Theater der Zeit

Überlegungen

Ein ekelhaftes Theaterstück

von Cristián Plana

Assoziationen: Dossier: Chile

„Velorio chileno“ in der Regie von Cristian Plana, auf dem Bild Schauspieler Marcial Tagle. Foto Teatro Nacional Chileno
„Velorio chileno“ in der Regie von Cristian Plana, auf dem Bild Schauspieler Marcial TagleFoto: Teatro Nacional Chileno

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Das ist ekelhaft. Eine körperliche Abscheu, die zum Erbrechen führen kann, ausgelöst durch einen Geruch, Geschmack oder Anblick. Der Anblick von etwas Abstoßendem wäre demnach die Erfahrung des Abjekten[1], die Erfahrung dessen, was der Köper nicht in sich ertragen kann.

„Ein ekelhaftes Stück” kommentiert ein Teil des Publikums nach der Aufführung des Textes Velorio chileno (Chilenische Totenwache), geschrieben innerhalb weniger Wochen nach dem Militärputsch 1973 von dem chilenischen Dramatiker Sergio Vodanovic. Es handelt sich um eine fiktionale Geschichte, aber gleichzeitig um ein fast schon dokumentarisches Zeugnis dessen, was im historischen Kontext passiert ist.

Das Stück zeigt zwei Ehepaare, die am 11. September 1973 in einer Wohnung in Santiago de Chile den Sturz des Präsidenten Salvador Allende feiern. Eine Nacht voller Trunkenheit, Erotik und euphorischer Gewalt, in der mit dem Tod des Anführers der Unidad Popular gleichzeitig „die Vertreibung des Volks gefeiert wird: die Verdrängung seiner Ästhetik, seiner Politik, seiner Ethik und Diskurse; der Körper des Volkes wurde aus dem öffentlichen Raum herausgerissen“, so beschreibt es die chilenische Schriftstellerin Diamela Eltit.

Am Ende des Stückes wird die Szene unterbrochen von der Gewalt draußen auf der Straße. Eine Gruppe mutmaßlicher „Extremisten“, Gegner der von der Miltärjunta eingeführten neuen Ordnung, wird zehn Stockwerke unter der privaten Party zum Tod von Allende von Kugeln durchsiebt. Eine „namenlose Sünde“ sagt Laura, die Mutter von Carlitos, der zusammen mit den übrigen Jugendlichen ebenfalls erschossen wird. In dem Moment, wo die Mutter die Maschinengewehre hört, erstarrt sie, als hätten die Kugeln ihre Sprache durchlöchert, als wäre die Monstrosität des Tötens eine Art sublimer Landschaft, in der sie versinkt. Das, was dann kommt, ist das Sich-Übergeben der Mutter, das Erbrechen der Party, des ganzen während des Feierns konsumierten Alkohols, provoziert durch den Anblick des toten Körpers: Gipfel der Abjektion.

Ekel, diese „sonderbare Empfindung, die fähig ist, jedes ästhetische Wohlgefallen zugrunde zu richten“, wie Kant sagen würde – Ekel ist es, was dieses Stück in einigen der Zuschauenden hervorruft. Das gleiche Gefühl bringt Laura dazu, sich beim Anblick des toten Körpers ihres Sohnes zu übergeben. Warum ist dieser Anblick auch heute, 50 Jahre nach dem Putsch, noch abjekt? Weil nach Julia Kristeva „in der Abjektion eine dieser heftigen und obskuren Auflehnungen des Menschen liegt, gegen das, was ihn bedroht und aus einem Außerhalb oder einem übermäßigen Innerhalb zu kommen scheint. Es muss verworfen werden, weil es an der Grenze des Möglichen, des Erträglichen, des Denkbaren liegt. Es ist da, ganz nah, aber nicht assimilierbar“.

 

Übersetzung Charlotte Roos

 

 


[1] Julia Kristeva entwickelt 1980 in Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection die Grundlagen für den in Psychoanalyse, Kulturwissenschaften und Gender Studies gleichermaßen relevanten Begriff der Abjektion. Unter Abjekt versteht sie zunächst alles, was in einem Menschen Ekel und Aversion hervorrufen kann.

Erschienen am 28.8.2023

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