Auftritt
Theater für Niedersachsen Hildesheim: Das Denken lernen mit Rap und Swing
„Sofies Welt“ nach dem Roman von Jostein Gaarder – Inszenierung und Choreografie Pascale-Sabine Chevroton, Bühne und Kostüme Anna Siegrot, Musikalische Leitung Andreas Unsicker, Libretto von Øystein Wiik, Musik Gisle Kverndokk, Idee und Bearbeitung Inger Schjoldager und Øystein Wiik
von Lina Wölfel
Assoziationen: Niedersachsen Theaterkritiken TfN • Theater für Niedersachsen

Braucht die Welt mich, um als solche zu existieren? Existiert sie überhaupt außerhalb meiner Vorstellungen? Und wenn sich nur ein einziges Detail in meinem Leben verändern würde –ich zum Beispiel einen anderen Namen hätte – wäre die Welt dann immer noch die gleiche? Es sind die großen philosophischen Fragen, denen sich der Roman „Sofies Welt“ vom norwegischen Autor Jostein Gaarder widmet. Ursprünglich als philosophische Einführung für ältere Kinder gedacht, hat der Roman auch viele erwachsene Leser:innen gefunden. Das Theater für Niedersachsen in Hildesheim hat den Bestseller als Musical für die Bühne adaptiert und die Regisseurin Pascale-Sabine Chevroton zeigt klug und ästhetisch reichhaltig, wie Musicaltheater einen Einstieg in komplexe Thematiken leisten kann, wenn man denn seine Zielgruppe und die Möglichkeiten der eigenen Kunstform ernst nimmt.
Hilde steht zwischen hohen Aufbauten, in der Hand einen Brief ihres Vaters. Entlang der Theorien bedeutender Philosoph- und Vordenker:innen, will er ihr zeigen, wie man das Denken lernt. Denn „wer denken kann, weiß vielleicht, wie man eine bessere Welt schafft“, Erkenntnistheorie und Ethik miteinander verknüpft. Dafür schreibt er seiner Tochter im Verlauf der nächsten Woche Briefe, schildert ihr die wichtigsten Epochen der Philosophie anhand einer Figur: Sofie, die ihrerseits von einem Unbekannten, Alberto Knox, Briefe mit Denkaufgaben und philosophischen Fragen erhält. Hilde streift ihr Haargummi und eine Strickjacke ab und ist Sofie. Das Bühnenlicht wird heller, im Hintergrund blinzeln einige Sterne auf und die beiden Wände neben ihr entpuppen sich als riesige Ausgaben von „Philosophie des Mittelalters“, „Lexikon der Renaissance“ und „Die Entdeckung der Arten“ von Charles Darwin. Dazu singt Sofie vom Aufbruch in eine neue Welt, davon, dass nichts mehr so sein wird wie zuvor. Es mag genau das Gegenteil von Brechts Epischem Theater sein, der maximale Pathos, die maximale Emotionalisierung. Aber es funktioniert.
Vor den Augen der Zuschauenden öffnet sich eine gänzlich neue Welt – eine Reise von der Antike bis ins zwanzigste. Jahrhundert, von Aristoteles und Platon bis Sigmund Freund. Der clevere Schachzug der Musicalfassung: jede Epoche bekommt ihren eigenen Musikstil. So tanzen die antiken Philosophen zu Jazz auf dem Marktplatz von Athen, Thomas von Aquin und Hildegard von Bingen geben sich ein Rap-Battle im Mittelalter, René Descartes verzweifelt an der Barockoper, Søren Kierkegaard tänzelt zu Samba-Klängen und Freud hat natürlich den Blues. Dabei gelingt es Chevroton die Beziehung zwischen Sofie und Alberto einerseits und Sofie und den Philosoph:innen andererseits ohne permanentes Ageism- und Mansplaining-Unbehagen anzulegen. Sofie eignet sich die Theorien an, stellt kritische Nachfragen und denkt sie vor allem weiter. Kongenial dazu funktioniert auch das Bühnenbild der Hildesheimer Inszenierung von Anna Siegrot. Die Titel der übergroßen Philosophie-Schinken können angeleuchtet werden, dazwischen werden im Hintergrund Sofies bzw. Hildes Notizen zu den jeweiligen Theorien aufgeblättert, inklusive Zeitstrahl, Zitaten und Abbildungen. Intelligent zusammengehalten wird diese fragmentarische, fast schulstundenartige Aneinanderreihung durch die dramaturgische Genauigkeit sowie das konsequente Kostümbild.
Sofies Welt ist eine runde Sache. Ein guter Einfall wird eben, wir danken für den Beweis, nicht dadurch schlechter, wenn man es bei ihm belässt. Ja, man darf Theater auch einfach mal genießen und sich verzaubern lassen. Hinzu kommt, dass Katharina Wollmann, die sowohl Sofie Amundsen als auch Hilde Møller Knag porträtiert, beeindruckendes leistet. Es gelingt ihr nicht nur klar zwischen Sofie und Hilde zu wechseln, sondern mit Genauigkeit und Gespür den individuellen Charakter der beiden Figuren herauszuarbeiten. Obendrein singt sie – trotz Krankheit – phänomenal. Ebenso brilliant Raphael Dörr dessen, extrovertierte – und im Vergleich zum Roman deutlich agilere – Interpretation von Alberto Knox fast etwas vom verrückten Hutmacher aus Alice im Wunderland hat. Grundsätzlich muss man aber sagen, dass die gesamte Inszenierung eine Ensembleleistung ist. Lucía Bernadas Cavallini, Katharina Schutza, Kathrin Finja Meier, Samuel Jonathan Bertz, Daniel Wanecke, Jürgen Brehm, Paul Fruh, Louis Dietrich, Linus Hampe, Franziska Schonebeck und der Extrachor des Theaters schaffen es, jeder Figur – vom Philosophen bis zur Mutter – einen eigenen Dreh zu geben, ohne dabei ins Archetypische abzudriften.
Und auch wenn das Musical etwas schwammig als „Familienmusical“ übertitelt ist, zeigt die Inszenierung so, dass Theater, das auch junge Menschen ansprechen soll, nicht bei den glühenden Bäckchen und leuchtenden Augen aufhören muss. Natürlich ersetzt die Inszenierung kein Philosophiestudium. So, wie der Roman den jüngeren Sprösslingen eines vermutlich überwiegend akademischen Bildungsbürger:innentums einen Einstieg in philosophische Theorien ermöglichen sollte, ermöglicht das Musical, dass man sich mit den Stoffen beschäftigen möchte, obwohl man nicht wusste, dass man sich für Philosophie interessiert. Sofies Welt als Musical ist vielleicht nicht der neueste vogue Scheiß, aber öffnet geschlossene Zeichensysteme und baut so Zugangsschwellen ab. Auch für bereits theateraffine Menschen, die sich nach Unterhaltung sehnen, ohne dabei ins Stumpfe abzudriften.
Erschienen am 23.12.2022