Alma von Paulus Manker
von Theresa Schütz
Erschienen in: Recherchen 164: Theater der Vereinnahmung – Publikumsinvolvierung im immersiven Theater (05/2022)
Assoziationen: Österreich Paulus Manker
Bereits am 29. Mai 1996 fand die Premiere von Paulus Mankers Alma – A Show Biz ans Ende im ehemaligen Sanatorium Purkersdorf bei Wien statt. Innerhalb von 25 Jahren wurden 517 Aufführungen an elf Spielorten in sieben verschiedenen Ländern mit etwa 125.000 Zuschauer*innen gespielt.76 1995 lud der damalige Intendant der Wiener Festwochen, Klaus Bachler, Paulus Manker77 und Joshua Sobol78 ein, für die Festspiele ein Projekt gemeinsam zu entwickeln, für das sie ein halbes Jahr Vorbereitungs- und Probenzeit zur Verfügung gestellt bekamen. Vor dem Stoff stand bereits fest, dass es ein Simultanstück werden sollte, ein Drama, dessen Szenen nicht linear, sondern gleichzeitig verlaufen würden. Es sollte sich wie ein »Spinnennetz« (Tragschitz, 2012, S. 36) um eine zentrale Schlüsselfigur herum entfalten. Für diese waren zunächst die Schriftstellerinnen Else Lasker-Schüler, Lou Andreas-Salomé sowie die Kunstsammlerin Peggy Guggenheim im Gespräch (vgl. ebd.). Weil Sobol seit längerer Zeit plante, ein Stück über Gustav Mahler zu schreiben, schlug er Manker als Hauptfigur Mahlers Ehefrau Alma vor (vgl. ebd., S. 37). Die Wiener Komponistin Alma Schindler war nicht nur Ehefrau des Komponisten Gustav Mahler, sie war ebenso mit dem Architekten und Bauhaus-Gründer Walter Gropius sowie mit dem Schriftsteller Franz Werfel verheiratet. Überdies unterhielt sie zahlreiche Affären mit anderen berühmten Künstlern und Intellektuellen des 20. Jahrhunderts wie z. B. Gustav Klimt, Oskar Kokoschka, Alexander von Zemlinsky oder Paul Kammerer. Ihre Liebschaften boten sich als ideales Figurennetz an, entlang dessen ausgewählte Episoden aus dem Leben der Alma Mahler-Werfel im beginnenden 20. Jahrhundert dargestellt werden könnten.
Basierend auf Textfragmenten, die Almas Tagebüchern, ihren zahlreichen Briefwechseln, Biografien wie dem autobiografischen Text And the Bridge is Love (dt. Mein Leben) entnommen sind, schrieb Sobol im Herbst 1995 in Tel Aviv zahlreiche, etwa gleich lange englischsprachige Szenen und faxte sie nach Wien, wo Manker sie übersetzte (vgl. ebd., S. 37f.). Neben der Dramatisierung des (auto-)biografischen Materials fügte Sobol fiktive Elemente wie die beiden Figuren Hulda, eine antizionistische Widerstandskämpferin, und den Kammerdiener Almaniac (steht für Alma-Maniac), eine satirische Figur eines jüdischen von Alma besessenen Mannes, ein. Den Stückauftakt bildete der 100-xte79 Geburtstag der bereits verstorbenen Alma, zu dem sie all ihre ebenfalls schon verstorbenen Weggefährt*innen einlädt, um wie in einer gemeinsamen Zeitreise ihr Leben Revue passieren zu lassen. Es entstand ein Szenenkomplex, den die beiden »Polydrama« nennen, »a new form of dramatic expression« (Sobol, o. J.).80 Entscheidend für die dramatische Form ist, dass die Reihenfolge der Szenenrezeption irrelevant für das Verständnis der Weltversion ist (»every episode is a world in itself«, ebd.). Für die Inszenierung hat das zur Folge, dass mehrere Szenen und figurenbezogene Konflikte gleichzeitig stattfinden und dass das Publikum sich entscheiden muss, welchen Szenen es sich in welcher Reihenfolge zuwenden will. Alma ist somit eingeschrieben, dass Zuschauer*innen pro Abend immer nur eine kleine Auswahl der inszenierten Szenen mitverfolgen können. Als Inspirationsquelle für die Realisierung ihrer neuen Theaterform rekurrieren Manker/Sobol auf das damals noch recht junge Internet als Inbegriff eines nichtlinearen Mediums, das Nutzer*innen erlaube, nach eigenem Interesse durch die verschiedensten Inhalte zu »surfen« (vgl. ebd.).
Entlang dieser ersten Beschreibungen zum Entstehungskontext lässt sich festhalten, dass das Polydrama und seine Inszenierung auf drei Ebenen Formen von Multi- bzw. Polyperspektivität ermöglichen: a) auf der Ebene der verwendeten Quellen, b) auf der Ebene der Stückkomposition, welche nicht nur verschiedene Akteur*innen aus dem Leben der Alma Mahler-Werfel zu Figuren des Szenenkomplexes, sondern auch vier Alma-Figuren verschiedenen Alters vorsieht, und c) auf der Ebene der Rezeption, zumal alle Zuschauer*innen räumlich und im übertragenen Sinn ihre je eigene Perspektive auf den Stoff einnehmen können.
Für Alma stand vorab fest, dass es eine Raumbühne geben müsse, die die klassische Bühnensituation einer Trennung von Zuschauer*innen und Bühne zugunsten eines von Darsteller*innen und Zuschauer*innen gemeinsam geteilten Aufführungsraums überwinden, und dass das Gebäude, in dem die Aufführungen stattfinden, dezidiert kein Theater sein sollte. Der Produktionsleiter Alfred Deutsch schlug ihnen als »Genius Loci« das ehemalige Sanatorium Purkersdorf bei Wien vor (vgl. Tragschitz, 2012, S. 45f.). Der Reiz des Gebäudes lag für Manker neben seiner Architektur vor allem in seiner historisch-materiellen wie atmosphärischen Kraft der Zeugenschaft. Denn Gustav Mahler und weitere Menschen aus Alma Mahler-Werfels Umfeld waren nachweislich zur Jahrhundertwende im Sanatorium Purkersdorf zu Gast (vgl. ebd., S. 52ff.). Zu Probenbeginn war das Gebäude, das zu dem Zeitpunkt etwa dreißig Jahre leer stand, außen gerade fertig renoviert, innen allerdings verfallen und ohne Strom und Wasser. Dennoch zog Manker mit seinem Schauspieler*innen-Ensemble dort für mehrere Monate, bis nach Ende des ersten Aufführungsblocks, ein (vgl. ebd., S. 47).
Für Manker kam der Spielort zunehmend einem »Filmset« gleich, welches der Zuschauende mit allen Sinnen und nach eigenem Ermessen durchwandern könne (vgl. Manker, 2012). Auf diese Weise könnten Zuschauer*innen von Alma die Rolle einer imaginären Kamera einnehmen: Sie können – worauf auch der Programmflyer verweist – nicht nur die Szene frei wählen, sondern auch über die jeweilige Distanz zum Geschehen entscheiden, ob sie perspektivisch einer »Totale« oder einer »Nahaufnahme« folgen wollen. Der Gast bzw. »Zuschauer als Kamera«81 werde dabei gleichsam zum Regisseur seines eigenen Films, bei dem er über Einstellungen, Perspektiven, Reihenfolgen, Dauer und Schnitte selbst entscheiden dürfe – nur dass der Film nicht materiell, sondern lediglich im eigenen (Körper-)Gedächtnis gespeichert werden könne.
Da Alma Mahler-Werfel das Zentrum des Figurennetzes bildet und von ihr alles ausgeht, gibt es vier verschiedene Alma-Darstellerinnen, die jeweils einen unterschiedlichen Zeitraum innerhalb der historischen Ereignisse im Leben Almas repräsentieren. Folgt man während einer Aufführung nur einer Figur, z. B. den Szenen mit Franz Werfel, Almas letztem Ehemann, bekommt man ein ganz und gar anderes Bild auf Alma, als wenn man für einen Aufführungsbesuch nur den Szenen der jungen Alma folgt (vgl. Kap. 4.1). Teil des Konzeptes ist, dass sich die Zuschauer*innen im Anschluss über die jeweils verpassten Szenen austauschen82, dass sie »wie am Schneidetisch« (vgl. Programmflyer, Regel 9) das gesehene, erlebte und erinnerte Material montieren. Zudem potenziert sich die mit dem Polydrama avisierte Polyperspektivität im Publikumsaustausch noch einmal und führt – in Idealfall für Manker – auch dazu, dass die Zuschauer*innen die Inszenierung ein weiteres Mal besuchen.83 Zur Wirkungsweise des immersiven Theaterdispositivs von Alma gehört, dass Zuschauer*innen nicht nur audiovisuell und imaginär, sondern auch haptisch, olfaktorisch und gustatorisch in den gestalteten Mikrokosmos integriert werden. Alle Requisiten dürfen angefasst und gerochen, Bücher durchblättert, ein paar Noten auf dem Klavier gespielt und auch in der Küche darf etwas von den zubereiteten Speisen probiert werden (vgl. Manker, 2012). Zuschauende werden zu temporären Gästen im fiktionalisierten, theatral durchgestalteten Hause der Schindlers, Mahlers oder Werfels.
Abgesehen von der bereits zitierten Diplomarbeit von Eva Tragschitz (2012) ist mir keine weitere theaterwissenschaftliche Forschung zu Mankers Alma oder zu seiner aktuellen Theaterarbeit Die letzten Tage der Menschheit bekannt. Für meine Analyse stütze ich mich auf meine zwei Sichtungen von Alma im Sommer 2018 in Wiener Neustadt, an dem letzten und vermutlich ungeeignetsten Ort der Aufführungsgeschichte. Die Roigk- bzw. »Serbenhalle« steht in Wiener Neustadt dort, wo 1842 die Raxwerke, eine Fabrik für Lokomotiven, gegründet wurden. Sie wurde während des Zweiten Weltkriegs aus dem serbischen Kraljevo als Kriegsbeute nach Österreich gebracht und von Zwangsarbeiter*innen auf dem Areal der stillgelegten Raxwerke wiederaufgebaut. Als Außenstelle des KZ Mauthausen wurde die Serbenhalle 1942 zu einem Arbeitslager, in dem Waffen und Raketen für den Zweiten Weltkrieg produziert wurden. In Serbien wurde sie zum grausamen Schauplatz des Massakers von Kraljevo und Kragujevac, bei dem 1700 Menschen ums Leben kamen. Ihre Geschichte ist durch die Gräueltaten der Nationalsozialisten doppelt belastet. Ein biografischer Bezug, den Manker stets für alle seine Spielorte von Alma einforderte, ist hier lediglich durch Oskar Kokoschkas Dragoner-Ausbildung an der Militärakademie in Wiener Neustadt 1915 gegeben (vgl. Programmbuch, S. 151). Ein impliziter Bezug ist der latente Antisemitismus Alma Mahler-Werfels, der – obgleich sie mit zwei jüdischen Männern verheiratet war – in ihren Tagebüchern und Briefen (und damit auch in der Inszenierung) immer wieder deutlich aufscheint, ohne problematisiert zu werden.84
76 Ich beziehe mich hier auf die Angaben aus dem Programmbuch 500 Aufführungen Alma (1996-2018) – A Show Biz ans Ende, das 2018 erschien und an Zuschauer*innen der Aufführungen dieses Jahrgangs ausgegeben wurde. Aufgrund des großen Erfolges von Alma bei den Wiener Festwochen 1996 und der großen Leidenschaft Mankers für seine Theaterform wurde die Inszenierung unter ökonomisch teils schwierigen Umständen mehrfach und an verschiedenen Orten wiederaufgenommen. Weitere Informationen zu den Aufführungen finden sich auf der Homepage https://www.alma-mahler.com. Die Seite fungiert darüber hinaus als umfassendes Online-Archiv, das u. a. Stückfassung, Fotos, Pressematerial und historisches Kontextmaterial beinhaltet.
77 Paulus Manker stammt aus einer österreichischen Theaterfamilie. Er studierte Regie und Schauspiel am Max-Reinhardt-Seminar in Wien, bevor ihn erste Festengagements u. a. an das Schauspielhaus Frankfurt führten, wo er unter der Intendanz von Peter Palitzsch noch die letzte Zeit des Mitbestimmungsmodells miterlebt hat. 1983 begann die intensive Zusammenarbeit mit Regisseur Peter Zadek, der ihn 1986 ans Schauspielhaus Hamburg und später unter der Intendanz von Claus Peymann ans Wiener Burgtheater holte.
78 Joshua Sobol ist ein israelischer Dramatiker, Theaterleiter und Romanautor. Manker inszenierte 1988 Sobols Stück Weiningers Nacht in Wien. 1995 begann mit Der Vater im Rahmen der Wiener Festwochen die gemeinsame Theaterarbeit, die sich 1996 für Alma, 1999 für F@lco – A CyberShow und 2001 für iWitness fortsetzte.
79 Die Zählung richtet sich nach dem Abstand zwischen dem jeweiligen Aufführungsjahr und dem Geburtsjahr Almas 1879. Da ich die Aufführung 2018 besuchte, war ich als Zuschauerin zur fiktiven Feier ihres 139. Geburtstags eingeladen.
80 Eva Tragschitz weist darauf hin, dass mit Tamara von John Krizanc (Regie: Richard Rose) in Kanada bereits 1981 ein vergleichbares Polydrama zur Uraufführung kam (Tragschitz, 2012, S. 4), was Manker/Sobol angeblich nicht kannten. Das Stück basiert auf der Biografie Tamara de Lempicka e Gabriele D‹Annunzio von Aelis Mazoyer und entstand für das Toronto World Stage Festival. Auch hier bestand die formale Idee darin, die Handlung auf verschiedene Szenen, die parallel in einem Gebäude stattfinden, aufzuteilen und das Publikum damit nicht nur zu mobilisieren, sondern gleichsam selbst zum*zur Autor*in des Stücks zu machen, vgl. Krizanc/Boje, 2006, S. 74. Spielort war das ehemalige Strachan House, eine Villa im Trinity Bellwoods Park in Toronto. In der fiktiven Aufführungsrealität steht es für das Wohnhaus des Dichters Gabriele D’Annunzio im faschistischen Italien des Winters 1927. Die titelgebende Tamara de Lempicka war eine polnische Art-Déco-Malerin, die für zehn Tage bei D’Annunzio zu Gast war, um ein Porträt von ihm anzufertigen. Die Aufführung war so erfolgreich, dass sie danach zehn Jahre in Los Angeles zu sehen war, an verschiedenen Orten in Südamerika gastierte und seit 2012 bis heute – bezeichnenderweise – im VENETIAN in Las Vegas gespielt wird, jenem über Biegers Ausführungen in unserem Zusammenhang bereits bekannten Ort, vgl. Tragschitz, 2012, S. 21; vgl. Kap. 1.2. Marvin Carlson rekurriert in seinem Aufsatz »Immersive Theatre and the reception process« ebenfalls auf Tamara, um auf die Genealogie von immersivem Theater und Raumbühnen-Experimenten hinzuweisen, vgl. Carlson, 2012, S. 19f.
81 Zu der Wendung von Manker/Sobol heißt es auf der Alma-Website weiter: »Sie sind eine Kamera. Konzentrieren Sie sich auf ein Objekt Ihrer Wahl und folgen Sie ihm wie eine Kamera. […] Wenn Sie nur einem Objekt folgen, verwandelt es sich in Ihren ganz persönlichen Hauptdarsteller. Seine Figur führt Sie durch Almas Leben. Sie können jedoch die Objekte während der Aufführung auch wechseln und sich dadurch ein Handlungs-Mosaik zusammenstellen. Ihr Auge schreibt das Theaterstück!«, einzusehen unter: http://alma-mahler.com/deutsch/on_tour/05_kamera.html, letzter Zugriff 6.3.2021.
82 Hierfür bleibt der Spielort nach den Aufführungen zumeist noch länger geöffnet und es werden kostenlose Getränke zum gemeinsamen Ausklang und Austausch gereicht.
83 Wie so häufig bei immersiven Theaterformen gibt es auch bei Alma einige »Super-Fans«, die der Arbeit nachgereist sind und es auf mehr als siebzig Aufführungsbesuche bringen, vgl. Programmbuch, S. 35.
84 Am konzisesten weist dies die Biografie von Oliver Hilmes nach. Er bezieht sich im Gegensatz zu den ersten Biografinnen nicht primär auf Almas Autobiografie Mein Leben, sondern mit Der schimmernde Weg und Meine viele Leben auf zwei im Nachlass entdeckte, überarbeitete Versionen ihrer Tagebücher. Sie machen deutlich, in welchem Maße Alma in Mein Leben Textteile verändert, ausgespart oder bereinigt hat, so z. B. bei der Beschreibung ihrer Begegnung mit Adolf Hitler auf einer Lesereise in Deutschland 1932, vgl. Hilmes, 2005, insbesondere S. 22.