Soziokulturelle Verdrängung und Fragmentierung
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Die seit dem Ende des 15. Jahrhunderts verlaufende Herausbildung des neuen ausdifferenzierten Theaters war ein höchst widersprüchlicher Prozess. Es entstand ein sehr reiches, gegenüber dem Mittelalter sehr vielfältiges Theaterwesen mit künstlerischen Spitzenleistungen in neuartigen Formen wie dem klassischen und aufklärerischen Tragödien- und Komödientheater und der illusionistischen Bildbühne, der Commedia dell’ Arte-Bewegung und dem Shakespeare-Theater, der Oper und dem Ballett, dem spezialistischen Tanztheater. Begleitet oder vielleicht genauer geprägt wurde diese Entwicklung durch Reglementierungen, Abgrenzungen und Ausgrenzungen, deutlich erstens im sehr einflussreichen Diskurs der machtvolle Normative setzenden humanistischen Gattungspoetologen; zweitens in den zunehmenden Eingriffen der Reformation mit dem Höhepunkt des Puritaner-Verbots öffentlichen Theaters 1642; drittens in der zentralstaatlichen Disziplinierung zumindest des ernsten Theaters in Frankreich; viertens in der langjährigen Vereinnahmung der Oper und des Balletts vor allem durch die Höfe und die Hocharistokratie, die bis zum Endes des 18. Jahrhunderts immer (noch) sehr potenten Machtzentren; und schließlich, und vielleicht am drastischsten, im Niedergang oder genauer im Ausschluss der „un-vernünftigen“ Commedia-Form und der gleichzeitigen Kanonisierung der vernünftig geordneten, illusionistischen Darstellungsweise.
In dieser spannungsreichen Geschichte äußerten sich übergreifende soziokulturelle Differenzierungen im Zuge der Festigung der Zentralgewalten und der Erstarkung der bürgerlich-kapitalistischen Kräfte, Aufspaltungen, selektive Ausschließungen und Antagonismen, die auch theatrale produktive Praktiken insgesamt...