Vorwort
von Wilfried Schulz
Erschienen in: 100 Jahre Staatsschauspiel Dresden (11/2012)
Liebes Publikum, am 13. September 1913 wurde das Schauspielhaus eröffnet, sodass wir uns jetzt mitten in der 100sten Spielzeit befinden und mit großen Schritten auf das Geburtstags- und Jubiläumsfest zugehen. Wir feiern das Schauspielhaus, das 1913 erbaut wurde, aber auch das Staatsschauspiel, das damals seine Begründung und Identität im Stolz und der Theaterfreude der Bürger gefunden hat.
Einhundert Jahre erscheinen uns als ein gewichtiger historischer Abschnitt, etwas Abstraktes und in der Komplexität schwer Fassbares, und zugleich als die durchaus erlebbare und begreifbare Spanne, die auch noch ein einzelnes Leben umfassen kann, damit etwas sehr Konkretes.
Das Theater ist vieles für viele, ein Gebäude, ein Speicher der Erinnerung, eine Institution, auch ein Kontinuum geistiger, künstlerischer und mentaler Entwicklung einer Stadt. Jeder Einzelne erinnert seine Geschichte (oder Nicht-Geschichte) mit dem Theater und sie ist jeweils anders geprägt und oft ganz unterschiedlich. Die Geschichte des Hauses und der Institution ist halbwegs objektiv fassbar, in Namen, Daten, Zahlen – die Theatergeschichte, wie sie in den Köpfen und Herzen der Menschen Spuren hinterließ, schwerlich. Welche Bilder bleiben, wie hat der Tonfall des Satzes in meinem Ohr geklungen, was hat die dezidierte Haltung des Schauspielers ausgelöst? Gibt es Abdrücke im individuellen Leben, in der Gesellschaft?
Theater gehört zu den flüchtigen, ephemeren Künsten, und Bilder, kritische Beschreibungen, Regiebücher, Arbeitsskizzen und Videoaufzeichnungen – so vorhanden – geben nur Hinweise. Doch die zwangsläufige Heterogenität des Geschichtsbildes findet seine Entsprechung in der Spezifik von Theater. Theater zeigt Differenz auf: zu den eigenen Erwartungen und Erfahrungen, zu den Haltungen anderer Betrachter. Es kann und soll kein geschlossenes Gesellschaftsbild oder Lebensmodell abliefern. Deshalb diese Vielfalt an Experimenten, Interpretationen, Behauptungen, an Inhalten und Formen, die es gegenwärtig in seiner gesellschaftlichen Aufgabe sicher näher der Recherche als der Repräsentanz verorten lassen. Und so wie dieses Bild vom Theater schillert und changiert, so kann ein Hundert-Jahr-Buch sich keinem geschlossenen Geschichtsbild verschreiben. Die Debatte zur Deutungshoheit über Geschichte soll ein (unsympathischer) Zug der politischen Kultur bleiben; deshalb haben wir in diesem Buch einen anderen Weg gewählt. Aus unterschiedlichen Perspektiven sollen Bögen, die immer wieder neu angesetzt werden, durch die Theater- und die politische Geschichte der letzten einhundert Jahre geschlagen werden. Es wäre naiv anzunehmen, dass der Gang durch die Geschichte des Staatsschauspiels nur auf geraden Wegen und breiten Straßen zu bewältigen wäre.
Den Journalisten und Autor einer Reihe von Theaterbüchern Peter Michalzik haben wir gebeten, bisher existierende Darstellungen der Geschichte, Berichte, Erzählungen zu sichten, die Chronik dieses Theaters zu studieren und eine Gesamtbetrachtung der einhundert Jahre zu verfassen, aus Halb distanz, mit kritisch-analytischem Zugriff und liebevoller Zuwendung gleichermaßen. Daraus entsteht eine These zur bürgerlichen Identität dieses Theaters und seiner Verbundenheit mit dieser Stadt, dazu, was Stadttheater in schwierigen Zeiten zu bewirken vermag und wo es scheitert.
Dieter Bartetzko betrachtet als Architekturkritiker die widersprüchliche und die gesellschaftlichen Entwicklungen heftig reflektierende Geschichte des Baus, der am Beginn einer Moderne entstand, die sich in Dresden auch heute nur spärlich materialisiert. Gerade am Gebäude des Schauspielhauses sind deren Chancen jedoch deutlich ablesbar.
Der Fotograf Matthias Horn sieht in seinem aktuellen Fotoessay die Fassaden und Räume des Hauses gezeichnet durch die Spuren eines großen Festes, ein schöner Gedanke, denn was wäre freier und freundlicher, als Theater als immerwährende Feier der Menschen zu begreifen.
Ein Bedürfnis war es, an einzelnen markanten Stellen der Historie »Lotungen« vorzunehmen: Mögen sie die lange verdrängte, wenig thematisierte Dimension nationaler und national-sozialistischer Exzesse und Durchdringungen des Alltags und der Kunst betreffen, die Realität und die Fiktion von Kunst in der DDR, Berührungspunkte der Genres Schauspiel, Oper und Ballett mit ihren je unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten oder die mühsame und für Dresden existenzielle Aufarbeitung der Realität und des Mythos »13. Februar«. Wissenschaftler und Journalisten wie Hans-Peter Lühr, Hannes Heer, Klaus Völker, Norbert Seidel, Ilsedore Reinsberg, Gabriele Gorgas und Karl-Siegbert Rehberg haben Material aufgearbeitet, aber auch Thesen zum historischen Kontext entwickelt. Danach klingen Originaltexte aus der Theaterhistorie an: von den selbstbewussten Ansprüchen in den Gründungsreden des Hauses über den verzweifelt-hoffnungsvollen Ton des Wiederbeginns nach dem Krieg, die trotzigmutige Behauptung von »Wir treten aus unseren Rollen heraus« bis zur nachdenklichen Rede über die neuen gesellschaftlichen Aufgaben des Theaters …
Auch die Erinnerungen und Reflexionen von Schauspielern und Regisseuren (wie Rudolf Donath, Hannelore Koch, Ursula Geyer-Hopfe, Philipp Lux, Klaus Dieter Kirst, B.K. Tragelehn, Hasko Weber, Armin Petras, Tilmann Köhler), Dramaturgen und Intendanten (wie Dieter Görne, Holk Freytag, Frank Hörnigk, Karla Kochta), Schriftstellern und Essayisten (wie Christoph Hein, Martin Heckmanns, Uwe Tellkamp, Friedrich Dieckmann, Ralph Hammerthaler) verpflichten sich ganz dem Authentischen; sie ringen von der Anekdote bis zum Erfahrungsbericht und der literarischen Fiktion um Momente von Wahrheit in der eigenen, erlebten Geschichte. Oft ergänzen sich die Stimmen, manchmal widersprechen sie sich. Abschließend folgt das Faktische, u. a. eine Chronik sämtlicher Inszenierungen. Damit wird eine Lücke geschlossen, denn dieses Kapitel der Geschichtsschreibung existierte bislang nicht.
Ich danke allen Autoren, allen Zeitzeugen, allen konzeptionierenden und redaktionellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die analytische und erinnernde Arbeit vollbracht haben, und – natürlich – dem Förderverein des Staatsschauspiels, der sich dieses Buch zur besonderen Aufgabe gemacht hat, sowie der Ostdeutschen Sparkassenstiftung gemeinsam mit der Ostsächsischen Sparkasse Dresden, den Hauptförderern der 100. Spielzeit, für die großzügige Finanzierungshilfe. Die Präsenz von Geschichte in der Gegenwart, für die Gegenwart und die Zukunft der Gesellschaft, kann nur eine wahrhaft gemeinschaftliche Aufgabe sein. Wir hoffen, dass sich Ihre Bilder der Erinnerung, liebe Leserinnen und Leser, mit den in diesem Buch vorgestellten vermischen und sie bereichern, dass die Geschichte nicht verblasst, sondern uns plastisch und bunt, vielfältig und konfliktreich, glamourös und scharf konturiert, lehrhaft und unterhaltsam, auch schmerzhaft und tröstlich entgegentritt. Wenn Ihnen in der Vielfalt der Stimmen einige für Sie wichtige fehlen, so entschuldigen Sie es bitte mit der Fülle des Materials und der Zwangs läufigkeit eines subjektiven Zugriffs und ergänzen Sie das Mosaik aus dem Speicher Ihrer Erinnerung. Es ist Ihr Buch. Geschichte, erlebt, wachgerufen, analysiert oder heute neugierig nachgefragt, entsteht in den Köpfen der Leser – so wie Theater nur im Zusammenspiel, der Gegenwart von Bühnenkunst und Zuschauern existiert.
Ich freue mich – gemeinsam mit Ihnen – auf die Zukunft des Staatsschauspiels Dresden und grüße Sie herzlich
Wilfried Schulz
Intendant Staatsschauspiel Dresden