Theater der Zeit

Lemi Ponifasio

Samoa / Auckland

Samoanischer Stammeshäuptling, Tanzästhet und Naturschützer – Lemi Ponifasio vereint in seinen Choreographien Formen des Rituals, Tanz, Theater, Oratorium und bildende Kunst. Er brachte sich selbst klassisches Ballett und zeitgenössischen Tanz bei, bevor er seine eigene Tanzsprache entwickelte. In seiner Arbeit verbindet er die Traditionen seiner Heimat mit zeitgenössischer Ästhetik, arbeitet gleichermaßen mit Dorfbewohnern und Pristern aus dem pazifischen Raum wie mit neuseeländischen Architekten und Musikern zusammen. 1995 gründete er das Forschungszentrum MAU – benannt nach der samoanischen Unabhängigkeitsbewegung – im neuseeländischen Auckland. Dort entwirft er gemeinsam mit Experten Visionen für seine Heimat – wie in „Birds with Skymirrors“ (aufgeführt bei Theater der Welt 2010), seiner Analyse der globalen Welt zwischen Natur-Zauber und müllbeladener Entzauberung.

Erschienen in: Arbeitsbuch 2010: Theater der Welt (06/2010)

Assoziationen: Performance Tanz Ozeanien Lemi Ponifasio

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Wie sind Sie Künstler geworden? Gibt es Themen, Leitmotive, kulturelle und historische Ereignisse, die Einfluss auf Ihre Arbeit haben?

Ich habe nie versucht, Künstler zu sein. Ich war auf keiner Schule, um Künstler zu werden. Aber Kunst ist immer die Art gewesen, wie ich gelebt habe. Ich weiß, dass die Kunst vom Leben handelt. Sie ist mein life report. Und deshalb versuche ich, in der Hinsicht überzeugend zu sein. Ich hoffe, auf diesem Weg einen Beitrag für einen Zustand von Wahrheit und Schönheit zu leisten.

Viele Dinge beeinflussen das Leben eines Menschen, und viele Dinge fließen in den Schöpfungsprozess mit ein. Es gab keinen besonderen Moment, in dem ich zum Künstler wurde. Mein Hintergrund ist meine Kindheit in Samoa, einem Inselstaat im Pazifik, wo ich in einem kleinen Dorf als eines von zehn Kindern geboren wurde und umgeben von Zeremonien und dem dörflichen Leben aufwuchs. Ich habe viele Bücher gelesen über sehr viele Themen und Personen, über Jesus, Mohammed, Moses, Hitler, Mandela und so weiter. Jahrelang hingen Poster von Bruce Lee in meinem Zimmer und, als ich noch jünger war, auch von Batman. Ich habe die ganze Welt bereist und viele Jahre in Asien und Europa gelebt. Ich habe eine westliche Ausbildung genossen. Momentan lebe ich außerdem in einer gestörten modernen Welt. Mag sein, dass all diese Dinge und Erfahrungen zu einer bestimmten Haltung geführt haben, von der aus ich Entscheidungen fälle und von der aus ich die Gegenwart betrachte.

Sie sind sogar Häuptling von Samoa und tragen den Titel Sala. Können Sie beschreiben, welche Verantwortung Sie als Häuptling haben und wie Sie Ihre Vorbildfunktion wahrnehmen?

Häuptling sein bedeutet, dass man das Gesicht und das Vorbild des Gründungsvorfahren weiterträgt. Mein Name ist der manifeste Beweis dafür, wie mein Volk mit der Welt verbunden ist: die Fanua; der Himmel, das Land, das Wasser und die Verbindungen untereinander. Das Menschliche und die Fanua sind aus demselben Fleisch gemacht. Wir entstammen derselben Genealogie. Palapala bedeutet Land und Blut.

Ich bin also Häuptling aufgrund meiner Abstammungslinie und weil mein Volk einen Sinn für Ordnung, Harmonie und Symmetrie hat. Häuptling zu sein hat also nichts mit Titeln zu tun, sondern damit, mein Volk mit einem genea - logischen Gedächtnis oder mit der Abstammungslinie zu verknüpfen, mit einer Verbindung, die alles umfasst. Das hat nichts mit Ethnie oder Tradition oder Folklore zu tun, sondern mit der zeitlosen Wahrheit unserer Existenz, dass wir nämlich Teil der Erde und ihrer Geschichte sind.

Ihre aktuellen Performances wurzeln in den Werten des Pazifiks. Sie sind gleichzeitig so etwas wie Ritual und Zeremonie, haben aber auch mit Elementen von Tanz, Theater, Oratorium und den bildenden Künsten zu tun. Wie sind Sie inhaltlich, politisch und künstlerisch an „Birds with Skymirrors“, Ihr Stück, das Sie bei Theater der Welt präsentieren werden, herangegangen?

Die Werte des Pazifiks sind keine Ideen von gestern, an denen ich mich festklammere. Es ist die Art und Weise, wie die Leute heute hier leben. Du sitzt zum Beispiel auf einem Stuhl, und ich sitze auf dem Boden. „Zeitgenössisch“ bezeichnet weder einen bestimmten Tanz- oder Theaterstil, noch heißt es, dass wir unsere Werte und unsere Kultur hinter uns gelassen haben. Wir haben sie immer bei uns. Der Begriff der zeitgenössischen Performance hat damit zu tun, dass unser Leben stark an den Moment gebunden ist. Das Zittern, das, was ich gerade jetzt erlebe, worauf ich gerade jetzt reagiere. Es ist eine Konversation auf allen Ebenen, auf der moralischen, der philosophischen, der spirituellen, der politischen und so weiter. Es ist eine Auseinandersetzung, der Wunsch, etwas zu lernen, zu entdecken und die allzu offensichtlichen Wahrheiten nicht einfach so zu akzeptieren.

Was „Birds with Skymirrors“ angeht: Wenn ich an etwas arbeite, denke ich nicht ausschließlich in künstlerischen Begriffen. Ich reagiere auf das, was mich in diesem Moment berührt. Das Produkt der Kunst wird zu stark betont. Wir sind nicht nur Produzenten für die nie zu befriedigende Konsumkultur. Wir führen auch die Gesellschaft an und schlagen, als echte Möglichkeiten für die Welt, verschiedene Dimensionen von Realität vor. Und das müssen wir auch. Denn nicht alle menschlichen Erfahrungen entsprechen einem Gemälde von Monet. Also meditiere ich in „Birds“ über die Idee, dass wir Teil der Geschichte der Erde sind. Ich denke, wir können uns realistischerweise nicht den Belastungen des Planeten zuwenden, bevor wir das nicht begreifen: dass wir mit allen Wesen auf der Erde verwandt sind und dass wir von allen Wesen abhängen. Wir sind auch nicht die Anführer oder die Manager der Erde. Ich glaube, das Menschliche wird überbewertet, und das fühlt sich unnatürlich an. Deshalb ist meine Herangehensweise an Theater nicht so sehr auf den Menschen zentriert und auch nicht auf die übliche Art der Theaterkunst. D

ie Herausforderung liegt für mich darin, wie wir einen Moment des Nachdenkens möglich machen können, einen Moment der Bestandsaufnahme, in dem wir uns fragen, wie die Verbindungen eigentlich sind, was wir eigentlich wissen, in dem wir auch das hinterfragen, worin wir uns so sicher sind. Wir brauchen einen solchen Moment, um unsere Geisteskraft zu beleben oder um zu klagen, um uns anregen zu lassen, um still zu sein, wir brauchen einen Moment, in dem wir überprüfen können, ob unser Geist gesund ist. Denn wenn er krank ist, wird auch unser Verhalten krank sein. Mehr als je zuvor müssen wir uns mit allen fühlenden Wesen verbinden, uns dem Augenblick zuwenden, der unmittelbaren Gegenwart, unserer gemeinsamen Lage, indem wir die Kraft des Wiedererkennens anrufen, die Kraft der Gemeinsamkeit, die Kraft der Natur, an der wir alle teilhaben. Das ist eine Frage unseres Überlebens als Spezies.

Im Jahr 1995 haben Sie MAU gegründet, eine Gemeinschaft von Künstlern und Intellektuellen. Sie haben MAU nach der samoanischen Unabhängigkeitsbewegung MAU benannt, was Vision oder Revolution bedeutet. Ihre Werke, besonders die Trilogie „Sturm“, beziehen sich zentral auf aktuelle politische Fragen. Würden Sie sagen, dass die Referenz zu MAU einer der antreibenden Aspekte in Ihrem Werk ist? Vielleicht ein Versprechen?

Mich inspirieren all jene, die ihrer Wahrheit oder ihrem Glauben treu sind, ohne Gewalt einzusetzen, auch wenn sie der Brutalität oder dem Tod ins Auge sehen. Die samoanische MAU-Bewegung ist ein schönes Beispiel dafür, was wir später bei Mahatma Gandhi und Martin Luther King wiedergesehen haben. Kunst und Politik haben beide das Ziel, ohne Gewalt auszukommen. Wahrer Politik gelingt die gewaltfreie Organisation unserer menschlichen Gesellschaften. Die Humanität erfordert etwas anderes als den ständigen Missbrauch von Gott oder Demokratie als Machtinstrumente. Wir alle scheitern. Kunst kann uns an unsere Fähigkeit erinnern, Dinge zu ändern, und zwar ohne Gewalt und Verletzungen.

Man kann also sagen: MAU ist ein Versprechen, wach zu bleiben, aber mit den Augen eines Kindes. Jenseits von Politik schafft MAU eine Beziehung zu allen Dingen. MAU ist Handeln, Austausch mit Philosophie, Ästhetik, Moral und so weiter, und zwar nicht nur im Hinblick auf die ewigen Fragen, sondern auch in Beziehung zur Frage, wie wir unsere unmittelbare Lebenserfahrung verbessern können. Keiner, den ich getroffen habe, sagte mir, er sei dazu geboren, Schlechtes zu tun. Uns allen ist gemeinsam, dass wir uns verändern und zu großartigen Menschen werden wollen.

Sie beziehen sich auf die Kultur Ozeaniens, betonen die regionalen Künste, jene Gedanken und Erzählungen, die zum Schweigen gebracht oder ausgeschlossen wurden. Wodurch nähren Sie Ihren Widerstand gegen das Vergessen, Ihre Neugierde auf geringgeschätzte Stärken. Was ist Ihr Credo?

Widerstand gegen das Vergessen ist für mich kein Thema. Ich glaube nicht an diese Anschlagtheorie, die besagt, dass eine angeblich überlegene Kultur die angeblich schwächere Kultur zerstört. Alle Kulturen entwickeln sich, sie werden geboren und in anderen Formen wiedergeboren, wie alles andere auch. In London wird heutzutage auch nicht mehr Shakespeares Sprache gesprochen, und keiner behauptet, die englische Kultur ginge zugrunde. Was ich sagen will, ist, dass wir andere Sichtweisen, Weisheiten und Wahrheiten mit einbeziehen müssen in die Reise, die wir im Leben zurücklegen. Ich glaube nicht, dass es ein Zeichen von Fortschritt ist, wenn jeder den eigenen Stil ablegt und versucht, auszusehen wie ein Europäer.

Ich stamme aus einem kulturell extrem gemischten Teil der Welt, diesem größten Teil der Welt, der nicht europäisch oder amerikanisch ist. Wir müssen daran denken, dass das,was wir Kunst nennen, auch zum Symbol für Verwirrung werden kann oder zum Modus der Dominanz, wenn wir es uns nicht erlauben, uns als Menschen aufeinander zu beziehen. Unser aller Zukunft ist miteinander verbunden.

Welche Bedeutung hat das Interdisziplinäre in Ihrer Arbeit? Welche das Crossover der Medien?

Interdisziplinarität ist nichts Neues. Es gibt sie seit der Antike in allen Kulturen. Hier, in Ozeanien, ist Künstler ein Wort, das ungefähr übersetzt werden kann mit kahuna, tohunga, tufuga etc. Kahuna sind nicht nur Schöpfer ästhetischer Produkte, sondern auch Produzenten von Wissen, Mediziner, Priester, Baumeister – sie sind die Versorger, die Problemlöser und Anführer ihrer Gemeinschaften. Wir sind darauf programmiert, in den verschiedenen Bereichen unseres Lebens als Spezialisten zu fungieren. Besonders für die Kunst gilt, dass die Wiederholung eines Repertoires an begrenzten Fähigkeiten schädlich für ihre Aktualität und Relevanz ist. Das Crossover in verschiedenen Bereichen ist entscheidend für unsere Kreativität, und es ermöglicht uns, zu den Herausforderungen des gegenwärtigen Lebens etwas beizutragen, zum Beispiel zum Klimawandel, zu Migration, Flucht, Ethik, Technologie und so weiter. Interdisziplinarität besteht in meinen Augen zwischen vielen Dingen – zwischen Tanz, Oratorium, Zeremonie, den technischen Medien, den unterschiedlichen kulturellen Praxen und Auffassungen. Ein interdisziplinärer Ansatz ist nützlich, um Verbindungen zu vielen Lebensbereichen herzustellen. Wir leben in einer Zeit, in der sich die neuen Technologien, die Materialien und die Kommunikationsmedien rasend schnell entwickeln. Und wir leben in einer Zeit des massiven interkulturellen Kontakts.

Diese Entwicklungen können durchaus zur Ausdifferenzierung der Werkzeuge und zur Ausdehnung der Netzwerke von Künstlern beitragen. In meinen Augen ist Kunst nicht eine Frage von Disziplinen. Wenn ich meine Arbeit tue, denke ich nicht, dass ich gerade Tanz schaffe, und es kommt mir auch nicht in den Sinn, dass etwas aussehen soll wie Tanz oder wie europäischer Tanz oder wie samoanischer Tanz oder dass ein Tanz mit einem Videoprojektor bedeutungsvoll sein könnte. Ich folge nicht irgendwelchen Anweisungen. Dagegen benutze ich alle möglichen Mittel, um das Werk zu erschaffen. Außerdem ist eine Theateraufführung schon ihrer Natur nach interdisziplinär.

Wie wichtig ist Vielfalt, wie wichtig die Anerkennung kultureller Differenzen?

Vielfalt erreichen wir, wenn wir bereit sind, die Differenzen, die Sprache, Kultur, Religion, Ästhetik etc. des jeweils anderen zu akzeptieren oder uns darüber auszutauschen. In der Praxis ist das oft ziemlich knifflig, weil wir, je nachdem, in welchem Teil der Welt wir uns befinden, immer auf unterschiedliche Situationen reagieren. Jedenfalls tendieren wir dazu, die Unterschiede mehr zu betonen als die Gemeinsamkeiten. Das betrifft besonders den Bereich der Kultur. Ich denke, Kunst bedeutet die Anerkennung unserer Vielfalt, aber auch Einladung zu jener Schönheit, die aus der Integration der Unterschiede entstehen kann. Deshalb darf Kunst nicht das Bild derjenigen sein, die uns kontrollieren. Schönheit ist unsere Belohnung dafür, dass wir den Standpunkt des anderen annehmen. Diese Lektion lehrt schon die griechische Narziss-Sage. Wir können erst dann Liebende werden, wenn wir das Bild des anderen erkennen.

Was die Integration der Unterschiede betrifft, von der Sie sprechen – wie ist Ihr Verhältnis zu dem gemeinschaftsbildenden Aspekt von Kunst?

Ich organisiere meine Arbeit in einem gemeinschaftlichen Prozess, wobei Ästhetik oder Wissen nur ein Teil des täglichen Existenzkampfes sind, eines Kampfes, der darüber hinaus mit vielen Beziehungen zu tun hat, mit der Natur, mit Geld, der Gemeinschaft und allem anderen. Kunst muss ein Akt sein, der uns in die Lage versetzt, die Vielfalt unserer Menschlichkeit zu verhandeln. Auch deshalb bringe ich meine Gemeinschaft zum Festival Theater der Welt mit. Ich hoffe, dass wir auf dieser Plattform viele Möglichkeiten von Existenz zeigen können. Deshalb liegt es in meiner Verantwortung, meinen Tanz zu tanzen, mein Lied zu singen, meiner Sicht auf die Welt eine Stimme zu verleihen. Der Kunst fällt die Aufgabe zu, unsere gemeinsame Genealogie zu verknüpfen. In diesem Prozess geben wir uns allen eine zweite Chance.

Die Kunst hat viele Möglichkeiten, aber sie ist immer ein Akt des Menschen. Tiere machen keine Kunst. Menschen schon. Warum? Weil das Menschliche etwas braucht, das sich von der Natur unterscheidet. Zuerst müssen wir begreifen, warum es Kunst überhaupt gibt. Für den Künstler ist die Kunst der Treueschwur auf die Menschlichkeit. Sie bedeutet Hingabe an die Suche nach Schönheit und Wahrheit.Der Künstler muss die Freiheit suchen, aber nicht die Freiheit von, sondern die Freiheit in der Pflicht und in der Verantwortung. Ein Künstler lebt nicht in einem Vakuum, er erklärt sich der Gesellschaft gegenüber auch nicht für unabhängig. Der Künstler ist ein sehr zentraler Teil der Gemeinschaft, und nur hier, in der Gemeinschaft, können wir uns und unsere Arbeit definieren und erneuern. Ich hoffe, dass wir als Künstler Aufmerksamkeit und Menschlichkeit in unserer Gemeinschaft animieren können, dass wir zur Fürsorge anregen, zum Schweigen, zum Nachdenken, zur Offenheit und dazu, dass wir uns von den gewohnten Haltungen und Vorstellungen lösen und zu einer Lebenserfahrung finden können, die uns befriedigt.

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