Der faschistisch verfälschte und der wirkliche Georg Büchner
von Georg Lukács
Erschienen in: Georg Lukács – Texte zum Theater (06/2021)
Zu seinem hundertsten Todestag am 19. Februar 1937
I
Für den unbefangenen Leser Georg Büchners klingt es völlig unwahrscheinlich, dass der Faschismus auch nur den Versuch machen könnte, Büchner für sich zu beanspruchen. (Zum Beispiel hat noch der altmodische Reaktionär Treitschke das Revolutionäre in Büchner erkannt und konsequent abgelehnt.) Und doch ist dieses Unwahrscheinliche Tatsache geworden. Ebenso wie die faschistische deutsche »Literaturgeschichte« aus dem verspäteten Jakobiner Hölderlin einen Propheten des »dritten Reiches« zu machen versucht hat, so wagt sie sich auch an Büchner heran.
Die Methode dieser faschistischen Umfälschung ist im wesentlichen dieselbe, die bei Hölderlin und anderen großen revolutionären Übergangsgestalten angewandt wurde. Mit Fälschung und Interpretationskunststücken soll alles Revolutionäre aus ihrem Leben und Werk weggedeutet werden. Auch im Falle Georg Büchners haben die Faschisten Vorläufer in den Literaturwissenschaftlern der imperialistischen Periode, vor allem in Friedrich Gundolf. Er macht freilich aus Büchner »nur« einen verspäteten Romantiker, einen Dichter der »Stimmung«. In solche Stimmung löste Gundolf die gesamte Gesellschaftskritik Büchners auf: »Die Gesellschaftsschicht ist im ›Woyzeck‹ eine Stimmung … Hier wirkt nur die Schicksalslandschaft mit ihrem Seelenwesen.« Alles, was im Drama sonst Gesellschaftskritik gewesen sei, »das glüht im ›Woyzeck‹ hinab ins vormenschliche Mächtereich. Kein Deutscher, der das Arme, Böse, Trübe zeigen...