Theater der Zeit

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Gespräch mit Anna-Catharina Gebbers und Aino Laberenz über die Christoph-Schlingensief-Retrospektive

von Aino Laberenz, Anna-Catharina Gebbers und Ute Müller-Tischler

Erschienen in: Theater der Zeit: Andrzej Stasiuk: Autor der Vergessenen – Der Erste Weltkrieg und das Rumoren der Geschichte (01/2014)

Assoziationen: Akteure

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Die Kuratorin Anna-Catharina Gebbers und die langjährige Lebensgefährtin Aino Laberenz über die Christoph-Schlingensief-Retrospektive in den KW Institute for Contemporary Art Berlin im Gespräch mit Ute Müller-Tischler

„Einer der wichtigsten Aspekte im Werk von Christoph Schlingensief ist für mich, wie stark Kunst in das Leben eingreifen und es verändern kann“, sagt Susanne Pfeffer, Kuratorin der Christoph-Schlingensief-Retrospektive. Bereits ab 2009 war die damalige Chefkuratorin an den Berliner KW Institute for Contemporary Art mit ihm über eine Werkschau im Gespräch. Die Ausstellung, die nun in den KW zu sehen ist, reflektiere Schlingensiefs enorme Durchdringung von Kunst, Politik und Leben, so Pfeffer. „Dabei besaß seine Arbeit, angefangen bei Film, Theater und Oper über Installationen und Aktionen, in all diesen Medien immer ein absolut bildnerisches Element. Immer wieder ist es ihm gelungen, ikonografische Bilder zu schaffen, die sich fest in unserem Bildhorizont verankert haben.“ Wir unterhielten uns mit Anna-Catharina Gebbers, neben Susanne Pfeffer und Klaus Biesenbach Kuratorin der Ausstellung, sowie Aino Laberenz, langjährige Wegbegleiterin Schlingensiefs und künstlerische Beraterin der Ausstellung, über die Retrospektive des Gesamtkünstlers Schlingensief.

„Alles ist Kunst, weil Überleben längst eine Kunst ist.“ Der Satz stammt von Christoph Schlingensief. Könnte so nicht auch seine gerade eröffnete Retrospektive überschrieben sein?

Aino Laberenz: Der Satz steht natürlich in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Operndorf Afrika in Burkina Faso. Aus dieser Perspektive betrachtet, geht es darum, unseren einerseits ziemlich ausgefransten, andererseits oft sehr hochgehängten Kunstbegriff in ein Verhältnis zu bringen mit anderen Kulturen, die um einiges geerdeter mit ihrer Kultur umgehen. Da sind existenzielle Fragen oft auch Fragen des Alltags – und eben des alltäglichen Überlebens. Das setzt bei den Leuten da eine ganz andere Kreativität frei, als wir sie heute hier erleben und wie sie ab und zu ja schon von den Kulturbetrieben selbst – Theatern, Opern, Museen – bemängelt wird.

Anna-Catharina Gebbers: Außerdem bezog Christoph Schlingensief in seinem Vorwort zu Elfriede Jelineks Theatertext „Bambiland“ den Satz auch auf die perfide Medienberichterstattung, in der Luftangriffe wie Fußballländerspiele anmoderiert werden und die Grenzen zwischen Götter- und Götzendämmerung aufgehoben sind. So wie Jelinek schien Schlingensief das eigentliche Gefecht mit sich selbst auszutragen: Es ging ihm immer darum, sich ebenso wie den Betrachter dazu zu animieren, eine eigene Haltung zu entwickeln, eine Standortbestimmung in den komplexen politischen Gegenwartsdiskursen vorzunehmen und sich verantwortlich zu fühlen. Zu diesem Zweck hat er durchaus drastische Bilder eingesetzt. Aber nie um des momentanen Kitzels wegen oder als Selbstzweck, sondern um die Akteure, die zu Teilnehmern gewordenen Betrachter und nicht zuletzt sich selbst in Alarmbereitschaft zu versetzen. Er hat die Bilder so gezeigt, dass wir als Betrachter uns dafür haftbar fühlen, da wir uns alle der Pornografie der Gewalt und der sozialen Ungerechtigkeiten hingeben, die uns die Medien täglich servieren. Wir schauen zu, wie Flüchtlinge abgeschoben werden oder vor Lampedusa ertrinken. Schlingensief hat uns unsere eigene Beteiligung daran beispielsweise als Big-Brother-Format mit seiner Aktion „Bitte liebt Österreich!“ (2000) präsentiert. Überleben wird also vollkommen zur Kunst, wenn das Überleben darin besteht, Wirklichkeit als eine Inszenierung zu genießen und sich als bequem zurückgelehnter lebender Toter mitziehen zu lassen, statt die reale Brutalität zu erfassen und einzugreifen.

Aber Schlingensief hat bei seiner Wien-Aktion „Bitte liebt Österreich!“ ein ganzes Volk in Aufruhr gebracht – und sich dabei auch selbst dem von ihm angezettelten Sturm der Emotionen ausgesetzt. Er stand täglich auf dem Herbert-von-Karajan-Platz, hat mit den Leuten diskutiert, hat die Situation zum Kochen gebracht. Das Gleiche gilt beispielsweise auch für die Aktionen der von ihm und seinen Mitstreitern gegründeten Partei Chance 2000 oder die „Church of Fear“. Damit hat er nicht nur Leben und Kunst, Kunst und Politik, sondern auch Politik und Leben miteinander verbunden. In der Ausstellung zeigen wir einige dieser Aktionen ebenso wie verschiedene Fernsehformate von Schlingensief, bei denen er sich genauso ausgesetzt hat. Auch hier deckt er durch Überaffirmation die menschenverachtenden Mittel der Inszenierung auf und führt vor allem sich selbst vor. Die Ausstellung lädt die Besucher ein nachzuvollziehen, wie Schlingensief die Verhältnisse zum Tanzen gebracht hat, indem er ihnen ihre eigene Melodie vorgespielt hat.

Sie haben die Ausstellung noch gemeinsam mit Christoph Schlingensief geplant. War die persönliche Perspektive hilfreich beim Sichten und Ordnen dieses fast übermächtigen Gesamtwerks?

Gebbers: Die Ausstellung hat Christoph Schlingensief gemeinsam mit Susanne Pfeffer geplant: Sie fragte ihn 2009 an, ob er in den KW etwas machen möchte. Zur gleichen Zeit saß er auf seinen Wunsch mit mir an einer großen Überblickspublikation zu seinem Werk, da ich schon seit über zehn Jahren kuratorisch oder über ihn schreibend immer mal wieder mit ihm zusammengearbeitet hatte. Deshalb hat Susanne Pfeffer mich bei der von ihr initiierten Ausstellung mit ins Boot geholt. Und da Klaus Biesenbach mit Christoph Schlingensief nicht nur bereits seit Ende der 1990er Jahre immer wieder gemeinsame Projekte realisiert hatte und auch ein freundschaftlicher Wegbegleiter war, sondern auch einer der Gründer der KW Institute for Contemporary Art Berlin ist, lag es auf der Hand, dass er mit von der Partie sein sollte. Bei Schlingensiefs immenser, ausufernder Produktivität ist die Vertrautheit mit seinem Werk eine äußerst wichtige Voraussetzung.

Daher war es natürlich unerlässlich und ein großer Gewinn, dass Aino Laberenz als Christoph Schlingensiefs Frau und damit engster Wegbegleiterin der letzten Jahre uns mit ihrem genauen Blick zur Seite stand. Sie bot unserer kuratorischen Perspektive auf Schlingensiefs Schaffen in den Diskussionen das künstlerische Gegenüber. Aber trotz der vier verschiedenen Perspektiven ging es uns allen darum, den Blickwinkel aufgrund des mal mehr, mal weniger persönlichen Zugangs keinesfalls zu verengen, sondern vielmehr zu weiten und das Werk für die Betrachter und die Nachwelt zu öffnen.

Bei Schlingensiefs enorm vielen, aber vor allem ungeheuer vielschichtigen Projekten gibt es auch noch unfassbar viel zu entdecken! Ein für mich entscheidender Aspekt – und so habe ich von Christoph Schlingensief im wahrsten Sinne des Wortes überhaupt erst etwas gehört – ist die Musik: Mein erstes Hörerlebnis war als ganz junge Schülerin 1983, als ich den Song „Einsam“ von seiner Band Vier Kaiserlein auf dem Zickzack-Sampler „Alles wird gut“ hörte. Die Band war zwar nur kurzlebig, aber Schlingensiefs Werk ist von einer enormen Musikalität und vor allem Rhythmik geprägt. Ich denke da an die markanten Laut-Leise-Wechsel, Synkopen, Paraphrasierungen genauso wie an seine Theaterproduktionen, die eigentlich Musiktheaterstücke waren.

Laberenz: Mir waren zwei Sachen in dieser Hinsicht wichtig: Zum einen hat man durch diesen persönlichen Zugang zu seiner Arbeit einen Vorsprung an Erfahrung. Mit meiner Erfahrung, meinem Wissen, aber auch meiner Verantwortung wollte ich dem Besucher nicht das meines Erachtens falsche Bild vom vagabundierenden, etwas chaotischen Provokateur mit Hang zum Gesamtkunstwerk präsentieren, sondern ihn auch in Christophs Arbeit einbeziehen. Zum zweiten sorgt dieser persönliche Zugang aber auch dafür, dass man immer wieder selbst von Christoph überrascht wird. Dann erfährt man beim Sichten und Erstellen einer solchen Ausstellung verstärkt, dass seine Arbeit eben kein Chaos war, sondern tatsächlich einem intuitiven Plan folgte. Insofern knallt auch die Ausstellung nicht willkürlich hin, dass er dies gemacht hat und dann dies und dann das. Die Ausstellung zeigt, dass man ihm folgen konnte und dass er zu jeder Zeit seiner Arbeit ein echter Gegenwartskünstler gewesen ist.

Schlingensief hat um die Kunstwelt lange einen Bogen gemacht. Seit der Aktion „Mein Filz, mein Fett, mein Hase“ auf der Kasseler documenta X (1997) begann sich das zu ändern. Er startete den „I. Internationalen Pfahlsitzwettbewerb“ auf der Biennale in Venedig und installierte zwei Jahre später einen multimedialen Kirchenbau auf dem Dach des Museums Ludwig in Köln. Als er „Atta Atta – Die Kunst ist ausgebrochen“ an der Berliner Volksbühne herausbrachte, 2004 „Parsifal“ in Bayreuth inszenierte und zu Ausstellungen im Haus der Kunst in München oder ins Migros Museum in Zürich eingeladen wurde, schien der überbordende Querdenker und Aktionskünstler in den Institutionen der Gegenwartskunst angekommen zu sein. Er galt fortan als einer der wichtigsten Künstler dieses Landes und als Erneuerer des deutschen Kulturbetriebs. Wäre es an dieser Stelle falsch, nach Schlingensiefs ganz eigenem Spiel zu fragen, wer hier eigentlich wen vereinnahmt hat?

Gebbers: Christoph Schlingensief hat die Gattungen und Genres durchwandert, um sie auf ihre gesellschaftliche Relevanz hin zu überprüfen. Obwohl ihn die Reaktionen der Kritik sehr berührt haben, lag ihm nicht daran, irgendwo im Kulturbetrieb anzukommen. Im Gegenteil: Auch hier galt ihm das Scheitern als Chance und Produktivkraft. Aber er hat die Gattungen doch sehr genau analysiert: Was ist Film? Welche technischen Voraussetzungen hat das Medium? Wie lassen sich in der Folge von Godard filmische Metaphern auf gesellschaftliche Zusammenhänge übertragen? Warum hast du nichts getan als die deutsche Wiedervereinigung zu einem „deutschen Kettensägenmassaker“ wurde, in dem Vereinigung Vergewaltigung und Verwursten bedeutete? Bist du in der Dunkelphase zwischen den blendenden Medienbildern überhaupt noch in der Lage, selbst zu denken? Woraus besteht Theater? Wie lassen sich durch die spezifische Gestaltung des Verhältnisses von Akteuren und Zuschauern Situationen herstellen, in denen alle Teilnehmer die Bedingungen der eigenen Subjektivität reflektieren? Wie lässt sich das im Hinblick auf die individuelle Standpunktverortung im politischen Gegenwartsdiskurs fruchtbar machen? Was hast du getan, als in Mölln auf die von zwei türkischen Familien bewohnten Häuser Brandanschläge verübt wurden? Was ist der Unterschied zwischen Theater, Performance, Happening, Aktion? Wie lässt sich die Auseinandersetzung mit der Rolle des Zuschauers auf dessen Rolle in der akuten Situation der medial vermittelten Politik übertragen? Merkst du, dass die Politiker deine Angst fremdverwerten, um daraus Furcht vor angeblichen Massenvernichtungswaffen zu kreieren und deine Kriegsbereitschaft zu schüren? Christoph Schlingensief wollte wissen, wozu Kunst in der Lage ist und hat sie in der ihm eigenen praxistheoretischen Untersuchung immer wieder durchforscht. Dazu gehörte es, sich einerseits der Kungelei und dem Es-sich-im-Betrieb-gemütlich-Machen zu entziehen und zum anderen die Plattformen anzunehmen, die sich bieten, um überhaupt sichtbar zu werden und im gleichen Zuge die Bühnen der Sichtbarkeiten zu hinterfragen. Er musste als Parteigründer aber auch erfahren, wie schnell Menschen bereit sind, ihre Entscheidungen und Haltungen an ihn zu delegieren. Und er musste als Kirchenoberhaupt durchleben, welche Sehnsüchte nach einem Deuter und Messias auf ihn übertragen wurden. Er ist dann weitergezogen und hat die in den Projekten gewonnenen Erfahrungen und Bilder mitgenommen.

Die Einladung nach Bayreuth und die Berufung für den deutschen Pavillon in Venedig waren für ihn ein Ritterschlag, auf den er sehr stolz war. Aber meiner Meinung nach war ihm bewusst, dass auch das nur Stationen auf seinem persönlichen Weg waren. Sein Plan für den deutschen Pavillon bestand in einem Hinterfragen des Konzeptes von Nationen- und Länderpavillons wie auf den großen Weltausstellungen. Er hätte sich dafür viel Schelte geholt, aber der Kunstbetrieb wäre nachhaltig aufgescheucht worden. Susanne Gaensheimer hatte das erkannt und ihn unter anderem deshalb 2011 nach Venedig eingeladen.

Christoph Schlingensief hatte sich insbesondere mit den Ausstellungen „18 Bilder pro Sekunde“ im Münchner Haus der Kunst 2007 und „Querverstümmelung“ im Züricher Migros Museum 2007/08 sehr intensiv mit dem Format „White Cube“ auseinandergesetzt. Man kann sehr deutlich sehen, wie er sich dessen Möglichkeiten angenähert hat. In Hinsicht auf die Überantwortung der Bilder an die Betrachter hat er selbst gesagt: „Für mich ist es sehr schön, jetzt im Ausstellungsraum zu sein, weil dieser Ort eben tatsächlich von diesem Theatralischen auch wegholt. Ich bin hier nicht im Bild, ich muss hier auch nicht spielen, ich will hier auch nicht spielen, es ist etwas passiert, das wird gezeigt. Das gibt es ja nun in der bildenden Kunst öfter und es kann auch so gezeigt werden, dass der Betrachter damit sogar selber anfängt zu spielen. Und das ist doch das Größte.“ Es wäre bei Christoph Schlingensief weiter gegangen, in diese oder eine andere Richtung, in jedem Fall jedoch nicht so, wie wir es von ihm erwarten hätten.

„Bilder können Realität heraufbeschwören, besonders, wenn man Angst vor ihnen hat“. Kunst sollte bei Schlingensief ein „böser Akt“ sein, landläufige Vorstellungen und Bilder zerstören. Er selbst hatte ebenso „Angst vor dem Fremden“. Das ist ein wichtiger, anhaltender Punk in seinem Schaffen: die radikale Provokation als künstlerische Praxis. Schlingensief hat wie kein anderer rücksichtslos „einverleibt und wieder ausgekotzt“, was ihn bewegte, und zu einer eigenen Ästhetik zusammengeführt. Worin liegt die Faszination seines künstlerischen Schaffens?

Gebbers: Faszinierend ist vor allem die radikale Verbindung zwischen Leben, Kunst und Politik. Und die große Bandbreite des bildnerischen Schaffens und die verschiedenen Ebenen, auf denen Christoph Schlingensief das Bildhafte interpretiert hat. So fand er es wichtig, eine Figur wie Adolf Hitler als Bild zur Abnutzung freizugeben, statt sie dem Reiz des Verbotenen und Mythologisierungen anheimzugeben. Als furchteinflößende unberührbare Größe hätte Hitler auf die Realität mehr Einfluss als der gebrochene Mensch, der sich in „100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker“ (1988) selbst das Bier aus dem Keller holt, um auf seinen zerbröselnden Lebenstraum zurückzublicken. Bei Christoph Schlingensief ging es weniger um die Provokation als vielmehr um eine Haltung, die er in André Bretons „Zweitem Surrealistischen Manifest“ wiederfand: „Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings so viel wie möglich in die Menge zu schießen. Wer nicht wenigstens einmal im Leben Lust gehabt hat, auf diese Weise mit dem derzeit bestehenden elenden Prinzip der Erniedrigung und Verdummung aufzuräumen, der gehört eindeutig selbst in diese Menge und hat den Wanst ständig in Schusshöhe.“ Das meinte Schlingensief mit seiner Forderung, dass Kunst ein böser Akt sein müsse.

So ist auch sein Aufruf: „Tötet Helmut Kohl!“ zu verstehen, erstmals 1996, als er mit den Besuchern seiner Inszenierung „Rocky Dutschke ’68“ für seine Aktion „Zweites Surrealistisches Manifest von André Breton“ die Volksbühne verließ und zur zweiten Spielstätte der Volksbühne, dem Prater pilgerte. Einen Höhepunkt der Kohl-Rituale bildete das Bad im Wolfgangsee, zu dem er 1998 als Wahlkampfaktion seiner Partei Chance 2000 die von ihm so bezifferte Zahl von sechs Millionen Arbeitslosen aufrief, um das Ferienhaus des ewigen Kanzlers zu fluten. Es kam nur ein Bruchteil, aber die Presse berichtete vom Plan, und wir haben dieses Bild von sechs Millionen im Wolfgangsee im Kopf. Deshalb geht es bei seinen Bildfindungen auch immer um die Bilder in den Medien und die Bilder, die Christoph Schlingensief in unserem Denken auslöste – Letztere als ganz bewusste Referenz auf die Dunkelphase zwischen den Einzelbildern des analogen Films, in der der Film bewegt wird und die Wahrnehmung eigene Bilder erzeugt. Als weiteres Beispiel sei im Rahmen der „Aktion 18“ (2002) die Teilaktion genannt, bei der er vor dem Firmensitz von Jürgen W. Möllemann dem FDP-Politiker ein Voodoo-Ritual widmete, da dieser sich latent anti-semitisch geäußert hatte. Bei einer Veranstaltung kurz zuvor hatte Christoph Schlingensief auch zur Tötung Möllemanns aufgerufen. Die FDP und Möllemann waren aufgebracht und fanden keine Handhabe, Schlingensief zu verklagen. In einer Pressekonferenz schildert Möllemann dann Schlingensiefs Aktion, vollzieht verbal das ihm gewidmete Ritual noch einmal selbst nach und erläutert Paragraph 5 des Grundgesetzes zur Freiheit der Kunst. Besser als durch diese auf Veranlassung von Schlingensief heraufbeschworenen Bilder lassen sich Kunst und Politik nicht vereinigen.

In welchen Bereichen er auch arbeitete, Schlingensief war die zentrale Figur, von der alles ausging. Aino Laberenz sagt, er habe sich selbst verschwendet und verschleudert. Sie bezeichnen diese permanente Selbstübersteigerung als performative Repräsentanz. Was kann man sich näher darunter vorstellen?

Gebbers: Diese permanente Selbstübersteigerung und performative Repräsentanz lässt sich einerseits im Rahmen der Überaffirmation beschreiben. Christoph Schlingensief hat sich selbst zum Platzhalter gemacht, um Strukturen deutlich werden zu lassen. Zum anderen ließen sich diese Gesten im Sinne der Bataille’schen Antiökonomie als Verschwendung oder Selbstverschwendung bezeichnen. Schlingensief teilte Georges Batailles Interesse für das Opfer, das Rauschhafte, für die Tabu- und Grenzbereiche menschlichen Denkens, Fühlens, Handelns, für die Transgression als Grenzüberschreitung, die mit einer inneren Erfahrung einhergeht. Er hat beispielsweise mit performance-, aktions- oder theaterartigen Drehsituationen sich, seine Kollaborateure und auch seine zu Mitakteuren werdenden Rezipienten immer wieder Extremsituationen aussetzt, die zwar nicht als lebensbedrohlich, aber doch als erschütternd oder zumindest als ekstatische Grenzerfahrungen empfunden wurden: eng terminierte, intensive, erschöpfende Dreharbeiten oder Improvisation fordernde, sich Situation wie Publikum aussetzende Theaterarbeiten und Aktionen. Die körperliche Erfahrung führt zur Entäußerung, Selbst-Aussetzung und auch zur Selbstauflösung, in der der Einzelne sich als Durchgangspunkt begreifen und die Grenzen der eigenen Person spüren kann.

Schlingensief hat diesen Moment der Überschreitung in den Ritualen der Kirche, des Films, des Theaters, der Aktion gesucht und als Erfahrung in seinen Aktionen untersucht. Aber er hat auch ganz bewusst wie Bataille die kapitalistische Logik von Produktion, Reproduktion und Konsumption durch den Aspekt der unproduktiven Verausgabung ergänzt. Wenn er beispielsweise bei verschiedenen Aktionen „Rettet die Marktwirtschaft! Schmeißt das Geld weg!“ (Graz, 1998) oder „Rettet den Kapitalismus! Schmeißt das Geld weg!“ (Basel, 1998) rief, dann stand hinter diesen verschwenderischen Aufforderungen nicht blinde Zerstörungswut, sondern der Gedanke der Selbsterhaltung durch feierliche, rituelle oder kriegerische Verschwendung der Überschüsse und die daraus folgende Gewinnung von neuer Energie, die über den Kreislauf der Ökonomie hinausweist. Der einzelne Mensch soll seine Souveränität behalten, indem er die kapitalistische Zweckrationalität und die damit einhergehende Verdinglichung des Bewusstseins durchbricht. Es wird kein kapitalistisch verwertbarer, lagerfähiger, transportabler Mehrwert erzeugt. Vielmehr ergeben sich marktwirtschaftlich kaum zu bewertende Dimensionen wie Kooperation, Interaktion und Kommunikation. Ein Prinzip, das Schlingensiefs Werk bis zum Operndorf Afrika durchzieht.

Laberenz: Christoph hat oft zu mir gesagt: „Sei haftbar für das, was du tust“, und er hat bezüglich seines Handelns selbst nicht explizit von Performance gesprochen. Er hatte ein Anliegen und hat jegliche Form von Bühne dafür genutzt, auch wenn er sich außerhalb der Institution bewegte. Er hat nicht im stillen Kämmerlein eine Inszenierung oder eine Installation gebastelt und sie dann dem Publikum als abgeschlossenes Werk vor die Füße gesetzt. Selbst wenn er nicht auf der Bühne war. Ich würde ihn aber auch als Forscher bezeichnen. Als jemanden, der mit dem Material experimentiert, sich und das Material wieder hinterfragt oder Situationen aussetzt. Er war seinem Publikum gegenüber sehr loyal, einfach weil er verfügbar war. Aber er war auch nicht ohne Fehler – und fehlt nun selbst und hinterlässt jetzt mitten in seinen Arbeiten eine Lücke.

Für die einen Filmregisseur, für die anderen Aktionskünstler, politischer Akteur und Erweiterer des modernen Theaters – Christoph Schlingensiefs Gesamtwerk lässt sich schwer fassen. Was sind Ihrer Meinung nach die zentralen Arbeiten und die künstlerischen Zusammenhänge, von denen Sie hoffen, dass sie bleiben?

Gebbers: Ich denke, dass sein überbordendes Schaffen als Ganzes bleiben und in der Rezeption weiterwirken wird. Die Annäherung an das Werk hat ja gerade erst begonnen. Dadurch, dass man seiner Produktivität kaum folgen konnte und die totale Überforderung einen überwältigte, ging manchmal verloren, mit welcher Präzision er seine Finger in gesellschaftliche Wunden legte, die erschreckenderweise bis heute noch nicht geheilt sind und in ihrer politischen Brisanz an nichts verloren haben. Die Furcht von uns Bürgern wird immer noch fremdverwertet, um wirtschaftliche und individuelle politische Interessen durchzusetzen. Die Flüchtlingsproblematik ist ungelöst. Repräsentationskritik sollte nach wie vor ein Thema sein. Der westliche Blick auf den afrikanischen Kontinent ist immer noch nicht von kolonialhistorisch geprägter Hybris befreit. Bislang unerreicht ist Christoph Schlingensiefs Fähigkeit, auf diese Aspekte hinzuweisen, indem er umfassendere Wirklichkeiten mit reflektierten, gestalteten Spezialwelten aufbaute, die alles Mögliche waren, nur kein Theater. Dadurch wurde dem Publikum die Möglichkeit entzogen, es sich in der Haltung der Ironie gemütlich zu machen. Man wurde vielmehr in einen permanenten Zustand der Herausforderung oder letztendlich Überforderung versetzt, da man in jedem Moment immer wieder erneut ermessen und die politisch-ästhetische Verantwortung dafür übernehmen musste, ob man etwas für Schein hält oder nicht. Genauso schwer war und bleibt es, Christoph Schlingensief in Kategorien und Schubladen zu pressen. Auch deshalb ist er oft missverstanden worden. Man muss an Jean-Luc Godards „Histoire(s) du cinéma“ denken und an die Dinge, von denen Henri Bergson sagte, dass sie zwar fast allen Zeitgenossen entgehen können, aber für die Zukünftigen retrospektiv zum Entscheidenden einer Epoche werden können.

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