Thema: Kinder- und Jugendtheater
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Haltungen zu formulieren fällt immer schwerer – Gespräch
von Stefan Fischer-Fels, Patrick Wildermann, Kay Wuschek und Jutta Maria Staerk
Erschienen in: Theater der Zeit: Jürgen Holtz – Schauspieler und Scharfdenker (04/2015)
Assoziationen: Kinder- & Jugendtheater Grips Theater Theater an der Parkaue Comedia Theater
Frau Staerk, Herr Fischer-Fels, Herr Wuschek, wenn Sie auf die vergangenen Jahre schauen: Haben sich im Kinder- und Jugendtheater stärker die Ästhetiken gewandelt? Oder doch eher die Themen?
Kay Wuschek: Die Arbeitsweisen und der Umgang mit Stoffen waren immer vielfältig. Über manche Diskussionen im Erwachsenentheater können wir nur lachen. Wenn Kritiker zum Beispiel staunen: Plötzlich werden Romane auf die Bühne gebracht! „Pinocchio“ ist auch ein Roman, „Die Schneekönigin“ eine Erzählung. Hat da nie jemand über den Tellerrand geguckt? Oder zu uns? Ästhetisch müssen wir uns natürlich fragen, wie das Theater der Zukunft aussehen soll. Weil wir ja angeblich das Publikum der Zukunft haben. Obwohl es eher das der Gegenwart ist.
Stefan Fischer-Fels: Kay war mit der Parkaue ja Pionier, er hat als Erster sehr mutig diese postdramatischen und performativen Formen eingebracht. Das hat die gesamte Kinder- und Jugendtheaterlandschaft verändert. Das Tolle ist, dass ein gut ausgestattetes Haus das experimentierfreudigste ist. Ein kleines Haus kann sich möglicherweise genau das nicht leisten.
Jutta Maria Staerk: Das ist genau der Punkt. Wenn ich Projekte wie „Taksi to Istanbul“ mache, „Methode Baklava“ und vielleicht noch ein entwickeltes Recherchestück, brauche ich daneben ein paar stabile Stützen im Spielplan.
Fischer-Fels: Das ist für euch wahrscheinlich auch ein Balanceakt, oder, Kay?
Wuschek: Eher eine Pendelbewegung. In dieser Spielzeit haben wir sieben Autoren miteinander arbeiten lassen, von David Lindemann bis Bonn Park. Wir haben ja die Chance, nicht im Sumpf von gestern stehen bleiben zu müssen, sondern uns jedes Jahr neu entwerfen zu können. Drei Jahre lang hat mich kein Autor interessiert, auf einmal entflammt mich jemand, und ich ziehe neu los.
Und die jungen Zuschauer ziehen automatisch mit?
Wuschek: Nicht automatisch, auch Sehen ist ja eine Übung. Ich gehe ja auch nicht zu einem Fußballspiel, ohne zu wissen, was eine Außenlinie oder ein Abseits ist. Theater wird dagegen oft für voraussetzungslos gehalten. Nein, das muss man schauen und beschreiben lernen. Um überhaupt darüber zu reden und sich streiten zu können. Die Chance ist gegeben bei jungen Zuschauern, gnadenlos wunderbar. Die reden über Inhalte und sind hart mit dem Autor.
Fischer-Fels: Als Ergänzung: Mich interessiert vor allem auch die Niedrigschwelligkeit des Kinder- und Jugendtheaters. Wir sind das Volkstheater, das inklusive Theater, das für alle Schichten erreichbar ist. Ich will auch diejenigen erreichen, die noch nicht von ihrem Papi in die Oper geführt worden sind. Das ist aber schwerer geworden, weil die Bildungsschere so weit auseinanderklafft. Man kann nicht mehr voraussetzen, dass alle Kinder im Publikum die gleiche Geschichte verstehen. Oder sich mit den gleichen Figuren identifizieren können.
Stehen Sie in Köln vor den gleichen Herausforderungen, Frau Staerk?
Staerk: Wie ich die Kinder erreiche, die niemals mit der Familie am Wochenende kommen, beschäftigt mich sehr. Ich erlebe in den Vorstellungen, wie sie dran sind, aber auch, wie sie abgeschnitten sind. Dass sie nach der Vorstellung die Lehrer fragen: Darf man auch die Eltern mal mitbringen? Was das betrifft, hat Petra Fischer in Zürich interessante Konzepte entwickelt. Patenmodelle umgekehrt gedacht. Kinder bekommen Einladungen in verschiedenen Sprachen mit nach Hause, die sie ihren Eltern vorlegen können.
Haben Sie dabei unmittelbar den eigenen Kiez im Blick?
Staerk: Die COMEDIA hat ein tolles großes Haus, mit zwei Bühnen, fünf Workshopräumen und einer Probebühne. Und zwar in der Südstadt. Sicher, es gibt auch hier ein Flüchtlingsheim in der Nähe, aber es ist doch ein relativ gesetzter Stadtteil. Wir müssen aber Formen finden, wie wir auch in andere Viertel wirken können, nicht nur für Recherchevorgänge. In unserer Stadtgesellschaft ist Theater ja nicht mehr selbstverständlich der Ort, wo alle hinwollen und hinströmen.
Fischer-Fels: Ich stimme dir zu, für mich ist Kindertheater integraler Teil einer Stadtkultur, das heißt vor allem erst mal: zuhören, was Kinder oder Jugendliche bewegt, welche Themen hochkochen. Die Stücke, die ich in den vergangenen Jahren produziert oder auch gesehen habe, hatten oft mit der Abwesenheit von Erwachsenen und der Einsamkeit von Kindern zu tun. Der Stress der Eltern produziert einsame Kinder, die sich fragen, wie sie ohne funktionierende Familienverbände erwachsen werden können.
Und für solche Themen sind postdramatische Formen geeignet? Läuft man da nicht nur einem Innovationsdruck aus der Erwachsenenwelt hinterher?
Staerk: Ich bin überzeugt, dass das Theater, das auch im Kinderund Jugendgenre unter postdramatisch läuft, ein guter Weg ist. Da wird oft in kürzeren Bögen gearbeitet, eine Figur nicht zu lange verfolgt. Damit ist man oft direkter an den Lebenswelten des Publikums dran, was Zugänge ermöglicht.
Wuschek: Die Eltern und die Großeltern glauben immer schon zu wissen, was Theater ist. Kinder sagen nicht: Das ist aber nicht „Peter und der Wolf“! Die haben damit überhaupt kein Problem, die nehmen das erst mal ganz direkt.
Fischer-Fels: Die performativen Künste haben die Möglichkeit, collagierter, mosaikartiger über Zusammenhänge zu erzählen. Ich suche zum Beispiel schon lange nach funktionierenden Dramaturgien für das Thema Globalisierung. Da gibt es bislang noch nicht viel. Performative Formen sind geeignete Mittel, um durch Zeiten und Orte zu reisen.
Geht der Trend bei Ihnen allen zur Globalisierung?
Wuschek: Ich bin augenblicklich auf einer ganz anderen Suche. Mir fehlen die Blockbuster. Aus diesem Grund haben wir David Lindemann beauftragt, einen James Bond für Kinder zu schreiben, „Herr Fritz vom Geheimdienst“. Da geht es plötzlich um Überwachung. Wir haben die Fassung von Kindern spiegeln lassen. Irre, zu erleben, wie die in diese Welt eintauchen, wo unentwegt reflektiert wird, wie wir zwischen Fiktion und Realität hin und her switchen, wie um uns herum alles echt oder unecht sein kann.
Fischer-Fels: Kay weist ja darauf hin: Unsere Kinder sind die erste Generation, die mit dem Netz in der DNA groß werden. Darauf müssen wir, wenn wir Lebenswelt reflektieren wollen, reagieren, genau mit solchen Projekten.
Staerk: Das heißt für mich aber nicht, dass es nur postdramatisches oder performatives Theater geben soll. Ich bin ein großer Fan von guten Geschichten. Hier hat das Theater als Live-Medium auch immer noch einzigartige Möglichkeiten, insofern werden Geschichten auch immer Bestandteil unserer Spielpläne bleiben.
Wir halten fest: Kinder sind grenzenlos offen. Aber die Lehrer womöglich nicht. Und auf Schulklassenbesuche sind Sie alle angewiesen.
Staerk: Wenn eine Aufführung gut gemacht ist, lassen sich auch diejenigen überzeugen, die vorher skeptisch waren. Auch unter den Lehrern findet ja ein Generationenwechsel statt. Ich gebe auch Seminare für angehende Lehrer im Bereich Kinder- und Jugendliteratur. Dabei begegnen mir allerdings auch viele Studentinnen und Studenten, die überhaupt nicht wissen, was Kinder- und Jugendtheater ist.
Wuschek: Ich erlebe, dass bestimmte Themen schwieriger werden. Das liegt allerdings nicht nur an den Lehrern, sondern eher an den Eltern, die ihnen auf die Hacken treten. Alles, was mit Angstwelten zu tun hat, mit Nacht oder mit Grusel, könnte ja das Kind verstören. Eltern stehen auf der Matte, weil das Kind nachts um drei aufgewacht ist, zu Mami ins Bett kam und das ganze Stück erzählt hat. Das wollen wir ja nicht! Oder doch?
Fischer-Fels: So etwas erlebt man aber auch, wenn es um sozialen Realismus geht. Um Gottes willen, wie sollen wir denn damit umgehen? Es gab in den Neunzigern ein wunderbares Stück am GRIPS, „Kloß im Hals“, das von Essstörungen handelte. Das wurde nicht angenommen von den Lehrern, weil sie Angst hatten, was sie in der Klasse danach möglicherweise bereden müssten. So was erleben wir immer wieder, auch heute.
Wuschek: Das ist aber unsere eigentliche Aufgabe: zu thematisieren, was gesellschaftlich schwierig zu bereden ist. Weil Theater ein geschützter Ort sein kann, wo ich Probleme entfalten und darüber diskutieren kann.
Staerk: Die Theater bieten ja gerade bei schwierigen Themen, zum Beispiel Tod eines Geschwisterkindes in unserem Stück „Schwestern“, viel zur Begleitung an. Es gibt eine Materialmappe, die den Lehrern mögliche Zugänge sowie eine Vor- und Nachbereitung anbietet. Es gibt Theaterpädagogen, die auch in die Klassen gehen, wenn es gewünscht ist. Kein Lehrer muss Angst vor einem Thema im Theater haben.
Wuschek: Wir sind doch die letzte Kunst, wo der Mensch im Zentrum steht. Um den geht es. Um seine verdammten Sehnsüchte, seine Angst, als Tier zu enden, um seinen Traum, Engel zu werden. Höhen und Tiefen dieses Lebens. Traum und Trauma jeder Person. Wenn wir aber denken, wir müssten Vorsicht walten lassen, sind wir unkomplett.
Finden Sie international Vorbilder für Ihre Arbeit, vielleicht auch mutigere, freiere Produktionen?
Wuschek: Wir hatten an der Parkaue ein Meeting mit der schwedischen Theaterszene, das unglaublich spannende Gesprächsfelder aufgemacht hat. Ich finde es großartig, wie sich das Unga-Klara-Theater mit Genderfragen auseinandersetzt. Oder was für einen Arbeitsprozess das Backa-Theater aus Göteborg entwickelt hat. Dort nimmt man sich „Verbrechen und Strafe“ von Dostojewski mit dem Ziel vor, drei Abende für unterschiedliche Altersklassen daraus zu machen. Über ein halbes Jahr. Die Frage ist, was es braucht, um solche Räume innerhalb des Alltagsgeschäfts zu organisieren.
Staerk: Das ist natürlich die große Wunde. Die gesamte freie Szene Kölns bekommt von der Stadt Zuschüsse in Höhe von zwei Millionen Euro. Ein Haus wie unseres, das von seiner Größe und dem Potenzial her durchaus wie das GRIPS Theater dastehen könnte, hat 400 000 Euro im Jahr von der Stadt. Das Land gibt noch einmal 200 000 Euro dazu, den Rest müssen wir selbst einspielen. Wie sollen da Schutzräume für solche Entwicklungsprozesse entstehen?
Fischer-Fels: Das ist natürlich auch eine Frage der Prioritäten. Wenn ich Internationalisierung will, muss ich möglicherweise auf anderes verzichten. Wir kriegen das Geld ja auch nicht hinterhergeworfen, Kontakte zum Unga Klara in Schweden, zur NIE-Company oder zu Nevski Prospekt in Belgien geben uns wichtige Anregungen. Wir haben am GRIPS erstmals Projekte auf Augenhöhe mit Partnern in Indien oder Brasilien angestoßen. Was mich dabei inhaltlich interessiert, ist der Perspektivwechsel. Ich sehe ein Thema anders, wenn es mir aus Indien oder Brasilien erzählt wird.
Wuschek: Aber dabei lasst ihr doch ästhetische Fragen nicht außen vor. Es geht doch nicht nur um den Perspektivwechsel. In Brasilien oder Indien hat man einen anderen Begriff vom Schauspieler; Probenpraxen laufen ganz anders ab. Und indem man sich dem aussetzt, befragt man sich selbst.
Staerk: Bei uns sind Kooperationen nicht ohne Drittmittel möglich. Die Befragung findet eher dort statt, wo wir reisen, im Dialog sind und versuchen, das auf unsere Arbeit zurückzuprojizieren.
Wie wichtig ist der Austausch auf Festivals?
Fischer-Fels: Die Festivals spielen eine wichtige Rolle in der deutschen Kinder- und Jugendtheater-Landschaft, zum Beispiel Schöne Aussicht, Panoptikum, Augenblick mal!, neuerdings Wildwechsel in der Region Ost …
Staerk: … Westwind, Spurensuche.
Fischer-Fels: Die spannendsten internationalen Aufführungen habe ich bei Schöne Aussicht und bei den ASSITEJ International Gatherings gesehen. Das waren wesentliche Impulse für meine Arbeit in den letzten zehn Jahren.
Staerk: Schöne Aussicht ist ein internationales Festival, das die Stadt Stuttgart finanziert und das Junge Ensemble Stuttgart kuratiert. Und parallel dazu findet das regionale Treffen von Baden-Württemberg statt. So dass die Gruppen einander sehen, miteinander in Austausch kommen. In Nordrhein-Westfalen beschreiten wir mit Westwind einen ähnlichen Weg. Neben den zehn besten NRW-Produktionen sind jetzt erstmals drei oder vier internationale Arbeiten eingeladen. Das ist eine große Befruchtung der Arbeit.
Fischer-Fels: Ein wichtiger Aspekt ist auch das internationale Stückerepertoire. Da ist Deutschland wie ein Schwamm: saugt auf, was es gibt und spielt es nach.
Staerk: Es gibt inzwischen ja umgekehrt eine Sorge vor Verdrängung seitens der Autoren und der Verlage. Man fürchtet, dass die Stückentwicklungen, die ja inzwischen nicht mehr der freien Szene vorbehalten sind, sondern auch Eingang in die etablierteren Strukturen gefunden haben, die Arbeit der Autoren zurückdrängen könnten.
Wuschek: Das wurde bei Boxenstopp – Werkstatt der Autoren in Leipzig diskutiert. Das war seltsam. Seit einem Jahr interessiere ich mich verstärkt für Autoren. Und auf dem Podium wird diskutiert, ob die Autoren verschwinden. Das Unzeitgemäße ist vielleicht gerade das Zeitgemäße.
Fischer-Fels: Die Erweiterung des Autorbegriffs ist eine wesentliche Entwicklung der letzten zehn Jahre. Aber nicht das Verschwinden. Wenn ich sehe, wie viele tolle Autoren es gibt, auch in der Kindertheaterszene, ist das nicht mein Problem. Eher, dass man zu Festivals nur das Neueste, Innovativste einlädt und Autoren da plötzlich altmodisch wirken, obwohl sie eigentlich fantastische Arbeit machen.
Wenn Sie einen Blick in die Zukunft werfen, vor welchen Herausforderungen steht das Genre Kinder- und Jugendtheater?
Staerk: Die sich wandelnde Stadtgesellschaft sehe ich als eine Herausforderung. Die Diversität, die wir schon in den Schulen leben, zu einer Selbstverständlichkeit auch in den Köpfen der Erwachsenen zu machen. Dafür zu sorgen, dass sich alle Kinder und Jugendliche gemeint fühlen von dem, was sie bei uns im Theater sehen. Und natürlich auch, die Faszination des Theaters zu bewahren in unserer Internetgesellschaft, wo sich ganz klar Formen der Rezeption und auch der Präsentation verändern werden.
Wuschek: Wir leben in einer Art Biedermeier. Es wird immer schwieriger, eine Haltung zu haben, auch mit Haltungen umzugehen. Manchmal habe ich das Gefühl, in einer Soße zu schwimmen, wo alle nur noch „Gefällt mir“ drücken wollen. Daraus entkommt man kaum noch, weil der Markt zulangt, die Mediatisierung zulangt, die Menschen sich stromlinienförmig machen. Kunst ist für mich aber zuallererst etwas Widersprüchliches, Verqueres. Künstler sollen keine netten Leute sein. Mit Van Gogh ein Hotelzimmer zu teilen, wäre bestimmt schwierig gewesen. Es braucht ein Stück mehr Verrücktheit, mehr Eigensinn.
Fischer-Fels: Für mich ist das alte sozialdemokratische Ideal der Kultur für alle noch absolut unerfüllt. Es gibt eine Statistik, wonach 50 Prozent der deutschen Bevölkerung nie ein Theater von innen sehen. Hier ist das Kinder- und Jugendtheater gefordert, wenn es denn so ausgestattet ist, dass es Teilhabe für alle ermöglichen kann. Und mein Thema ist, dass wir in diesem Wohlfühlland Deutschland über den Tellerrand hinausblicken müssen. Ob Flüchtlinge zu uns kommen oder wir in andere Welten blicken – das globale Dorf muss uns beschäftigen. //