Die Toten beginnen zu laufen
Kazuo Ohno und andere Butoh-Tänzer in Berlin
von Raimund Hoghe
Erschienen in: Recherchen 150: Wenn keiner singt, ist es still – Porträts, Rezensionen und andere Texte (1979 - 2019) (09/2019)
Die Vorstellung ist zu Ende, der Achtzigjährige steht auf der leeren Bühne, verbeugt sich, nimmt einen Strauß Blumen entgegen und macht noch einmal deutlich, dass das Ende nicht das Ende sein muss: Kazuo Ohno tanzt weiter – gleich einem Schmetterling, „der mit verletztem Flügel bereit ist zu fallen, und doch nicht müde wird, wieder und wieder aufzuflattern“.
„Etwas Großes ereignete sich ganz still“, „Die Toten beginnen zu laufen“, „Geburt, Leben, Tod, Liebe und Leid, alles war in einem großen Gefühl vereint“ – Sätze aus einem Text von Kazuo Ohno, bezogen auf das Stück The Dead Sea – Wiener Walzer und Gespenster, mit dem er in Berlin den Abschluss und Höhepunkt einer vom Künstlerhaus Bethanien veranstalteten Gastspielreihe japanischer Butoh-Tänzer bildete und einen Eindruck davon gab, was Butoh sein kann: zum Beispiel eine Möglichkeit, vom Tod zu sprechen und das Leben zu feiern.
Butoh. Der vielzitierte Mann von der Straße, diesmal aus Tokio, definiert den Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre entwickelten „stampfenden Tanz“ des japanischen Undergrounds so: „1. Alle Bewegungen und Tänze, deren Ursprung unbekannt sind, ist Butoh. 2. Butoh ist, was weder Regeln noch Tabus kennt. 3. Wenn ein Einzelner ‚nein‘ sagt und die anderen ‚ja‘, dann handelt es sich um Butoh.“ Zu entdecken sind diese und andere Definitionen in einem von Michael Haerdter und Sumie Kawai herausgegebenen Buch, das anlässlich der Gastspiele im Berliner Alexander Verlag erschienen ist: Die Rebellion des Körpers – Butoh – Ein Tanz aus Japan – gewidmet Tatsumi Hijikata, dem 1986 gestorbenen Wegbereiter des Butoh.
1985, in seinem letzten öffentlichen Vortrag, sprach Hijikata immer wieder über seine Kindheit. „Die Beobachtung der Kinder und wie sie mit dem eigenen Körper umgehen, hat meinen Butoh stark beeinflusst“, stellte der 57-jährige Tänzer und Choreograf beim ersten Butoh-Festival in Tokio fest und erinnerte nicht zuletzt an den kindlichen Umgang mit Gegenständen, die tot genannt werden. „Ich habe einmal eine Schöpfkelle heimlich mit ins Feld genommen und dort zurückgelassen, weil sie mir in ihrer dunklen Küche leid tat – ich wollte ihr das Land zeigen. Die Glieder und Teile seines Körpers wie eigenständige Gegenstände oder Werkzeuge zu empfinden, und, umgekehrt, die Dinge zu lieben wie seinen eigenen Körper: hier liegt ein großes Geheimnis für den Ursprung des Butoh.“
Kazuo Ohno, ein Symbol und eine Legende des Butoh. Auf der Bühne der Akademie der Künste: ein alter Mann mit weißgeschminktem Gesicht, der Kind sein kann und Greis, Mann und Frau, Priester und Clown, ein Zauberer, der von Verzweiflung spricht und Freude, Hoffnung und Angst, Sehnsucht und Trauer. Ganz selbstverständlich sind östliche und westliche Kultur miteinander verbunden, Vergangenheit und Gegenwart, Kunst und Leben. Die Übergänge sind fließend: Naturgeräusche gehen in Musik über, geistliche Lieder in Wiener-Walzer-Klänge, zu denen Kazuo Ohno in The Dead Sea seinen Walzer tanzt: mit einem leichten Heben der Schulter, einem Lächeln, einer kleinen Handbewegung, einer Drehung des Kopfes oder einfach im Gehen, das einen Kreis entstehen lässt und auf der leeren Bühne eine Welt.
„Sein Glaube an das Leben und an den menschlichen Ausdruck ist so stark, dass er nichts braucht als sich selbst mit Augen im Kopf und Händen am Arm und Füßen am Leib, um den flüchtigen Momenten seines Auftritts endgültig Schönheit zu verleihen“, schrieb Werner Schroeter nach seiner ersten Begegnung mit Kazuo Ohno, 1980, beim Theaterfestival in Nancy. Ohno trat dort auch mit dem in Berlin wieder aufgeführten Stück Admiring La Argentina auf, Schroeter drehte seinen Theater- und Liebesfilm Generalprobe, in dem der Japaner eine der zentralen Figuren wurde – begleitet von einer anderen Legende, der Callas. „Sehnsüchtig lauscht er der Stimme von Maria Callas, die dieselbe Gabe hatte, die Zeit anzuhalten, von der Angst zu erlösen.“
Leben und überleben. Einmal, als sein Gesicht vom Schmerz erzählt, wendet Kazuo Ohno es kurz ab – und sieht einen Augenblick später wieder nach vorn, mit einem scheuen Lächeln. Oder: Langsam sinkt er zu Boden, liegt wie ein hilfloser Käfer auf dem Rücken und richtet sich dann doch wieder auf, um weiterzugehen – mit einer Anmut, die bei ihm auch zu erkennen ist als etwas, das sehr viel mit Mut zu tun haben kann. Wie ein Seiltänzer bewegt sich der Achtzigjährige auf dem ebenen Bühnenboden und lässt selbst die Abgänge am Ende der einzelnen Szenen noch als Abenteuer erscheinen: leicht und ohne Sentimentalität verlässt er die Bühne und kehrt bald in einem neuen Kostüm zurück, mit einer Blume im Haar, schwarzer Perücke oder buntem Hütchen, mal im Kleid, mal im Anzug oder auch mit kurzer Hose, umgehängter Tasche und angehefteter Puppe am langen Umhang, in dem er wie ein Wanderer aussieht – zwischen den verschiedenen Welten, den verschiedenen Leben.
„Ich habe gelernt, ein- und auszuatmen und bin an einem bestimmten Ort groß geworden, unmöglich, dieses ganz persönliche Erlebnis lehren oder lernen zu wollen“, stellte Tatsumi Hijikata einmal fest. Rezepte, Programme, Antworten sind von den Butoh-Tänzern nicht zu erwarten. „Wenn ich tanze, dann handelt es sich nicht darum, Antwort zu geben auf frühere Fragen. Vielmehr will ich die Fragen selbst in Erscheinung treten lassen“, erklärt der vierzigjährige Min Tanaka, der mit seinem Soloprogramm Himmelsform die Gastspielreihe in Berlin eröffnete, und: „Ohne Unterlass in seinem Tanz Fragen zu stellen: das nennt man Improvisation. Ich meine, dass dieser Wunsch in meinem Tanz zum Ausdruck kommt.“ Wie Hijikata will auch er sich nicht auf die Bühne stellen und auf die Leute warten, „um ihnen ein vorbereitetes Stück vorzuführen. Er hat immer in Beziehung zum Ort seines Tanzes gearbeitet, zu einer bestimmten, einmaligen, niemals identischen Gegebenheit. Und dieser Ort, die Leute dort stellten den Stoff dar, dem er im Tanz Ausdruck gab.“
Tanakas Ausgangspunkt in Berlin: das Künstlerhaus Bethanien, das ehemalige Krankenhaus in Kreuzberg. Dem Butoh-Tänzer, der in Flüssen tanzte und auf dem Dach eines Wolkenkratzers in Manhattan, in der Pariser Wohnung von Michel Foucault und unter Wasserfällen, in Wüsten und Gärten, gelang hier einmal mehr die eindrucksvolle Verbindung von eigenem Körper und fremden Raum. Die Studio-Bühne verlässt der in erdfarbene Kleider und die dunkle Perücke einer Frau gehüllte Tänzer schon bald, bewegt sich wie ein apokalyptischer Reiter zwischen dem Publikum, legt seine Kostüme wie Häute ab und zieht die Zuschauer in den Flur, wo er in die verschlossenen Fenster steigt und Gedanken weckt an die Geschichte der Patienten, die hier in Morgenmänteln über die Flure gingen. Und während die Fotografen unermüdlich klicken, tanzt Tanaka weiter, die Treppe hinunter in die Eingangshalle und schließlich nach draußen – dampfend liegt der nackte Körper auf den Steinstufen, schiebt sich langsam nach unten und richtet sich auf: in der hereinbrechenden Dunkelheit läuft Min Tanaka über den Rasen und bleibt an einem hohen Baum stehen, steht ganz still da, atmet ein und aus, nackt, mit dem Rücken zum Baum. Die Hüllen sind abgelegt, ein kurzes Nicken mit dem Kopf: die Vorstellung ist zu Ende. Tanaka geht, sich verbeugend über die Wiese, einer kommt und legt ihm einen Mantel über.
„Mit nichts entblößt man sich so wie mit Masken. Nackt, um zu entschlüpfen“, notierte Jean Genet, einer der europäischen Wahlverwandten des Butoh. Butoh-Aufführungen: immer auch Auseinandersetzungen mit Masken, Maskeraden, Außen- und Innenräumen. „Ich glaube“, sagt Kazuo Ohno, „dass der Lebenslauf des Menschen sich mit dem des Universums deckt. Butoh bedeutet für mich, das Kostüm des Universums anzulegen. Eine Kleidung anzulegen für den Körper und gleichzeitig für die Seele: Sie ist das Kostüm des Butoh.‘‘ Als sei es ganz einfach, legt er sich das Kostüm an, steht vor der weißen Leinwand und macht sich mit seinem Körper auf die Reise, tanzt noch einmal zu den alten Walzern und zieht Kreise, in Erstaunen versetzend und selbst oft wie ein Kind erstaunt, wenn er plötzlich ganz weit weg getanzt ist – ein alter Mann, sehr nah dem Ungeborenen in Stanley Kubricks 2001 – Odyssee im Weltraum.
Eine ältere Frau, die überlebt hat, träumt von einem Baum und will ein Lebenszeichen gegen den Tod setzen, sammelt Geld und lässt eine Kastanie vor das Krankenhaus pflanzen, in dem Aidskranke behandelt werden. Auch an Menschen wie Wanda, die Berliner Kneipenbesitzerin, die wie eine Braut aussieht, als sie, weiß gekleidet mit leuchtend blauem Haar, neben dem in die Erde gepflanzten Baum steht, erinnert Kazuo Ohno, wenn er auf der Bühne steht und von der Beharrlichkeit spricht, wieder und wieder aufzuflattern. „Der Augenblick äußerster Müdigkeit, wenn eine extreme Anstrengung den Körper wieder aufrichtet: Das ist der wahre Ursprung des Butoh. Tod und Wiedergeburt. Das Glück, trotz des hohen Alters in Gang zu bleiben wie ein Oldtimer. Die Toten beginnen zu laufen.“ Vor ein paar Jahren, beim Münchner Theaterfestival, nach einer Probe im Zirkuszelt, sah ich ihn auf einer Wiese vor dem Zelt zum ersten Mal: einen alten Mann, weiß geschminkt, mit blauen Augenlidern und nacktem Oberkörper, umgeben von Kindern, für die er schließlich noch einmal tanzte. In einem Gedicht heißt es: „Doch immer war’s ein Tanzen ohne Ende.“