Anja Nioduschewski: Esra Küçük und Milo Rau, Anlass unseres Gesprächs sind die rassistisch und rechtsnationalistisch motivierten Mordanschläge der vergangenen Monate in Deutschland: in Hanau, Halle, Kassel. Anfang März hatte die AfD bei der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen den demokratischen Parlamentarismus vorgeführt. Es ist von Dammbruch rechtsextremer Gewalt die Rede, von geistiger Brandstiftung. Milo Rau, Sie hatten in Ihrer Eröffnungsrede der Hannah-Arendt-Tage 2018 in Hannover gesagt: „Protest heißt, die eigene Zeit nicht mitleidig oder liebevoll, sondern katastrophisch und unverhüllt, also zynisch zu betrachten.“ Was ist Ihre zynische, katastrophische Einschätzung der aktuellen politischen Situation?
Milo Rau: Man ist ja als Marxist klassischerweise der Ansicht, dass der Faschismus die letzte Stufe des Kapitalismus ist. Wenn man sieht, was gerade an den europäischen Außengrenzen in Griechenland geschieht, muss man sich nur erinnern, was die Reaktion war, als vor einigen Jahren von AfD-Seite gesagt wurde, man sollte auf die Flüchtlinge schießen. Da fanden die Medien das total irrwitzig. Jetzt haben wir Ursula von der Leyen, die Griechenland als „Schutzschild“ lobt und damit genau dafür dankt: dass auf Flüchtlinge, wenn sie nicht still in den Lagern zu sterben bereit sind, geschossen wird. Da hat sich also etwas normalisiert, was vorher als außerordentlich galt. Zynisch gesagt ist da...