Ein sozialistisches Faust-Bild
von Guido Böhm
Erschienen in: Recherchen 120: Vorwärts zu Goethe? – Faust-Aufführungen im DDR-Theater (06/2015)
Assoziationen: Wissenschaft Theatergeschichte Johann Wolfgang von Goethe

1. Politische Ziele
Schon im Kaiserreich beginnen auch linke Politiker ihre Auslegung des Klassikers zu entwerfen.53 Die Überschätzung des Faust in Bezug auf sein Potential als soziales Erziehungsinstrument erreicht aber erst in der DDR ihren historischen Höhepunkt. Dort präsentiert sie sich quasi als Spitze eines ideologischen Apparats zum Aufbau einer neuen Gesellschaft, dessen massiger Unterbau durch das politisch-intellektuelle Experiment eines großangelegten Einsatzes des sogenannten kulturellen Erbes gebildet wird.54
Die deutschen Kommunisten, die 1945 aus dem Exil nach Ost-Berlin zurückkehren, imitieren in ihrer Kulturpolitik, die über Jahrzehnte wesentlicher Bestandteil des parteilichen Selbstverständnisses der späteren SED sein sollte, gezwungenermaßen ein sowjetisches Vorbild. Das sich entwickelnde Kulturprogramm der jungen DDR kann, wie das der UdSSR, als Versuch eines präzise ausformulierten Plans kollektiver Identitätskonstruktion verstanden werden. Es betrachtet seine Gegenstände Literatur und Kunst unter der Prämisse ihrer Nützlichkeit zum Erreichen politischer Zielsetzungen. Durch die Vermittlung ideologischer Inhalte über den Weg kultureller, national aufgeladener Bezugsgrößen wird versucht, ein dem Staat und seinen Auffassungen günstig gestimmtes Kollektiv in der Bevölkerung zu erzeugen. Der Terminus „kulturelles Erbe“ bezeichnet dabei faktisch ein rein theoretisches Konstrukt, das von marxistischen Intellektuellen im Grunde genommen willkürlich definiert wird.55 Die Debatte um das Erbe legt inhaltlich einen präzise abgegrenzten...