Tobende Ordnung
Erschienen in: Arbeitsbuch 2016: Castorf (07/2016)
Das hölzerne Oberdeck der SS America schimmert in der Morgensonne. In der Mitte ragt der trapezförmige Schornstein in den Zürcher Himmel. An der Reling hängen weiße Rettungsringe.
Hier wird heute Abend die erste Szene von Kafkas Romanfragment „Amerika“ spielen. Am Kopfende des schimmernden Decks sitzt Frank Castorf. Der Regietisch ist leer. Kein Bleistift, kein Blatt Papier. Nur Castorf sitzt hoch aufgerichtet am seitlichen Ende des leeren Tisches, in die ihm eigene hochkonzentrierte Meditation versunken. Allein auf seinem Dampfer. Doch im Schornstein bin ich, früher als sonst an diesem Morgen vor der Premiere. Ich spiele den Heizer in der ersten Szene und bin gerade dabei, für meinen ersten Auftritt Kohle in den Eisenkessel zu füllen, als ich ihn durch das Bullauge bemerke. Seitdem wage ich kaum einen Mucks zu machen. Ich will ihn nicht stören, oder verraten, dass ich schon da bin und ihn beobachte.
Ich fühle mich wie ein Gefangener – und Frank ist mein Gefängniswärter. In was könnte ich mich verwandeln, um unbemerkt hinauszugelangen, in meine Garderobe? Selbst unbemerkt fühle ich mich unter Druck gesetzt. In einen Riesenkäfer? Das würde zu Kafka passen. Oder soll ich einfach rausgehen, seine Kontemplation brüsk abschneiden mit den Worten: „Guten Morgen Frank!“ Jetzt...