solchen Körper möchte ich den Chor im Folgenden näher beschreiben.

Chor-Körper zeichnen sich wesentlich durch ihre Unbehaustheit aus. Ein Chor wohnt nicht. Sein Körper ist zu instabil, um wohnen zu können. Er ist draußen ohne Drinnen. Er zerfällt und bildet sich von Neuem. Mit sich selbst unauflösbar uneinig bringt er nicht genügend Einigkeit auf, um irgendwo einkehren zu können, noch nicht einmal temporär. Er kann sich nicht positionieren. Der Körper des Chors ist grundlegend Disposition und Komposition gleichzeitig und in einem.

Als in sich geöffneter Körper, beweglich, vorübergehend, ist der Chor unmöglich zu lokalisieren. Er scheint ohne fixen Ort. Gleichwohl vermag er Orte einzuräumen, er vermag in sich zusammenzutreten und Gegenwarten zu verräumlichen. Das Offenständige dieser Figur zeichnet den Chor, fast könnte man sagen, als originäres Mit aus, als ein Ko-, auf dessen anderer Seite sich jedoch keine ontologischen Gewissheiten einstellen wollen: Keine Präsenz, kein Sein, keine Essenz. Fernab eines unvorstellbaren Anfangs erscheint der Chor als eine Figur des Anfangens, die wie keine andere Figur die Signatur des Teilens selbst austrägt. Als ein Trennen und Verbinden, als ein In-sich-zusammen-Auseinandertreten. Ihr einräumender Ort bildet einen Spielraum, in dem die Gegenwart aufhört, eine zu sein, und sich unendlich oft zu teilen beginnt. Wir können diesen gleichsam verschwenderischen Vorgängen das Festliche ablauschen, wenn wir bezüglich des Chors das Spielerische betonen.

Das Spielerische soll hier, im Unterschied zum Spiel als anthropologisch begriffener „Wiege der Kultur“ (Huizinga) und im Unterschied zur humanistisch gedeuteten „Versöhnung der menschlichen Vermögen“ (Schiller), einen Moment lang extrapoliert werden. Es geht im Zusammenhang mit dem Chor weder um Spiele von Menschen noch um vermeintliche Selbstaussöhnung, sondern vielmehr um das, was am Spiel, mit der technē verwandt, spielt. Dieses Spielerische zeigt sich im Spielcharakter jedes Anfänglichen, denn jedem Anfang geht ein Anfängliches voraus, eine richtungslose Verwebung mit dem, was zwischen Zeit und Raum, zwischen Sagbarkeit und Sichtbarkeit, zwischen Schriftlichkeit und Körperlichkeit schon immer im Spiel ist und sie potenziell verkettet. Etwas Verschiebendes, Flüchtiges, eine differenzielle Verweisung, ein Hin und Her.

Wenn wir die Teilbarkeit des Chor-Körpers betonen, dann ist dieses Merkmal nicht einfach gleichzusetzen mit Mitteilbarkeit. Dieser Begriff lässt sich zwar unter dem Aspekt des Mit und der Mittelbarkeit extrem dehnen, doch haftet ihm eine Nähe zur gesprochenen Mitteilung an, die es nicht sinnvoll erscheinen lässt, ihn allzu eng mit dem Chor zu verknüpfen. Der Chor hat nichts zu sagen, die Tragödien führen das in extenso vor. Der Chor ist kein Mittel zu einer Mitteilung und er transportiert keine Botschaften. Noch nicht einmal die Standlieder taugen zu Botschaften, zumindest nicht zu verständlichen. In der vielfachen Gabelung von Stimmen, Gesten und Haltungen exponiert sich Teilbarkeit als solche.

In einer Passage seines Fatzer-Fragments hat Brecht diese Möglichkeit eines Chors gestaltet, der sich verdoppelt oder gabelt und dessen ‚Sendung‘ ohne bestimmten Inhalt oder Adressaten geeignet ist, Zuschauer unvermittelt anzusprechen und sie mühelos an einem unbestimmten Chor teilnehmen zu lassen – mögen sich diese Zuschauer, egal wann, auch erst hundert Jahre später einstellen:

„Zwei Chöre: Aber als alles geschehen war, war da / Unordnung. Und ein Zimmer / Welches völlig zerstört war, und darinnen / Vier tote Männer und / Ein Name! Und eine Tür, auf der stand / Unverständliches. […] Und aufgebaut haben wir es, damit / Ihr entscheiden sollt

/ Durch das Sprechen der Wörter und / Das Anhören der Chöre / Was eigentlich los war, denn / Wir waren uneinig.“126

Eine singuläre Sendung, die niemanden instrumentalisiert und die nicht auf ihre Verwirklichung drängt, sondern die unendlich ankommt. Mitten in der Kontingenz derer, die ‚etwas‘ affiziert und die in das Spiel einer Bezugnahme eintreten.

Ein Chor führt nichts auf, sondern zelebriert etwas, das nicht die Festigkeit eines Objekts oder eines Selbstbezugs annehmen kann. Insofern erscheint auch die Formulierung, dass der Chor sich aufführt oder zelebriert, irreführend. Das Verb, mit dem der Chor in König Ödipus sein Auftreten selbst bezeichnet, lautet tautologisch: „choreúein“ (V. 860). Die Übertragung sagt: „den Kultreigen aufführen“. Der Begriff „Kultreigen“ durchkreuzt jedoch das Verb „aufführen“. Während Aufführungen mit Zuschauern rechnen, kennen Kulthandlungen nur Beteiligte. Kulthandlungen werden nicht aufgeführt, sondern ausgeübt und kommen mit ihrem Vollzug selbst vollständig überein. An diese Register will hier das Verb zelebrieren anschließen. Offenkundig zelebriert der Chor etwas, das den vielen, kommenden und gehenden Körpern ein vorübergehendes Zusammenstimmen und eine lokale Ausdehnung zu einem Chor-Ort ermöglicht. Offenkundig wird dabei die Möglichkeit ursprungsloser Überlagerungen in einem Geflecht von Bezugnahmen. Zelebriert wird die Möglichkeit eines sich selbst Hervorbringenden und Berührenden auf Zeit. Diesseits oder jenseits von Beziehungen, die sich zwischen Subjekten oder Individuen ereignen, zelebriert der Chor etwas, das sich als die Lebendigkeit des Lebens kennzeichnen ließe. Was am Leben das Lebendige ist, bildet genau das, was von keiner Gemeinschaft eingenommen werden kann und was darüber hinaus kein anthropologisch zu vereinnahmendes Merkmal ist. Vielmehr teilen alle Lebewesen dieses Merkmal auch mit technischen Wesen und mit anderen natürlichen, kosmischen Kräften.127

Was der Chor teilt, ist schon da als viele Teile, genauer gesagt, als Teile außerhalb von Teilen (partes extra partes). Nur aus diesem Grund eignet sich ‚etwas‘ zu einer Aufteilung von Stimmen und von Körpern, in der das Geteilte sich vervielfältigt, ohne zu verschmelzen. Daher kann die Figur des Chors nur fortfahren, sich zu teilen, oder damit aufhören und zerfallen. „Wenn die Körper nicht im Raum sind, sondern der Raum in den Körpern, dann ist er Aufspannung, Spannung des Ortes“, schreibt Jean-Luc Nancy in Corpus.128 Sich aufspannen, Ausdehnung entstehen lassen oder den Raum zusammenziehen und in seine unausgedehnte Potenzialität entschwinden lassen. Der Chor separiert sich nicht. Er tritt nicht ein in die Geschichte vermeintlicher menschlicher Unabhängigkeit, sondern er zerfällt, um sich als ein anderer, an einer anderen Stelle von Neuem zu bilden. Das macht das Außerordentliche dieser Figur aus, ihre Einzigartigkeit an den Rändern menschlicher Separation und an den Rändern von Gründungen und Interventionen, die am nur noch menschlichen Milieu des Anthropos arbeiten.

In diesem Separationsgeschehen, das von der Tradition zu einer transhistorischen Bedingung des Menschen sine qua non überhöht worden ist, bildet der Chor etwas schlichtweg Nicht-Integrierbares. Ursächlich hierfür ist, dass er mit der äonischen Zeitlichkeit anfangsloser Misch- und Werdensprozesse verbunden bleibt. Die Flüchtigkeit seiner Konfiguration besagt, dass er zwar eine Verabredung und eine Stätte (Tanzplatz) hat, aber keine Vertretung kennt. Ohne gemeinsamen Nenner lässt er sich weder repräsentieren noch symbolisieren. In der Orchestra erscheint er als ein janusköpfiges Wesen, das zwischen innerszenischen Verwicklungen sowie Horizont- und Außenbezügen changiert. Ein Wechselbalg, dessen Unbeständigkeit jedoch auch besagt, dass dieses Außen keine Gegebenheit darstellt und von daher für die binären Binnenraum-Gliederungen definitiv unverfügbar bleiben muss.129

Der choro-nomische Vektor des Chors ließe sich in seiner Reichweite erheblich weiter ausdifferenzieren. An dieser Stelle sollen einige Stichpunkte genügen: Ein Chor ereignet sich am Rand der Feste, der politischen Rituale und des Theaters, ohne diesen institutionalisierten Formen zuzugehören, ohne mit ihnen zu verschmelzen. Seine Fremdheit und Flüchtigkeit sind außerordentlich. Im fünften vorchristlichen Jahrhundert sehen wir ihn in seiner Blüte bei den Tragikern nur für den vergleichsweise kurzen Zeitraum von gut sechzig Jahren, die vom ältesten erhaltenen Stück des Aischylos (Die Perser; 472 v. Chr.) bis zum jüngsten Stück des Euripides (Iphigenie in Aulis; 406 v. Chr.) vergehen. Der Chor bildet sich lokal, punktuell, nur für kurze Zeit (für die Dauer eines Festes). In diesen Fällen hat der Chor einen Anlass, aber der Anlass genügt nicht, um einen Chor hervorzurufen. Nicht jedes Festspiel führt auch zu einem Chor. Und wo er sich bildet, bleibt er nicht-integrierbar in dem Maße, in dem der Anlass ihn als akzidentiell begreift (wie bei Euripides zu sehen ist). Der Anlass wird dann versuchen, sich seiner wie einer unnötigen Komplikation zu entledigen.

Der Chor kann sich mit dem Weg für die Dauer einer Fahrt verbünden. Dann nimmt er die Formen der Prozession oder der Meute an. In diesen Formen bezeichnet er jedoch den Weg selbst, er ist dieser Weg, diese Straße.130 Darüber hinaus ist jeder hinzutretende Zweck religiöser oder politischer Art ein austauschbarer, wechselhafter Zusatz und kein genuines Merkmal des Chors. Der Chor-Körper erstarrt zwangsläufig in dem Maße, in dem ein religiös oder politisch Bedeutendes den Chor-Weg okkupiert und versucht, diesen Weg in die Bahnung religiöser oder politischer Zwecke umzulenken.

Die bewegliche, umherziehende Chor-Meute gehört den Wegen, den Pfaden, der Fahrt zu. Sie ist am stärksten mit dem ‚Tier- und Kind-Werden‘ (Deleuze) des Chors verbunden. Noch vor ihrer Konkretion als Jagd- oder Hetzmeute von Erwachsenen bietet sich die Meute den Desperados unter den Heranwachsenden an. Chor-Meuten, die sich bei den Pfadfindern Wölflinge nennen oder streunende Kinder und Jugendliche oder Fortgelaufene und Unbehauste, unwillentlich oder auf eigenen Wunsch. Als Chor-Meute hat Einar Schleef die Anhänger von Take That auf dem Berliner Gendarmenmarkt beschrieben: Vor dem Hotel ihrer Idole scharen sie sich zusammen, lassen Musik laufen, beweinen das Ausscheiden eines Bandmitglieds und das drohende Auseinanderbrechen der Band; Erwachsene „glotzen auf die heulende Masse, den ‚Dreck‘, wie sie die Anhänger bezeichnen“131. Eine Chor-Meute hat am ehesten Ähnlichkeit mit Geflüchteten und Schutzsuchenden, die aufgebrochen sind und deren Aufbruch erzwungen wurde: reine Teilung der Erschöpfungen und der Wege.

Zum Begriff Droge

Schleef hat den Begriff Droge als dritten Term den Namen der beiden bedeutendsten Protagonisten deutscher Dramen- und Operngeschichte zugesellt. Droge steht hier für Chor. In der Kombination mit Faust und Parsifal geht es Schleef um die deutsche Variante der Chorvergessenheit. Er zeichnet folgendes Bild: Goethe und Wagner haben versucht, an die Errungenschaften Shakespeares anzuknüpfen, aber keine Neubelebung des Chors erwogen. Zu „tief im antiken Gips“132 der deutschen Klassik steckend, die ein abendländisches, helles, heroisches und „athletisches“ (Winckelmann) Griechenlandbild pflegte, scheint eine Erneuerung des Chors obsolet und gestrig und wird bewusst ausgeschlagen. Wenn sich aber der Chor bei Goethe und Wagner aus diesen Gründen „nicht ergibt“, wo finden wir ihn dann? Schleef stellt dem hehren „Zwillingspaar“ Faust und Parsifal die „stammelnde, stotternde, vertierte Masse“ in Gerhart Hauptmanns Die Weber (1892) gegenüber. Schleef ist der Auffassung, dass diese Masse das „Ergebnis“ von Faust und Parsifal ist:

„ihr Operationsfeld, ihr Ausschuss, ihr Unschlitt“133. Damit zeichnet Schleef das Verhältnis von Protagonisten und Chor, ausgehend von der deutschen Klassik, als das einer wechselseitigen Verschließung. Aber auch in dieser wirkt noch die unverbrüchliche Abhängigkeit der zwei Körper des Theaters voneinander nach. Während Faust und Parsifal in ausgewählten Szenarien ihre Drogen (Wein, Gralsblut) genießen und dabei zu schier überlebensgroßen Protagonisten heranwachsen, verhärtet sich der Chor bei Hauptmann im Zusammenschluss nach innen. Er rottet sich zusammen, erscheint elend, krank und „vertiert“ in seinem Umgang mit dem Drogenkonsum (Branntwein, Schnaps), aber auch berauscht und bereit zum Aufstand und zur Revolte. Das Doppelgesicht der Droge spielt einerseits zwischen Exzentrizität und wechselseitiger Öffnung, andererseits zwischen Abhängigkeit und Suchteinsamkeit. Die Droge teilt sich in beflügelnde, individualisierende und in schäbige, zerstörende Aspekte. Wir finden ihre Aspekte zwischen den Protagonisten Faust und Parsifal und dem Weber-Chor verteilt, vermischt und zugleich auseinandergerissen. Die Droge teilt sich in einer verheerende Weise auf, wenn die Zerreißspannung zwischen den beiden Körpern des Theaters, zwischen Protagonist und Chor, zu stark wird. Diesen Punkt sieht Schleef in der deutschen Klassik erreicht, hält ihn jedoch auf keinen Fall für endgültig.

Erscheinen die Merkmale von Chorbildungen nicht zu speziell und zu vielfältig, um sie unter den Begriff der Droge zu subsumieren? Schleef erweitert den Begriff der Droge und löst ihn aus seiner einseitigen Verklammerung mit dem Rausch oder der eklatanten Drogeneinnahme (die gleichwohl an erster Stelle gemeint bleiben). Am Beispiel von Faust zählt Schleef unter die Drogen in einem abstrakteren und erweiterten Sinn auch die „Sterbedroge“ (Studierzimmer), die „Adorationsdroge“ (Osterspaziergang, Auerbachs Keller), die „Potenzdroge“ und die „Jugenddroge“ (Hexenküche) oder die „Naturdroge“ (Wald und Höhle) auf. Mit diesen Begriffen werden libidinöse Energien angesprochen, die zwischen psychischen und triebhaften Ereignissen pendeln, sofern diese nicht auf ein physisches oder gar genitales Verhalten verkürzt, sondern als Lust und Energie begriffen werden, die alles besetzen kann.

Dieser erweiterte Drogenbegriff mit seinen libidinösen, energetischen Dimensionen erinnert an ältere Traditionen der Physiologie der Lüste. In Die Sorge um sich stellt Foucault sie als den ersten Gegenstand jener Pneumatischen Ärzteschulen dar, die er dort anführt. Ein ausführliches Portrait widmet er den Auffassungen des griechischen Arztes Galen, der im zweiten nachchristlichen Jahrhundert in Rom wirkte. Die ganzheitliche Heilkunde Galens galt Körpersäften, Temperaturen, Seelenbewegungen, Nervenerregungen, Kontraktionen oder Schwellungen von Muskeln, Organen etc. Er nahm zwischen ihnen ein Spiel komplexer und konstanter Wechselbeziehungen an, da die Wirkkräfte im Körper „wie in einem Chore“ (Galen) verbunden seien.134 Der Gesamthaushalt, der die Einheit des Körper gewährleistet, wurde im pneũma angenommen: als Geist, Hauch und Lebensatem, die in den Gehirnkammern und ihren Kanälen lokalisiert wurden. Galen entwickelte ein pharmakotherapeutisches System, das ältere Systeme variierte und das für sehr lange Zeit, bis zu Paracelsus im 16. Jahrhundert, seine Gültigkeit bewahrte. Hier, bei Galen und seinem heilkundlichen Begriff des Pharmakons von gr. phármakon für Gift, Droge, Heilmittel oder Arznei, erkennen wir den Begriff der Droge wieder, den wir mit dem Chor in Beziehung setzen können. Pharmaka werden gebraucht, um die angemessene Mischung der Körpersäfte günstig zu beeinflussen, um den Lebensatem, wie er es braucht, fließen zu lassen und um das Bündel der Beziehungen, die die Elemente in einem Körper unterhalten, zu schmieren. Sie ähneln den aphrodísia in dem Punkt, dass sie, wie alles im Bereich der Lüste, von einer tiefen Zweiwertigkeit durchzogen werden. Die Frage, die Galen diskutierte, ist bis auf den heutigen Tag dieselbe geblieben: „Sind sie gut, sind sie schlecht?“ (148) Für Galen sind die Lüste geschlechtlicher Körper keine „bloße Zusatzprämie“ (143), sondern machen den Kern eines demiurgischen Werks aus: Sie werden eingespannt in eine ganze „Kosmologie der Fortpflanzung“ (147), der eine Negativität der Lust (in ihren pathologischen Formen) korrespondiert.

In den ausufernden Analysen, die Galens Ärzteschule der phármakon-Therapeutik widmet, erkennen wir die zentralen Koordinaten wieder, die auch für die Chor-Bildung von Bedeutung sind. Galen platziert die pharmazeutischen Künste in großer Nähe zur geschlechtlichen Zeugung und Fortsetzung und situiert diese wiederum inmitten der Beziehungen zwischen Unsterblichkeit und Vergänglichkeit. (Da Menschen vergänglich sind, haben sie nur über ihre Reproduktion Anteil an einer Art gemeinsamer Unsterblichkeit, die sich in Abfolgen organisiert.) Gehen wir innerhalb derselben Koordinaten auf den Chor zu, dann zielen die phármakon-Künste auf etwas anstelle von sexueller Reproduktion und anstelle von Abfolgen. Die Droge bewirkt einen unter der Haut und auf Zeit geteilten, gemeinsamen Körper: den Chor-Körper. Die dosierte Droge stimuliert Lüste, die sich nicht-intentional über die einzelnen ausbreiten und stiftet auf diese Weise eine temporäre Verwandtschaft der einzelnen, ganz verschiedenen und einander unähnlichen Körper. Das Gemeinsame eines Chors kommt weder mit irgendwelchen festlichen Eskapaden überein noch mit einem geteilten Anlass. Schleef hält apodiktisch fest: „Drogeneinnahme und Chor-Bildung gehören zusammen, bedingen einander.“135 Der Chor ist in seinen unbestrittenen stimmlichen und rhythmischen Teilungen (Gesang, Tanz) immer ein uneiniger Körper. Als Heilmittel lindert die Droge die Verschlossenheit der Körper gegeneinander. Droge bedeutet eine Zusammenhangsform, die anstelle sexueller Reproduktion und Abfolgen durch Ansteckung zustande kommt.136 Als Heilmittel fördert das Pharmakon eine Anziehungsbewegung, die sich ausbreitet, und löst die Körper in ihrer Nachbarschaft zueinander. Das Pharmakon als Gift hingegen leitet in den zerstörerischen Genuss über und bewirkt im Extremfall eine Verschweißung der Elemente, die ihres Lebensatems beraubt werden. In jedem Fall handelt es sich um Verknüpfungen, die „wie in einem Chore“ (Galen) unterhalb signifikanter Sichtbarkeiten oder Sagbarkeiten spielen, die aber deswegen nicht ohne Ausdruck bleiben und nicht ohne Lust. Denn „dass die Lust etwas Gutes sei“, war für Galen eine dóxa.137 Dass die Lust möglicher Zügellosigkeit wegen zu meiden sei, sah seine medizinische Ethik nicht vor.

Resonanzräume, Netze, Vielstimmigkeit

Im Folgenden geht es um den Versuch einer Beschreibung des drogierten Chor-Körpers: Unter der Haut geteilte Körper geben das Bild keines Körpers heraus und unterlaufen auch das Bild vieler Körper, die sich hier oder da aufhalten. Chor-Körper weben raumzeitliche Netze, in denen alle beteiligten Kräfte sich auf einer Ebene befinden und sich modulieren. Ihre aufgespannten Netze nehmen jeweils singuläre Dynamiken an, die sich aneinander sättigen und wechselweise variieren. Die Netze bilden die Haut ihrer Chor-Körper. Sie lassen sich aber auch selbst als Körper beschreiben aus dem einfachen Grund, weil Körper niemals vollständig erfasst werden. Der ‚ganze Körper‘ ist das Produkt einer Trägheit unserer Fantasie, die am Bild klebt. Es gibt ihn nicht.

Im Chor-Körper gehen einzelne Äußerungen, Impulse und Affekte mit anderen ebensolchen Äußerungen eigenständige, bewegliche Verhältnisse ein. Sie verflechten sich zu einer heterogenen Ausdrucksmenge und sind nur als verflochtene vorhanden. Die Gemengelage dieser Ausdrücke spielt außen und verhält sich gegenüber den punktuellen Impulsen und Affekten exzentrisch. Punktuelle Äußerungen emanzipieren sich und werden im Kontakt untereinander tendenziell selbstständig. Sie können nicht mehr zurückverfolgt oder Einzelnen zugerechnet werden, die sie verursachen. Ihre expressiven Eigenschaften bestehen aus stimmlichen Färbungen, Tönen, Juchzern, Schreien, aktiven oder passiven Rhythmen, Gesängen, Atmosphären, Veränderungen der Distanzen. Diese expressiven Eigenschaften sind weit davon entfernt, sich selbst zu vereinheitlichen oder zu harmonisieren. Vielmehr haben sie die Tendenz zu einer in sich selbst variierenden Eigenbewegung. Als Ausdrucksmaterialien gehen sie untereinander interne Beziehungen ein. Der Einzelne wird zum Teil dieses Ausdrucksgeschehens, befindet sich zu diesem aber nicht mehr im Verhältnis einer Ausdrucksursache. So wird der Einzelne „überrascht und überwältigt. Sein Lachen, all seine Äußerungen stoßen ihm zu wie Geschehnisse von außen“138.

Die Autonomie dieses Äußerungsgeflechts, das überraschend und überwältigend erfahren werden kann, wirkt wie eine Droge und entwickelt seine eigene Attraktion. Es fördert die Äußerung von Impulsen in der Art, dass der Abstand zwischen Impuls und Äußerung gegen Null tendiert. Da Impulse dem inneren Milieu von Körpern zugehören, bedarf es in der Regel einer Vorbereitung, wenn sie sich in einer individuellen Äußerung mit einem Ausdruck verbinden sollen. In den Schauspielschulen, die sich dem Verhältnis von Impuls und Ausdruck widmen, handelt es sich dabei üblicherweise um innere, mentale Motivationen oder um antrainierte physiologische Vorbereitungen, die als geringfügige Verzögerung dem Ausdruck vorangehen.139 In der chorischen Äußerung tritt ein Ausdruck jedoch nicht gesondert auf. Vielmehr tritt er als ein nicht genau lokalisierbarer und variabler Zusatz zu einer bestehenden Ausdrucksmenge hinzu. Er färbt, verstärkt, punktiert, akzentuiert, indem er sich in ein gleichzeitiges Netz heterogener Äußerungen einlässt. Dabei hat dieses Netz die Kraft, eine Äußerung zu stimulieren, nicht jedoch, sie zu erzwingen. Die jeweilige Äußerung ist von diesem Netz nicht einseitig abhängig, sondern geht seine Abhängigkeit allererst ein, tut dies jedoch auf leichtere und auch erleichternde Weise. Denn das beziehungsgesättigte Äußerungsgeflecht weist eine gewisse Strukturähnlichkeit mit dem inneren Milieu der Impulse auf. Es stimuliert, überlagert, bewegt, motiviert sie zur punktuellen Äußerung, die nicht unter den Bedingungen eines individualisierten Ausdrucks steht. Das chorische Äußerungsgeflecht zeichnet sich durch eine magnetische Unruhe aus, durch ein Pulsieren, bei dem sowohl an den Herzschlag als auch an das französische Wort für die streunende, nicht zielgerichtete Triebregung, den l‘émoi pulsionnel, zu denken ist.

Vielleicht lässt sich diese Autonomie des chorischen Äußerungsgeflechts am besten als ein temporär geteiltes Außer-sich-Sein bezeichnen. Aristoteles beschreibt diese Form im achten Buch seiner Politik als Wirkung, die von Klängen ausgehen, die den Leuten unter die Haut fahren und sie aus sich herausgehen lassen. Aristoteles diskutiert an dieser Stelle die Extreme eines bacchantischen Außer-sich-Seins als Wirkung von begeisternden, „enthusiastischen Liedern“140, die in der phrygischen Tonart stehen und besonders „orgiastisch“ (388) wirken, wenn sie von Flöten begleitet würden. Die Macht der Musik wird von Aristoteles wie von anderen antiken Autoren darin gesehen, dass sie innere Bewegungen auszulösen vermag. Das gelte zwar für jede Musik, doch in den enthusiastischen Liedern komme den Klängen eine besondere, gesteigerte Wirkung zu, indem sie nämlich auf „Körper unter dem Einfluss der Affekte“ (380) treffen würden. Dennoch seien diese Lieder, mit einem ausdrücklichen Verweis auf seine Poetik, insbesondere um der „Reinigung“ (386) willen wertvoll. Aristoteles unterscheidet im Publikum von Wettkämpfen zwischen dem „freien und gebildeten Besucher“ und dem „Niedriggemeinen, der sich aus niedrigen Handwerkern, Lohnarbeitern und sonstigen Leuten dieses Schlages rekrutiert“ (387). Durch die von den enthusiastischen Liedern ausgelöste „innere Bewegung sind auch gewisse Menschen zu fesseln“ (387), also solche wie die letztgenannten „Niedriggemeinen“. „Der Affekt nämlich“, schreibt Aristoteles, „der bei einigen Seelen mächtig eintritt, dieser Affekt ist ja in allen Seelen vorhanden, der Unterschied ergibt sich durch das Mehr und durch das Weniger, wie etwa Mitleid und Furcht und weiterhin noch Begeisterung.“ (387) Dieses Mehr oder Weniger – die einen, die schon für Affektlagen der Tragödie anfällig seien, die anderen, die sich erst unter dem massiven Einfluss begeisternder Lieder berührt zeigen – macht jedoch in Bezug auf die Katharsis nicht den geringsten Unterschied: „ganz dasselbe machen die mit […] und in allen entwickelt sich eine gewisse Reinigung, und sie fühlen eine angenehme Erleichterung“ (387).

Das sich in bacchantischem Zustand entfaltende Außer-sich-Sein kennt keinen besonderen Zugang und keinen Ausschluss. Es scheint mir jedoch nicht unwesentlich, dass dieser exzentrische Zustand sehr viele unterschiedliche Intensitätsgrade und Ausdehnungen aufweisen kann. Er kann die Form tagelanger dionysischer Exzesse annehmen oder, um im Bereich der Musikkultur zu bleiben, die Form nächtelanger Techno-Beben. Er kennt die impulsive, rauschhafte Ausschreitung, den „orgiastischen Taumel“ (388). In diesen Formen ist der Chor zuerst Resonanzkörper von Klangereignissen und infolgedessen Aufspannung ihrer Resonanz, ihres Ortes, der selbst die Eigenschaften des Musikalischen annimmt.

Schließlich kann es sich aber auch um die fabelhafte Musik von Stimmen handeln, die von Musikinstrumenten und ihrem instrumentalen Gebrauch unabhängig werden. Das stimmlich-sprachliche Ineinander-Gleiten weist extrem hohe Berührungsqualitäten und Intensitäten auf: die Polyphonie im Parlando, das seine Asynchronien nicht bereinigen kann, die permanent variierenden Färbungen der Stimmen und ihr zirkulierender Atem. Und schließlich gibt es zwischen dem stampfenden, berauschten Resonanzkörper des Chors und den Texturen seiner Vielstimmigkeit auch noch unendlich viele Übergänge und Überlagerungen.

Der chorische Resonanzraum oder die chorische Vielstimmigkeit laufen über Körper, über ihre nicht komprimierbaren Volumina und ihre flüchtigen, variablen extensiven Verbindungen. Man kann nicht sagen, dass Körper und Stimmen zwei Ebenen bilden, die sich ergänzend zueinander verhalten und sich im jeweils anderen wieder rückbinden. Das spezifische Außer-sich-Sein tanzender Körper oder der exzentrischen Vielstimmigkeit sind Bewegungen, die sich in vorübergehenden Sequenzen selbst fassen. Diese sind unterschiedlich im Grad ihrer Intensitäten und ihrer Leidenschaften. Kein Koordinatensystem drängt auf Stabilisierung, Vereinheitlichung oder Unterordnung. Diese Intensitäten werden lediglich geladen, akkumuliert und wieder entladen. Da es sich jedoch um Leidenschaften handelt und nicht um Paketpost, ist dieser Vorgang sehr viel erregender, als es diese dürre Beschreibung anzeigt. Diesseits von Stabilisierung, Organisation, Entwicklung und Plan und ebenso diesseits eines eindeutigen, saugenden oder verzehrenden Verlangens handelt der Chor-Körper, um es mit einem glücklichen Begriff von Lacan zu sagen, mit einer ganzen „Topologie der Lust“141. Das Verschiebende, Relationale und Zwischenräumliche der Topologie ernst nehmend, ist die Lust hier nicht anders denn als in zahllose Partikel zerstreut denkbar. Als Partikel, die unverbunden und versprengt, diesseits eines strengen sexuellen Begehrens in einer Zone transkategorialer Nachbarschaften pulsieren.

Ein Kraftfeld

Der Streifzug durch die antiken Konstellationen hat zahlreiche Merkmale und Besonderheiten des Chors im Detail aufgespürt, die im Theaterfeld immer wieder in veränderter Form auftauchen. Sie lassen sich drei Hauptthemen unterordnen:

Erstens. Alle Merkmale des Chors gehen aus dem Faktum hervor, dass der Chor im fünften Jahrhundert der Stadtgründungen von woanders herkommt. Aus einer anderen, nicht restlos erschließbaren Zeit ragt er über eine Schwelle in die neue hinein. Er geht aber nicht einfach in die Städte ein und verliert sich, sondern nimmt inmitten der Polis und ihrer Festkultur Platz. Dieses staunenswerte Faktum spricht für das Gewicht der Erbschaften und Transporte des Chors. Sie erfahren in den jungen Poleis hohe Anerkennung und Aufmerksamkeit, ebenso in den Werken der Tragiker. Aus vormals geheiligten Landschaften in die Polis: Der Chor ist keine Erfindung des Theaters. Er läuft dem Theater auch nicht zu, sondern umgekehrt: Dem Theater gelingt die Herausbildung des Protagonisten nur mit dem Chor. Der Chor als die Figur einer vielursprünglichem, einst kultisch-festlichen Versammlung beginnt. Die chorische Konstellation ist schon da und fragt nach den Protagonisten, die als Antwortende (hypokrites) hervortreten. Damit ist eine Struktur beschrieben: Die Konstellation als solche ist vorgängig, ihr obliegt die Kraft zur Konstellierung, die den Protagonisten einfasst, ihm eine Fassung und einen Ort (tópos) verleiht. Asymmetrisch zueinander gefügt, bilden Protagonist und Chor eine Doppelstruktur: die zwei Körper des europäischen Theaters. Dabei haben sich die Traditionen der Repräsentation auf den Protagonisten fokussiert, der ihnen als der erste Körper des Theaters galt, an dem sie Fragen des Menschen aufwarfen und abhandelten. Doch Theater lebt von seinem anderen Körper (wie die Geschlechter vom anderen Geschlecht, Beauvoir). Nur der vermeintlich zweite Körper ist fähig, sich immer wieder neu mit dem Außen der Repräsentation und einer unabsehbaren Pluralität ins Verhältnis zu setzen. Er bildet eine Art Vitalitätsreserve, mit der es sich so verhält wie in der antiken Konstellation, in der mit dem Chor das Außen „in den endlichen Rahmen der Polis einzieht und ihre Einheit als Frage öffnet“142.

Alle Merkmale des Chors kommen aus dieser antiken Konstellation als dem Mal einer geschichtlichen Verschiebung. Ein Chor ist schon da. Er beginnt jede Geschichte. Er wird für die Teilnahme eines Dichters am dramatischen Wettkampf (agn) und für die Aufführung vorausgesetzt. Entsprechend gehorchen Chor und Protagonist, die einander asymmetrisch verbunden sind, unterschiedlichen Zeitlichkeiten. Während die Zeit des Protagonisten die Gegenwart ist, in die er eintritt, um auf sein Ende zuzulaufen (Ablaufzeit des Chronos), eröffnet der Chor unendliche Begegnungen von Vergangenheit und Zukunft (in der Zeit des Äons). Der Chor der Standlieder ist ein anderer als der Chor in den Epeisodien. In den Standliedern artikuliert der Chor den in Weite und Tiefe ganz unterschiedlich gestaffelten Horizont der jeweiligen Tragödie. Die Standlieder werden dem Chor von der Dichtung in den Mund gelegt. Sie dehnen sich zeitlich weit zurück und vor und berühren ein älteres Erdwissen, das ein Leben aller von der Erde getragenen Wesen betrifft. Trotz solcher Erinnerungsinhalte ist auch der Chor der Standlieder kein Kollektiv und, mit einem Wort von Nietzsche, „keine Masse, nur ein ungeheures, mit übernatürlicher Lunge begabtes Einzelwesen“, das von „mehreren Personen“ gegeben wird.143 In den Epeisodien sehen wir den Chor als Leute, die mitgehen, mitempfinden, mitreden. Sie zeigen uns den Chor als ein Phänomen, das sich mitteilt, ausdehnt, verteilt und verläuft. In diesen Merkmalen lebt ein nomadischer Untergrund nach, der sich jeder unifizierenden Maske widersetzt (auch derjenigen des großen Einzelnen). Insgesamt betrachtet, bildet der Chor die unmögliche Figur, die ständig zerfällt (wenn Stück und Anlass vorüber sind) und sich (für das nächste Stück, den Anlass) ständig anders neu zusammensetzt. Aus diesen Grund lässt sich ein Chor nicht repräsentieren oder symbolisieren. Er hat keinen gemeinsamen Nenner, kein Rückgrat. Er kann sich gegen seine Indienstnahmen und Institutionalisierungen nicht wehren, nur dass er dabei seine Klangfarbe und seine Temperatur vollständig verliert und unkenntlich wird.

Zweitens. Die Herausbildung von Chor und Protagonist ist auf das Engste verflochten mit einer Problematik der Genealogie, die sich von einem männlichen Ursprung her zählt. Genealogie und Protagonist verbünden sich im Bann der Poleis: Die Städtegründung zielt auf ein unsterbliches Werk, was aber im vergänglichen Material, in dem sie arbeitet, nicht möglich ist. Städtegründer benötigen daher ein Verfahren (téchne), diese grundlegende Schwierigkeit zu überwinden. Das Problem von Kadmos: Das Werk der Gründung einer Stadt würde verlorengehen, wenn Städtegründer nicht Wege fänden, der Stadt über den Tod ihrer ersten Bürger hinaus Bestand zu geben. Wenn es darum geht, das Werk der Gründung abzusichern, kommt die geschlechtliche Fortpflanzung ins Spiel: Vermehrung durch Filiation. Städtegründung und genealogischer Imperativ gehen Hand in Hand. Sie kanalisieren die Aneignung von Sterben und Leben in der Aufforderung, Nachkommen zu zeugen. Aus der bloßen sexuellen Reproduktion sollen Linien und Abfolgen werden. Es gibt nur einen Ausgang und der geht nach vorne und rein in die Geschichte, die mit Ursprungsbehauptungen hausieren geht.

Die Zeugung als männliches Projekt bildet sich in den agrarischen Kulturen der Sesshaftigkeit heraus. Seit der Neolithischen Revolution (zwischen 12000 und 8000 v. Chr., je nach Weltregion) setzen sich agrarische neben nomadischen Kulturen immer stärker durch und verdrängen die letzteren (chóra, das Weideland, das der Wirtschaft in umgrenzten Landbesitzen unterliegt). In diesen nicht zu datierenden Verschiebungen werden sehr alte und verbreitete Vorstellungen von einer uterinen Herkunft des Lebens durch die Entdeckung der Fruchtbarkeit des männlichen Samens abgelöst. Das Gewicht verlagert sich allmählich von der Geburtlichkeit auf die Zeugung.144 Zeugung wird durchgängig mit vegetativen und agrarischen Metaphern belegt: pflanzen (phyteúo), säen, Samen ausstreuen, in die Furche pflanzen etc. Hinzu kommt das Wachstumsschema des Baumes, das zum überragenden Modell für die Genealogie wird und mit ihrer hierarchischen Struktur verschmilzt: Stammbäume gründen, Abstammungslinien herstellen, Wurzeln suchen, Verzweigungen zurückverfolgen bis zu jenem Samenkorn (sperma), nach dem zum Beispiel Ödipus fragt. Unschwer lässt sich der Tribut an die Agrarlogistik erkennen. Zeugung als Männersache wird zur entscheidenden Eintrittskarte für den Mann in die Geschichte, die ihren Zuschnitt als Erzählung ablegt und ab jetzt gemacht wird.

Demgegenüber gemahnt der Chor an vormalige Bezüge, vermischte und transhumane Herkünfte zuhauf. Dionysos und Artemis, denen Chöre in archaischer Zeit ihre Tänze gewidmet haben, stehen völlig außerhalb aller agrarlogistischen Bezüge. Das Werden und Vergehen des Dionysos meint ein beliebiges Leben; es konterkariert die Wachstumslogik von Produktion und Vermehrung auf das Schärfste. Ebenso der Chor. Aus dem Gefolge des Dionysos, der stets nur (wieder)kommt, erbt der Chor seine Begabung für das Kommende und ist empfänglich für das Herauskommen und Anfangen, an dem er teilhat. Ohne die Einheit eines Vorfahren ist ein Chor mit der Geburtlichkeit von Lebewesen liiert und sympathisiert zutiefst mit den schon geborenen Wesen. Die chorische Öffnung für das Kommende konterkariert die Logik männlicher Zeugung, die nicht das vorhandene, sondern neues Leben will und im Abkömmling die Zukunft wähnt.

Mit dem Chor lässt sich denken, dass sich der inklusive Gattungsbegriff mit seiner Zuspitzung auf die ödipale Formel einer Abstammung von Vater und Mutter als Spezies-trouble herausstellen wird. Der Chor als sedimentiertes Gedächtnis zeigt, was in diesen gewaltigen Umbrüchen an der Schwelle zum fünften Jahrhundert der Erinnerung noch zugänglich war und dass diese Umbrüche von einem Wissen begleitet wurden, gegen das sich die dominante Linie der Entwicklung europäischer Souveränität nie vollständig hat abriegeln können. Die Kosten für die Innenraumbildungen der Städte, ihre Außenvergessenheit, für Genealogie, Filiation und die Gattungsvergessenheit von Protagonisten haben sich nicht nur immer wieder gemeldet, sondern sind heute zu einer in jeder Hinsicht explosiven Summe angewachsen. „Man vergisst immer, dass die griechische Demokratie“, so Jean-Luc Godard in einem Gespräch 2011, „im gleichen Moment erfunden wurde wie die Tragödie.“145

Drittens. Der Chor exponiert den Körper als soziales Medium. Darunter ist ein Körper zu verstehen, der alles sein kann, was er berührt und von dem er berührt wird. Ein vollständig isolierter Einzelkörper ist nicht denkbar. Der Chor exponiert Körper, die sich austauschen und abhängig sind von umweltlichen Gefügen, menschlichen und nicht-menschlichen. Chor-Körper sind Ausstellung und Teilnahme in einem, um diese beiden zentralen Begriffe Tataris wiederaufzunehmen. Der einzelne Körper lässt sich nur im Bild (der Tafelmalerei) isolieren. Seine Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit stellen jedoch nicht imaginäre, sondern soziale Modalitäten dar. Sie treten nur unter mehreren Personen, in der Ansammlung von Körpern und in ihrer Versammlung hervor.146 Lebendige Körper sind bedürftige und in ihrer Wechselseitigkeit abhängige Körper. Ihre Abhängigkeit ist das Markenzeichen ihrer Soziabilität, die als absolute Fähigkeit und Notwendigkeit in einem gelten muss. Die Kontakte soziabler Körper durchzieht alle Register des Gesellschaftlichen und Lebendigen: Soziable Körper gehen Beziehungen ein, tauschen sich aus, ahmen einander nach, verwunden einander, stecken einander an, infizieren einander, töten einander, werden zum Wirtstier für Viren und Bakterien und töten andere Kreaturen. Keines dieser Register ist vom anderen zu trennen. Bei Kleist tritt mit der absoluten Notwendigkeit das Tödliche der Soziabilität in den Vordergrund: Die Tatsache, dass Beziehungen – nicht abstrakt, sondern konkret und in ihrer Allgemeinheit – tödlich sind.

Die Bezeichnungen des Chor-Körpers als Zone von Nachbarschaften, Netzen, Milieus oder Geflechten usw. sind alle zutreffend. Chor-Körper stehen im Offenen, das weder in der Zeit (als Zukunft) noch im Raum (als Kolonisation) vor ihnen liegt. Chor-Körper sind ohne koordinierte Orientierung (das unterscheidet sie vom Kollektiv). Das Offenstehende von Chor-Körpern hängt an der einfachen Tatsache, dass es unmöglich ist, Leben ohne einen permanenten Flow von Austausch oder Wiederholung zu erhalten, der sich außerlogisch vollzieht und der nicht regiert werden kann. Im Flow tritt die absolute Fähigkeit der Soziabilität als vieldimensionierte Teilnahme in den Vordergrund. Sie stellt sich als solche aus und beginnt sogleich, sich in ihrem Durcheinander-Hindurch zu modulieren.

Es ist ihrer bloßen Pluralität geschuldet, dass soziable Körper chorisch verfasst sind (als socius, der mitgeht) und Chor-Körper bilden, die als solche jeweils situiert sind, sodass jederzeit andere Umgebungen und raumzeitliche Netze emergieren (erweiterter Chorbegriff). Chor-Körper bilden Kraftfelder aus, die von der Dichte ihrer Teile und Temperaturen abhängen, aber auch von der relativen Stärke anderer wirkender Felder. (Die Physik kennt elektrische, magnetische und gravitative Felder oder Kombinationen davon.) Jedes Kraftfeld kennt stärkere oder schwächere ‚Lösungen‘ dieser Faktoren, die sich in ihrer Unterschiedlichkeit affizieren. Sie kommunizieren ohne äußere Einwirkung, indem sie über durchlässige Grenzen hinweg Bewegungsflüsse bilden. Ihre Dynamik ähnelt nicht von ungefähr jenen „Strahlungen“, die der Soziologe Gabriel Tarde unter die Gesetze der Nachahmung zählt, mit denen dichtere Konzentrationen auf geringeren wirken und einen „Nachahmungsfluss“ in Gang setzen, der nach Ausgleich strebt.147 Die mikro-mimetischen Prozesse im Chor-Körper sind ähnlich vorzustellen: Flüsse, Impulse und Affekte, ausgelöst durch unterschiedliche Konzentrationen und zufällige Eigenbewegungen der Teilchen. Diese Transporte machen das Kraftfeld eines Chors aus und entsprechen dem Begriff der Droge, mit dem Schleef die Beziehungsweise des Chors bezeichnet. Jede Droge löst. Sie unterläuft Fixierungen, Normierungen, öffentliche politische Muster und spielt dennoch nicht einfach jenseits davon. Die osmotischen Prozesse von Chor-Körpern wären daher als transpolitische zu bezeichnen, die in sich selbst bedingt sind. Sie lösen sich auf, wenn die Dichte der Teile geringer wird, die Temperaturen unter einen kritischen Punkt sinken und die Transportprozesse stocken. Das Feld der mikro-mimetischen Prozesse zerfällt an irgendeinem Punkt zwischen übermäßiger und ausbleibender Verbindung. Es kann sein, heißt es bei Tarde ebenda, dass der Nachahmungsfluss seine Ufer hat.


107 Zu diesem Term genauer vgl. Ulrike Haß: „Die Zwei Körper des Theaters: Protagonist und Chor“, in: Marita Tatari (Hg.), Orte des Unermesslichen. Theater nach der Geschichtsteleologie, Zürich/Berlin 2014, 139–159.

108 August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Erster Teil. Fünfte Vorlesung, in ders.: Kritische Schriften und Briefe, Bd. 5, hg. von Edgar Lohner, Stuttgart 1966, 61–71, hier 65.

109 Walther Kranz, Stasimon. Untersuchungen zu Form und Gestalt der griechischen Tragödie [1933], Reprint Hildesheim 1988, 171 f.

110 Vgl. Giorgio Agamben: Die Sprache und der Tod. Ein Seminar über den Ort der Negativität [1982], aus dem Italienischen von Andreas Hiepko. Frankfurt a. M. 2007, 137-160.

111 Zum Heraklit-Fragment vgl. Fußnote 25.

112 Siehe dieses Buch, 269 ff.

113 Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, aus dem Französischen von Holde Lhoest-Offermann, Frankfurt a. M. 1985, 123 ff.

114 Christiane Sourvinou-Inwood bespricht diese Horizontbildungen mit den Begriffen von „zooming effect“ und „distancing effect“. Vgl. dies., „Assumptions and the Creating of Meaning in Sophocles‘ Antigone“, in: Journal of Hellenic Studies 109/1989, 134–148.

115 Handlung bezieht sich auf die tragische Komposition und nicht auf Charaktere, wie Aristoteles zugespitzt sagt: Es „könnte ohne Handlung keine Tragödie zustande kommen, wohl aber ohne Charaktere“ (Poetik, 21). Dies erscheint Manfred Fuhrmann derart widersinnig, dass er in seinem Nachwort zur Poetik eingreift: „Der Ausdruck ‚ohne Charaktere‘ darf […] nicht im Wortsinne genommen werden.“, ebd., 110.

116 Lacan hält die Funktion des „emotionalen Kommentars“ für „die größte Überlebenschance der antiken Tragödie“. Vgl.: Jacques Lacan: „Das Wesen der Tragödie. Ein Kommentar zur Antigone des Sophokles“, in: ders., Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar Buch VII, bearbeitet von Jacques A. Miller und übersetzt von Norbert Haas, Weinheim 1996, 291–345, hier 303.

117 Vgl. Jürgen Rode: „Ob im szenischen Spiel der Charakter des Chores stark ausgeprägt ist oder nicht, ob er stark oder schwach beteiligt ist: die Form des Chorliedes wird davon nicht beeinflußt.“ Jürgen Rode, „Das Chorlied“, in: Walter Jens (Hg.), Die Bauformen der griechischen Tragödie, München 1971, 85–115, hier 115.

118 Was von so unterschiedlichen Kommentatoren wie Kott oder Lacan bemerkt worden ist. Vgl. Jan Kott, „Der schwarze Sophokles oder die Zirkulation der Gifte“, in: ders., Gott–Essen, Berlin 1991, 101–126, bes. 119 f. Zur extremen Einsamkeit der sophokleischen Protagonisten, die in der Tragödie stets „am-Endeder-Bahn“ stehen, vgl. Lacan, „Das Wesen der Tragödie“, ebd., 326 f.

119 Kirsch, Chor-Denken, ebd., 100.

120 Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, ebd., 523.

121 Jean-Pierre Vernant, Tod in den Augen, Figuren des Anderen im griechischen Altertum: Artemis und Gorgo, aus dem Französischen von Max Looser, Frankfurt a. M. 1988, 20.

122 Ebd., 21. Die nachfolgenden Zitate bis zur nächsten Fußnote ebd.

123 Mit der Chor-Verkümmerung sind erhebliche ‚Kollateralschäden‘ verbunden, die in Ion mit einem lügenden Orakel beginnen. Vgl. die Analyse von Ion in: Kirsch, Chor-Denken, ebd., 348–379, bes. „Touristenchöre“, 369-375. Kirsch, Martin Hose und Siegfried Melchinger vergleichen euripideische Chöre mit Touristen (Nachweise ebd.).

124 Thomas Paulsen zählte den Choranteil am jeweiligen Gesamtumfang der Verse in Prozent: Aischylos weist die umfangreichsten Chorteile auf (Die Hiketiden: 60 Prozent, Sieben gegen Theben: 49 Prozent), der Anteil verringert sich bei Sophokles (Antigone: 27 Prozent, Ödipus: 21 Prozent) und noch einmal bei Euripides: Die Bakchen bildet eine Ausnahme (29 Prozent), Iphigenie mit einer langen Parodos (23 Prozent), Orest (11 Prozent). Vgl.: Thomas Paulsen: „Die Funktionen des Chores in der Attischen Tragödie“, in: Gerhard Binder, Bernd Effe (Hg.), Das antike Theater: Aspekte seiner Geschickte, Rezeption und Aktualität, Trier 1998, 69–92.

125 Richard Wagner, „Oper und Drama“, in: ders., Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, Bd. 7, hg. von Dieter Borchmeyer, Frankfurt a. M. 1983, 8–370, hier 64.

126 Bertolt Brecht, „Fatzer“, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, hg. von Werner Hecht/Jan Knopf/Werner Mittenzwei/Klaus-Detlef Müller, Bd. 10, Berlin/Weimar/Frankfurt a. M. 1997, 387–529, 477.

127 Gilbert Simondon, der für die Anerkennung eines Verbunds aus Menschen, offenen technischen Maschinen und Natur plädiert, in: ders., Die Existenzweise technischer Objekte, Übersetzung von Michael Cuntz, Zürich/Berlin 2012.

128 Jean-Luc Nancy, Corpus, übersetzt von Nils Hodyas und Timo Obergöker, Zürich/ Berlin 2007, 28 f.

129 Sebastian Kirsch, „Vermählt mit dem (Theater)Gott. Aischylos‘ Hiketiden oder die Chorfigur als Medium des Heiligen“, in: Archiv für Mediengeschichte – Medien des Heiligen, hg. von Friedrich Balke, Bernhard Siegert, Joseph Vogl, Paderborn 2015, 21-29, hier 23.

130 Wir werden auf diesen Aspekt genauer im Zusammenhang mit Beckett zurückkommen. Siehe dieses Buch, 222 ff.

131 Schleef, Droge Faust Parsifal, ebd., S. 277.

132 Ebd., S. 17. Die Seitenangabe gilt ebenso für die folgenden Zitate (bis zur nächsten Fußnote).

133 Das ungewöhnliche Verfahren Schleefs, werkübergreifend zu analysieren, gilt den beiden Körpern des Theaters, Protagonist und Chor, deren Verhältnis er als conditio sine qua non unseres Theaters auffasst. Schleefs Forschungen entbieten damit in sehr explizitem Sinn eine Theater- und keine Literaturrecherche.

134 Michel Foucault, Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3, übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt a. M. 1986. Zu Galen vgl. 140–163, 145. Die nachfolgenden Zitate bis zur nächsten Fußnote ebd.

135 Schleef, Droge Faust Parsifal, ebd., 18.

136 Das Thema Ansteckung wird im Kleist-Kapitel ausführlich zur Sprache kommen. Siehe dieses Buch, S. 144 ff.

137 Foucault, Die Sorge um sich, ebd., 183.

138 Walter Benjamin, „Haschisch in Marseille“, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. IV, 1, hg. von Tillmann Rexroth, Frankfurt a. M. 1972, 409–416, hier 409.

139 Jerzy Grotowski strebte bei seinen Schauspielern die Gleichzeitigkeit von Impuls und Ausdruck an. Als Voraussetzung dafür galt es, den kulturalisierten Körper durch extremes Körpertraining zu überwinden. Vgl. Thomas Richards, Theaterarbeit mit Grotowski an physischen Handlungen, aus dem Englischen von Claudia Marie Mense, Berlin 1996.

140 Aristoteles, Politik. Schriften zur Staatstheorie, übersetzt und herausgegeben von Franz F. Schwarz, Stuttgart 1989, 386. Vgl. zur Musik bes. 376–389. Folgend wird hieraus im Fließtext per Seitenzahl in Klammern zitiert.

141 Lacan, Das Wesen der Tragödie, ebd., S. 296.

142 Marita Tatari in: Ulrike Haß/Marita Tatari, „Eine andere Geschichte des Theaters“, in: Marita Tatari (Hg.), Orte des Unermesslichen, ebd., 77–90, hier 83.

143 Nietzsche, „Das griechische Musikdrama“ (1870), in: Friedrich Nietzsche. Kritische Studienausgabe (KSA) in 15 Bd., hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 1999, Band 1, 515–532, 522 f.

144 Ausgehend von einer Isomorphie von Anatomie und Geschlechtsakten bei Frau und Mann, gilt das Sperma gegenüber den Säften der Frau als kräftiger und vollkommener: So kommt ihm größerer Einfluss auf die Bildung des Embryos zu. Vgl. Galen, der ältere Traditionen aufnimmt, zit. in: Foucault, Die Sorge um sich, ebd., 142 f.

145 Jean-Luc Godard, „Es kommt mir obszön vor“, ein Gespräch von Katja Nicodemus, 6. Oktober 2011, in: Die Zeit Nr. 41/2011.

146 Judith Butler, Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Frankfurt a. M. 2016.

147 Gabriel Tarde, Die Gesetze der Nachahmung. Aus dem Französischen von Jadja Wolf, Frankfurt a. M. 2009, 232 u. 233. Tarde zieht immer wieder Beispiele aus der Physik und der Thermodynamik heran, um das sich unaufhörlich vergrößernde „Feld der Nachahmung“ (375) zu beschreiben.

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