Theater der Zeit

4.3.2 Zur Vereinnahmung mit-leidender Zuschauer*innen

von Theresa Schütz

Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)

Assoziationen: SIGNA

Die Leitenden des Vereins »Das halbe Leid«, Ehepaar Viola (Saskia Kaufmann, links) und Peter (Julian Sark, mittig) mit dem sprechenden Namen »Freund«, mit ihrer Ziehtochter »Hase« (Chiara Nicolaisen, rechts), Foto: Erich Goldmann
Die Leitenden des Vereins »Das halbe Leid«, Ehepaar Viola (Saskia Kaufmann, links) und Peter (Julian Sark, mittig) mit dem sprechenden Namen »Freund«, mit ihrer Ziehtochter »Hase« (Chiara Nicolaisen, rechts)Foto: Erich Goldmann

1. In pseudotherapeutischen Gesprächen werden die Leidenden dazu gebracht, ihre schlimmsten Ängste, ihre schamhaftesten Gedanken preiszugeben, sich demütigen und so näher an die Realität ihres Leids heranführen zu lassen. […] Für Dolores wird gebastelt, eine Hütte gebaut, in Aktivitäten wird versucht, ihre Präsenz heraufzubeschwören und ihr mit – notfalls durch Zwiebelsaft forcierten – Tränen eine Liebesgabe darzubringen […](Dickscheid, 2017).

2. It’s a little after midnight, and my mentor Lore (Sofie Ruffing) and I have joined a therapy session called «Crying with Viola». In the cloak room of the large, third-floor meeting room, Empathizer Viola (Saskia Kaufmann) explains the plan: she’ll be taking us, six workshop participants and two Sufferers, through a meditation exercise meant to help us lower our barriers – a key step in the empathy process. She places a shot glass in the middle of the circle to collect our tears as an «offering» to Dolores, the goddess of suffering. Then, pulling a raw onion from her pocket she adds: «we have help in case you don’t manage.» […] At Viola’s instruction, I close my eyes and listen to her slow, soothing voice: «Imagine a place you call home. What do you see? Maybe a corner you like to read in. Maybe a pet comes to greet you. How do you feel here? … Now wave goodbye to it all and walk out the door. You’ll never return again. Gone, gone.» As far removed as the described situation is from my life, a lump forms in my throat almost immediately. The workshop has already got me feeling vulnerable and just the suggestion of losing my home makes my eyes start to prickle. A sudden sniffle to my side interrupts my self-indulgence. I cast a glance around and, in the dim light, I can make out tears rolling down the cheeks of some of the participants. Not Lore’s, though. She’s unsettlingly still now, eyes open and staring straight ahead. She remains that way as Viola narrates scene after scene of loss and regret. As the exercise draws to a close, Lore suddenly lets out a wail, bursting into messy, violent sobs. Viola casts her a look and makes a quick «shh!» before turning to collect the offerings from participants who now smile shyly as they maneuver the shot glass under their eyes.197

3. Es ist 1:00 Uhr. Gemeinsam mit meiner Mentorin Pamela (Sonja Pikart) begebe ich mich zur Ecke im Frauenschlafsaal, in der Lonnie (Signa Köstler) und Lore untergebracht sind. »Weinen mit Viola« steht an, dazu gibt es Kamillentee. Wir bilden einen Kreis zwischen zwei Doppelbetten, sitzen nah beieinander. In der ersten Runde bittet uns Mitleidende Viola Freund, Mitgründerin des Vereins, reihum einmal zu sagen, was uns am traurigsten gemacht hat. Mir fällt nicht so richtig was ein, sage deshalb, dass ich es traurig finde, dass Pamela so ein zuversichtlicher und positiver Mensch ist, es aber doch nicht schaffe, etwas an ihren Umständen zu ändern. Zuschauerin Eva198 findet es sehr düster und beschreibt, dass alles hier so schwer und belastend sei und dass sie sich wie eingesperrt fühle. […] Im nächsten Schritt sollen wir uns alle gemeinsam dem Leid von Hase (Chiara Nicolaisen) zuwenden. Viola stellt sie als bemitleidenswertes Opfer dar, das in einen Streit mit einer anderen Leidenden geraten sei, in dessen Folge ihr die geliebten Hasenohren, mit denen sie immer herumläuft, mutwillig kaputt gemacht wurden. Lonnie mischt sich ein, fährt Viola an, dass sie sich nicht immer so um Hase kümmern soll, als sei sie ihr Kinderersatz. Es kommt zu einem Eklat zwischen den beiden, der die »Sitzung« torpediert. Pamela wird deshalb ärgerlich und sagt, dass sie die Aktivität dringend brauche, um schlafen zu können. Weil Viola wütend von dannen tappt, übernimmt Pamela die Aktivitätsleitung. Weil ihr die Zwiebeln fehlen, soll eine Minzdose den Zweck erfüllen. Reihum soll jede einmal kräftig daran riechen. Doch Tränen lassen sich auf diese Weise bei keiner von uns freisetzen.199

4. Viola, die Mitleidende, zertritt eine Zwiebel, hält sie sich vors Gesicht und atmet tief ein. Dann bittet sie Pamela, die Runde anzuleiten – sie schaffe das heute nicht. Pamela umklammert ihre Puppe und bittet uns, die Augen zu schließen. »Stellt euch euren liebsten Platz in eurer Wohnung vor«, beginnt sie. Sie gibt uns Zeit, wir sollen ihn genau ins Gedächtnis rufen. »Und jetzt stellt euch vor: Der Platz ist leer. Für immer.« Viola greift nach einem leeren Schnapsglas, lässt ihre Tränen hineinkullern und stellt es in die Mitte für die anderen. Pamela wiederholt die Übung, jetzt ist das liebste Erinnerungsstück dran. Ich denke an ein Foto meiner Oma und spüre einen Brocken in der Kehle. Als auch mein Freund verschwinden soll, wische ich Mascaratränen in die rosa Fleeceärmel […] (Trautwein, 2018).

5. Bei »Weinen mit Viola« hat niemand geweint, das hat nicht funktioniert. Ich habe da noch vom Leid Pamelas erfahren. Das war ja die Geschichte mit dem Vater, da war ich so … mmh, okay, das ist ganz schön verrückt, aber ich glaube, es war dann das Problem, dass es schon zu spät war, dass mir körperlich, also dass ich schon so angestrengt war, dass ich mich da nicht mehr wirklich reinfühlen konnte. Ich weiß nicht, ob’s jetzt einfach ein doofer Tag war für mich, um ins Stück zu gehen. Ich war früh aufgestanden und war dann wirklich nur noch müde, gleichzeitig konnte man ja auch gar nicht schlafen, und hat dann halt mit den Aktivitäten weitergemacht.200

Diese fünf unterschiedlichen Miniaturen oder Kommentare zur Szene »Weinen mit Viola« beschreiben die Involvierung von Zuschauer*innen in eine von mindestens 25 verschiedenen »Aktivitäten«, an denen SIGNA-Besucher*innen im Verlauf ihres zwölfstündigen Besuchs gemeinsam mit ihren Mentor*innen teilnehmen können. Weitere Aktivitäten sind z. B. »Körperschleusen«, bei der es darum geht, die Körperhaltung eines Leidenden anzunehmen und sich darüber somatisch einzufühlen; »Inferno«, das darin besteht, dass die Leidenden mehrere Minuten einem körperlichen Schmerz (wie mit nackten Knien und Gewichten auf einer gerillten Eisenstange auszuharren), den Kursist*innen noch verstärken sollen, indem sie so viele persönliche Fragen wie möglich stellen, um die Leidenden damit auch noch psychisch in einen schlechte(re)n Zustand zu versetzen, oder »Rückenwind«, eine Aktivität, die darauf abzielt, einem Leidenden seine negative Selbstwahrnehmung zu bestätigen.

Als Teilnehmer*in des Kurses hat man sich bestimmten, vom Verein vorgegebenen Regeln wie den bereits zitierten Leidsätzen unterzuordnen. Leidenden und Mitleidenden sind ebenfalls je fünf Leidsätze vorgeschrieben, nach welchen sie ihr Handeln im Verein auszurichten haben. »1. Ich lasse mein Leid geschehen. 2. Mein Leid ist groß und immer bei mir. 3. Was du nur ahnst, sehe ich die ganze Zeit. 4. Willst du mein Leid sehen, musst du bei mir sein. 5. Ich teile mein Leid mit dir« (vgl. Kursheft Das halbe Leid). So lauten die Maximen für die Leidenden, welchen im Kursgefüge die Aufgabe zukommt, Mentor*innen für die zahlenden Kursteilnehmer*innen zu sein. Innerhalb der Diegese erhalten sie im Gegenzug vom Verein zehn Euro Aufwandsentschädigung pro Tag, Wertmarken (z. B. für eine Mahlzeit oder zwanzig Minuten Computerspielen) sowie, wenn sie den »Kursisten des Tages« hervorbringen, die Chance auf den Gewinn einer All-Inclusive-Urlaubswoche zu zweit an der Mecklenburgischen Seenplatte. Der fiktive Verein ist klar hierarchisch strukturiert. Leidende sind den Mitleidenden untergeordnet. Bei besonders vorbildlichem Verhalten haben die Leidenden allerdings die Möglichkeit, zu »Mitleidenden auf Probe« aufzusteigen und stärker in das Kursleitungssystem eingebunden zu werden. Da die Zuschauer*innen nach der Begrüßungsrunde durch den Observationsraum von Überwachungs-Patrick (Dominik Klingberg) hindurch müssen, um zu den Schlafsälen zu gelangen, wird von Beginn an deutlich, dass der Verein seine Regeln mittels überwachender Kontrolle und Sanktionierungen durchsetzt und dass dies auch Zuschauer*innen zu spüren bekommen können, wenn sie nicht Folge leisten.

Die grundlegende Richtschnur, nach welcher der Verein seine Aktivitäten ausrichtet, basiert dezidiert nicht auf der Erzeugung von Mitleid, sondern auf Akten des Mit-Leidens. Der fiktive Verein »Das halbe Leid e.V.« kolportiert entgegen seines Namens ein Programm, das vorsieht, sich über das Prinzip des »Identitätswechsels« in einen Leidenden »vom Rand der Gesellschaft« einzufühlen, indem man sich ihm*ihr visuell angleicht, Teile der Lebensgeschichte erzählt bekommt und gemeinsam an Kurseinheiten teilnimmt, in deren Zentrum stets sein*ihr jeweiliges Leid steht, das gerade nicht minimiert, sondern anerkannt werden soll. Serkan (Raphael Souza Sá), einer der wenigen Mitleidenden auf Probe, formulierte es während meines ersten Aufführungsbesuchs im Rahmen der Aktivität »Inferno« wie folgt: »Du musst den Schmerz [selbst] empfinden, um ihn zu verstehen. Es ist wie Sex: Man muss die Erfahrung selbst machen, sonst weiß man nicht, wie es ist.« An die Stelle einer bloßen Vorstellung solle eine körperliche Erfahrung treten, anstatt um die Fähigkeit des Einfühlens geht es dem Verein also um die Kraft des aktiven Nach- bzw. Selbstfühlens.

Wie häufig bei SIGNA-Inszenierungen ist der der Aufführung von Das halbe Leid zugrunde liegenden Fiktion narrativ ein mythologisches Element beigegeben, das der eingerichteten Wirklichkeitssimulation einen innerdiegetischen, die Glaubwürdigkeit der Fiktion destabilisierenden Verfremdungseffekt verleiht. So huldigt man im Verein »Das halbe Leid e.V.« der Göttin des Schmerzes mit dem sprechenden Namen Dolores (vom Lateinischen »dolor«, dt. »Schmerz«, »Leid«). In der Halle gibt es außerhalb von Schlaf- und Therapietrakt eine aus Kleidung und Lumpen zusammengehaltene zeltartige Hütte, die für die Opfergaben an Dolores eingerichtet wurde. Die Sequenz »Weinen mit Viola« knüpft an das Dolores-Narrativ explizit an, indem Viola ankündigt, dass sie die entstehenden Tränen als Opfergabe sammeln werde (vgl. Miniaturen 1, 2 und 4).

Das im Hinblick auf die olfaktorische Involvierung des Publikums entscheidende Moment dieser Szene besteht nun darin, dass eine von der Mitleidenden angestrebte Traurigkeit aller künstlich provoziert werden soll, indem der Geruch von Zwiebeln und der chemische Effekt, den dieser bei vielen Menschen auszulösen vermag, Körper von Kursist*innen und Leidenden gleichsam in die gewollte Stimmung versetzen soll. Unterstützt wird dieser Vorgang von einer Imaginationsübung, die vorsieht, sich etwas potentiell Schmerzvolles (wie den Verlust des eigenen Zuhauses, vgl. Miniatur 2) vorzustellen. Wie die Miniaturen bezeugen, läuft diese Szene stets unterschiedlich ab; nicht zuletzt, weil sie sich innerdiegetisch schlüssig aus den jeweiligen Stimmungen der je beteiligten Figuren heraus entwickelt. Bei dieser wie auch den anderen Aktivitäten handelt es sich um hochgradig situative und gruppendynamische Konstellationen, deren Verlauf maßgeblich von der Mitwirkung des Publikums abhängt. Ob und wie intensiv sich eine solche Szene ergibt, hängt von mehreren Faktoren ab: der Glaubwürdigkeit des vorgetragenen oder vorgestellten Leids (dasjenige von Hase ist, wie Miniatur 2 zeigt, offenbar nicht so gut geeignet wie eine Imagination), der Anzahl an Teilnehmer*innen, die sich ernsthaft darauf einlassen und versuchen, sich wirklich etwas Schmerzhaftes vorzustellen (da dies zu einer komplexen affektiven Gemengelage aus potentieller, emotionaler Ansteckung, sozialem Druck, die Szene nicht ›kaputtmachen‹ zu wollen, indem man nicht ›richtig‹ teilnimmt, oder tatsächlicher emotionaler Überforderung im Verbund mit fehlenden Auffangsystemen führen kann) sowie der Uhrzeit der Aktivität und der Energie, die man als teilnehmende*r Zuschauer*in zu diesem Zeitpunkt noch hat oder vielmehr nicht hat, wie Miniatur 5 zeigt.

Die Miniaturen legen dar, dass es teilnehmende Zuschauerinnen gab, bei denen die Szene in ihrer Konstellation tatsächlich dazu geführt hat, gezielt Emotionen auszulösen (vgl. Miniaturen 2 und 4). Es wird zweimal beschrieben, wie sich der Eindruck einstellte, dass sich ihnen die Kehle zuschnüre. In beiden Fällen haben sich die Zuschauerinnen darauf eingelassen, sich situativ ein Vorstellungsbild zu machen, das aus der eigenen privaten Lebenswelt stammt und dazu führte, sie in jene emotionale Stimmung zu versetzen, die Viola eingefordert hat. Dies ist in mehrfacher Hinsicht bezeichnend: zum einen, weil es bei beiden Zuschauerinnen situativ nicht das Leid einer Leidenden war, in das sie sich eingefühlt haben, sondern ein leidbehaftetes Empfinden, das sie mit Rekurs auf ihre eigene Lebens- und Erfahrungswelt zu erzeugen vermochten. Denn es bleibt in ihren Ausführungen offen, ob sie diese Empfindungen – bezüglich eines vorgestellten Verlusts des eigenen Zuhauses oder einer geliebten Person, welche zu solcher Art einschneidender Ereignisse gehören, wie sie all die Leidenden in ihren fiktionalisierten Biografien vorzuweisen haben – anschließend auf das Leid der Leidenden übertragen haben oder sie nicht vielmehr bei den eigenen selbstbezogenen Assoziationen verblieben, was den Vereinsregeln widersprechen würde. Zum anderen führt diese Form der Zuschauer*innen-Involvierung durch unvoreingenommenes, emotionales Sich-Einlassen auf eine unbekannte Situation innerdiegetisch dazu, dass man der Logik des Vereins gehorcht und Gefühle des Leid(en)s nicht teilt oder minimiert, sondern zuvorderst bei sich selbst produziert. Und dies geschieht gleichsam auf dem Wege von der Simulation (über die Zwiebel) hin zur tatsächlichen körperlichen Reaktion (dem Empfinden einer zugeschnürten Kehle und kullernden Tränen), wobei die Tränen erst von einem Reiz ausgelöst werden, um dann, angereichert durch das Vorstellungsvermögen, für die anderen Anwesenden zu Zeichen tatsächlich empfundener Traurigkeit zu werden – und als solche dann auch zur Opfergabe an Dolores zu ›taugen‹.

Zuschauer*innen, die sich in einer solchen Szene emotional einlassen, werden nicht nur intensiv, weil hochgradig affizierend, in das situative Aufführungsgeschehen involviert, sondern nehmen auch aktiv an der innerdiegetischen Fiktion teil und bringen damit die Wirklichkeitssimulation mit hervor. Das Brisante an dieser Strategie der Zuschauer*innen-Involvierung durch das immersive Dispositiv – wenn sie denn so wie in Miniaturen 2 und 4 beschrieben abläuft – ist, dass die Zuschauer*innen dabei zugleich innerdiegetisch vom System des Vereins vereinnahmt werden, da sie mit ihrer aktiven Teilnahme, also dem gezielten Erzeugen einer spezifischen Emotion und/oder leidbehafteten Stimmung an den von Beginn an als äußerst ambivalent dargestellten Methoden des fiktiven Vereins partizipieren. Und wie bereits angedeutet, geht es diesem Verein nicht um das Minimieren von Leid. Es geht den Mitleidenden nicht darum, die psychische Situation der Leidenden, die bei ihnen Unterschlupf gefunden haben, zu verbessern, sondern im Gegenteil wird ihr Leid durch das Kursangebot für eine interessierte Öffentlichkeit aus der »Mitte der Gesellschaft« zum Kursmaterial, das vorsieht, dass sie ihr Leid immer wieder aufs Neue, für jede*n neue*n Kursist*in reenacten. Denn ihr Leid ist das, womit der Verein innerdiegetisch sein Geld verdient. Er nutzt die soziale Situation der Ärmsten und Abhängigsten aus und bereichert sich auf ihre Kosten. Zuschauer*innen werden mit ihrem Aufführungsbesuch und der innerdiegetischen Teilnahme als Kursist*innen also von Beginn an von diesem System vereinnahmt, insofern sie qua Regelwerk, Therapiemethoden, szenischem Gefüge und Mentor*innen-Nähe in dieses eingelassen werden. Und es ist fraglich, ob alle Zuschauer*innen – zumal wenn sie die Aufführung nur einmal besuchen – diese Vereinnahmung durch den Verein auch reflektieren.

Empathie-Empfindungen, auf welche konkrete Weise sie situativ auch ausgelöst wurden, sind im Kurs-Setting von »Das halbe Leid e.V.« dasjenige gesellschaftlich positiv valorisierte Gut, das es für die innerdiegetisch antretenden Teilnehmenden zu steigern gelte, um sich dadurch selbst besser zu fühlen. Denn »[w]ie die meisten menschlichen Fähigkeiten dient Empathie«, so Philosoph Fritz Breithaupt, »zunächst und vor allem demjenigen, der Empathie empfindet, und nicht dem, in den man sich einfühlt« (Breithaupt, 2017, S. 14). Das Setting in der fiktiven Institution ist für die Zuschauer*innen als Kursist*innen und nicht für die Leidenden eingerichtet.201 Sie sind es, die innerdiegetisch vom aufgeführten ›Sozialspektakel‹ profitieren sollen. Hier treffen sich Verein und die Institution Theater: Denn auch das (bürgerliche) Theater richtet eine Repräsentation von Welt ein, in der Figuren agieren, in deren Schicksal sich Zuschauer*innen einfühlen sollen, um sich dabei gleichsam selbst zu besseren Menschen zu erziehen. Mit dieser normativen Schlagrichtung konzeptualisierte es zumindest Gotthold Ephraim Lessing für das Theater der Aufklärung mit seinem berühmten an Dramen wie Nathan der Weise und Minna von Barnhelm entwickelten Diktum, wonach der mitleidigste Mensch zugleich auch der beste Mensch sei (vgl. Lessing, 1987, S. 120).202 Im immersiven Theater – so könnte man hier einen metatheatralen Kommentar der Inszenierung vermuten – wird diese Idee, sich nur qua Vorstellungskraft und emotionalem Nach-Empfinden in eine andere Figur/Person einzufühlen, von Beginn an verworfen und durch eine gesamtleibliche, multisensorische und handlungsbezogene Teilhabe an der fiktionalisierten Lebenswelt einer anderen Person ersetzt.

Der bereits zitierte Fritz Breithaupt definiert Empathie in Abgrenzung von Mitleid als »Mit-Erleben«, was bedeute, »dass man in die (kognitive, emotionale und leibliche) Situation eines anderen Wesens transportiert w[e]rd[e]« (Breithaupt, 2017, S. 16) und »imaginär den Standpunkt des anderen einzunehmen und seine oder ihre Reaktion auf die Situation zu teilen [habe]« (ebd.). Und dieses immersive Mit-Erleben soll in Das halbe Leid möglich gemacht werden, indem gleich zu Beginn ein*e Zuschauer*in einem*r festen Mentor*in zugeordnet wird. Auf diese Weise sollen Zuschauer*innen die Lebenswelt des eingerichteten Mikrokosmos aus der Perspektive einer ausgewählten Person kennenlernen. In meinem Fall sollte ich mich bei meinem ersten Besuch also in die fiktionalisierte Lebenssituation einer 42-jährigen Frau aus Wilhelmshaven versetzen, die als Kind von ihrem Onkel missbraucht wurde, eine depressive Mutter hatte, die sie nicht vor ihrem gewalttätigen Vater beschützen konnte. Susis Leben war geprägt von Essstörungen, Alkohol, einer abgebrochenen Ausbildung, ihrer Arbeit als Escort-Dame, Aufenthalten in einer psychiatrischen Einrichtung und dem Verlust ihrer beiden Kinder, für die ihr aufgrund ihrer Lebenssituation das Sorgerecht entzogen wurde. Vermutlich durch ihren Kontakt zu Freund Cliff rückte Susi zudem immer mehr in ein soziales Umfeld hinein, das rechtsradikalem Gedankengut nahesteht. Lasse ich mich als Zuschauer*in auf das Experiment eines fiktionalisierten »Identitätswechsels« ein – was die Inszenierung vorgibt –, bedeutet dies zugleich, mich von der Perspektive Susis temporär vereinnahmen zu lassen und zu versuchen, alles gleichsam durch ihre Augen zu sehen, Einsicht in ihre Gedanken und ihr Empfinden zu erhalten, um sie auf diese Weise besser verstehen und nachvollziehen zu können. Was auf der innerdiegetischen Ebene also eine Vereinnahmung im eher negativ konnotierten Sinne ist, erweist sich auf der Ebene der Aufführung durchaus als Chance. Zumal das Potential darin liegt, durch das körperliche, emotionale und handlungsbezogene Sich-Einlassen auf eine Figur, die eine Person repräsentiert, mit deren Lebenswelt man sonst im Alltag schlicht nicht in Berührung käme, seine eigenen, zuweilen festgefahrenen Wahrnehmungen, Reaktions- und Bewertungsweisen erweitern zu können (vgl. ebd., S. 206), um dann, wie es so viele Kritiker*innen von Das halbe Leid betonten, z. B. nach dem Aufführungsbesuch sein Verhalten gegenüber obdachlosen Menschen nicht nur zu überdenken, sondern auch zu verändern.

Die Analyse der olfaktorischen Publikumsinvolvierung in Das halbe Leid hat gezeigt, wie Gerüche Zuschauer*innen situativ einnehmen können. Sowohl im Falle von Susi als auch von Wolfgang hat die Wahrnehmung ihrer intensiven Körpergerüche dazu beigetragen, mich in die fiktionalisierte Lebenswelt zu involvieren. Vereinnahmende Wirkung zeitigten die Düfte allerdings zuvorderst auf der Ebene der Wirklichkeitssimulation. Sie affizierten mich unmittelbar und lösten in situ entweder eine bestimmte diffuse Empfindung (Sympathie bei Susi), eine distinkte Emotion, mit der eine körperliche Distanznahme einherging (Ekel bei Wolfgang), oder eine bestimmte biografisch bedingte Erinnerung (ans Theater) aus. Auf diese Weise beeinflussten sie situativ mein Reaktionsvermögen und nahmen sogar noch im Fortgang der Aufführung Einfluss auf bestimmte Szenen oder Situationen. Mit dieser Form der Vereinnahmung war aber zugleich auch eine Vereinnahmung zweiter Ordnung verbunden, insofern meine evaluativen Bezugnahmen in ihrer sozial-relationalen und damit transindividuellen Formierung als historisch und kulturell variable, eingeübte Weisen des Reagierens erfahrbar wurden. Als ich realisierte, dass die Geruchswahrnehmung Wolfgangs und die sich an ihn ›klebende‹ Emotion von Ekel zugleich auch Auswirkungen auf meine Beziehungsweise zu anderen Leidenden hat, stellten sich ob dieser Tatsache Schamgefühle ein, die mich ihrerseits dazu brachten, diese affektiven Dynamiken und ihre sozialen Konsequenzen zu reflektieren. In solch einem Moment kann Vereinnahmung eine Selbsterfahrung auslösen.

Die Prozesse der Vereinnahmung, zu denen es qua olfaktorischchemischem Trigger (Zwiebelduft) in der Sequenz »Weinen mit Viola« kam, waren wiederum solche, die Zuschauer*innen nicht zwingend selbst auffällig werden müssen. Denn was hier passierte, war, dass eine Situation, in der sich Zuschauer*innen emotional eingelassen haben, sich also freiwillig vereinnahmen ließen, um eine bestimmte Aktivität in der Wirklichkeitssimulation gemeinsam durchzuführen, auf der Ebene der Diegese als unfreiwillige Vereinnahmung deutbar wurde. Denn indem sich Zuschauer*innen darauf einlassen, eine körperliche Reaktion, die von einem chemischen Prozess ausgelöst wird, zum Ausgangspunkt einer Imaginationsübung zu machen, deren Ergebnis die Erzeugung von Schmerz und Traurigkeit ist, werden sie nolens volens von den Methoden des Vereins vereinnahmt, die davon ausgehen, dass Empathievermögen nicht über Mitleid oder Einfühlung, sondern nur über das eigene Mit-Leiden, über das eigenen Erleben selbstbezogenen Schmerzes gesteigert werden könne. Damit platziert die Produktion Das halbe Leid einen metatheatralen Kommentar zur Form immersiven Theaters, welche genau darauf zielt, Zuschauer*innen Situationen im Rahmen einer Wirklichkeitssimulationen selbst durchleben zu lassen, um nicht zuletzt die Komplexität sozialen Miteinanders erfahrbar zu machen.

197 Die Miniatur stammt von Theaterwissenschaftlerin Jessica Piggott. Wir haben die Aufführung Das halbe Leid am 8.12.2017 gemeinsam besucht und darüber eine gemeinsame Kritik verfasst, vgl. Schütz/Piggott, 2020, hier: S. 158.

198 Zuschauerin EW kannte ich bereits über SIGNAs Das Heuvolk. Sie hatte an meiner Zuschauer*innen-Befragung teilgenommen, woraufhin ich mit ihr im Zuge der Sichtung von Wir Hunde in Wien ein Interview geführt habe.

199 Aus meinem Erinnerungsprotokoll der zweiten Sichtung von Das halbe Leid am 7.1.2018 in Hamburg.

200 Auszug aus dem Interview mit Zuschauerin HP zu Das halbe Leid.

201 Der Ich-Bezug versteckt sich bereits in der gewählten Singularform in den Leidsätzen der Kursist*innen.

202 Nun geht es dem Verein allerdings ja explizit nicht um Mitleid, das ja für seine machtvolle und machtaufrechterhaltende Dimension u. a. von Historikerin Ute Frevert in einer entsprechenden historischen und kritischen Perspektive eingeordnet wurde (vgl. Frevert, 2013), sondern um sozial-relationale Situationen aktiven Mit-Leidens. Um sich also gerade nicht durch die Geste oder den Akt des Mitleids über jemand anderen zu erheben, soll nicht mit-empfunden, sondern qua analoger Erfahrungen selbst (nach-)empfunden werden.

 

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