Poetica Castorfiana
Ein Gastspiel mit Lessing in Chile
von Luis Ureta
Erschienen in: Arbeitsbuch 2016: Castorf (07/2016)
Assoziationen: Südamerika Dossier: Chile Frank Castorf
Mit Frank Castorfs Arbeit verbinden mich zwei prägende Erfahrungen: die Wahl des Regisseurberufs und der Fußabdruck eines totalitären Systems, der Spuren auf der Konfiguration unserer ästhetischen Rechercheprozesse im Theater hinterlassen hat. Ausgehend von dieser Feststellung möchte ich den großen Einfluss ansprechen, den die Kenntnis der Arbeit eines seiner Zeit verpflichteten Künstlers wie Castorf für mich bedeutet hat. In der Zeit der Diktatur Pinochets kam ich zum ersten Mal mit Castorfs Werk in Berührung, als sich dieses Enfant terrible der europäischen Theaterszene gegen Ende der achtziger Jahre unter schwer erklärbaren, surrealistischen Umständen im Theater der Universidad Católica de Chile mit seiner unvergesslichen Inszenierung von Gotthold Ephraim Lessings „Miss Sara Sampson" vorstellte. Die Pietätlosigkeit seiner Regiearbeit übertrug sich in Bildern von höchster Prägnanz, die mich, den damaligen Theaterstudenten, stark beeindruckten. Vom Parkett aus stieß meine lupenreine Stanislawski-Ausbildung auf traumatische Weise mit Ausdrucksformen zusammen, deren szenische Darstellung und Art, aktuelle Themen zu bearbeiten, für mich bis dahin absolut undenkbar waren. Die Schauspieler waren unverschämt, sie schrien, rotzten, sabberten und masturbierten auf der Bühne, was für einen Großteil des Publikums einen Verstoß gegen die Regeln der Ästhetik und des guten Geschmacks darstellte. Diese Eindrücke wurden dadurch verschärft, dass Castorf hier den Text eines beispielhaften...