Auftritt
Bautzen: Großes Welttheater auf kleiner Bühne
Deutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen: „Die Orestie“ von Aischylos. Regie Mario Holetzeck, Ausstattung Linda Kowsky, Choreografie Gundula Peuthert
von Michael Bartsch
Erschienen in: Theater der Zeit: Abgründe des Alltäglichen – Das Staatstheater Braunschweig (06/2019)
Assoziationen: Deutsch-Sorbisches Volkstheater Bautzen
Von wegen Provinztheater! Wenn zur ersten Repertoirevorstellung schon Fans aus Leipzig anreisen, wenn das eher biedere Bautzener Publikum am Schluss trampelt, ruft und stehend applaudiert, muss sich wohl auf der kleinen Bautzener Bühne Großes ereignet haben. Großstädtische Arroganz ließ die berühmte antike „Orestie“ zuvor eher als Zumutung für das Deutsch-Sorbische Volkstheater erscheinen. Der Dresdner hatte noch die mit dem Bürgerchor aufgepeppte spektakuläre Inszenierung von Volker Lösch aus dem Jahr 2003 in Erinnerung, wie in Bautzen ebenfalls auf der Basis der Prosaübersetzung von Peter Stein.
Aber der im Osten vor allem aus seiner Cottbuser Ära bekannte Regisseur Mario
Holetzeck kann auf zusätzliche Befrachtungen vollständig verzichten. Er lässt die beiden Hauptkonflikte der Trilogie in starken Bildern und in einem sinnvoll auf knapp zweieinhalb Spielstunden komprimierten Text für sich sprechen. Ob nun Iphigenie tatsächlich für das Gelingen des Militärunternehmens Troja geopfert oder nur in den Artemistempel verbannt wurde: König und Feldherr Agamemnon setzte Staatsräson vor Familie und ignorierte die Muttergefühle seiner Frau Klytaimnestra. Bei dem danach einsetzenden interfamiliären Rachegemetzel geht es schließlich um die Frage, ob ein Ausbruch aus dem Automatismus der Vergeltung möglich ist.
Dieses Spiel mit Macht, Leidenschaft und ursprünglichsten Empfindungen driftet in Bautzen nie ins Banale ab, sondern behält in seiner Furchtbarkeit stets majestätisches Format. Ausstatterin Linda Kowsky gelingt schon mit zwei einfachen schrägen Rampen eine scheinbare Vergrößerung des beschränkten Bühnenraumes. Obschon sich das Geschehen meist vor dem eisernen Vorhang abspielt, der die Grenze zum Königshaus markiert, entsteht der Eindruck von Weite und Erhabenheit. Die eigentliche Hauptbühne bleibt den Folgen der Abschlachtungen innerhalb der Königsfamilie und dem abschließenden Gericht über Sohn Orestes vorbehalten. Die Kostüme orientieren sich an antiken Vorbildern, ohne albern zu wirken. Waffenträger wie Agamemnon, Orestes oder Elektra zitieren zugleich moderne Fantasyspektakel wie „Die Tribute von Panem“.
Nüchtern betrachtet, sind die sechs Hauptfiguren von niederen Rachegelüsten getriebene Schlächter oder zynische Dandys wie Marian Bulang als Klytaimnestras Lover Aigisthos. Dass er penetrant Selfies mit dem Handy schießt, ist eine der wenigen und nicht ganz passenden Konzessionen an die Gegenwart. Und doch behalten sie unter der Regie Holetzecks als Distanzfiguren königliches Format. Das gilt in erster Linie für die beeindruckende Katja Reimann als Klytaimnestra. Stolz spricht sie ihre großen Monologe, durch eine endlose Schleppe symbolisch an das Königshaus gefesselt. Ralph Hensel als der von Troja heimkehrende Agamemnon ist nicht das brutale Schwein, wohl aber ein Machtmensch. Zwischen Herrschaft und Begehren schwankt ein subtil ausgespielter Pas de deux bei ihrem Wiedersehen nach einem Jahrzehnt Kriegstrennung. Ungestüm, aber ob ihres tiefen Ernstes nicht wirklich jugendlich erscheinen Cordula Hanns als Elektra und Richard Koppermann als Orestes. Elektra sägt ihren Hass geradezu in ein Stahlcello hinein.
Die Brücke zum Volk, zum Zuschauer schlägt der sechsköpfige Chor, von hoher Sprechkultur wie das gesamte Ensemble. Selten kommentiert er im hohen Ton, verkörpert eher Geschwätzigkeit und das wetterwendige „gesunde Volksempfinden“. „Tun, leiden, lernen“, skandiert er immer wieder. Zur überhöhenden Gesamtwirkung tragen enorm die Choreografien von Gundula Peuthert bei − leitmotivische Gesten als synchrones Körpertheater.
Ambivalent schließt das zweieinhalbtausend Jahre alte Drama. Das Bild mit dem Perücken tragenden Gerichtshof und den Geistern der ermordeten „Nebenkläger“ lohnt schon den Theaterbesuch! Doch der Urteilsspruch über Orestes bleibt im Ansatz stecken, Wendungen wie „Demokratisches Recht statt Blutrache“ fallen. Das begeisterte Urteil des Publikums über die Aufführung, wie erwähnt, stand hingegen fest. //