Zu Besuch bei Frau Barthelmess
Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater
von Sabine Shouten
Erschienen in: Recherchen 46: Sinnliches Spüren – Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater (02/2011)
Assoziationen: Wissenschaft Dramaturgie
Sie hätte es geahnt, zischte die Frau ihrem Freund und mir zu, als wir zu dritt über den langen Laubengang des achten Stocks eines Berliner Hochhauses am Kottbusser Tor zur Wohnung von Frau Barthelmess hasteten. Schon auf dem Weg hierher hätte sie plötzlich ein »ganz schlechtes Gefühl« befallen, hätte sie sich »irgendwie beklommen« gefühlt. Schließlich sei das hier ja auch das tiefste Kreuzberg, nicht immer ungefährlich und schon gar kein Ort für das Theater. Auf anschauliche Art hatten uns dies zuvor schon zwei junge türkische Schlägertypen beibringen wollen, die uns samt Freundin und Hund im engen, heruntergekommenen Flur den Weg zu Frau Barthelmess versperrten. »Theater gibt's hier nicht für euch«, machten sie unmissverständlich klar. »Höchstens 'ne Privatvorstellung von uns, wenn ihr nicht zahlt.« Wahrscheinlich waren wir nicht die erste Besuchergruppe des Projekts X Wohnungen. Theater in privaten Räumen, der die Clique hier auflauerte und ein zusätzliches Eintrittsgeld abnahm. Wir zögerten zunächst, die Taschen nervös an den Körper gedrückt. Dann fing es an, unangenehm zu werden. Zu Demonstrationszwecken wurde gegen die Graffiti beschmierten Wände des Treppenhauses getreten, und auch der Hund richtete sich zu voller Größe auf. Schließlich hatte einer von uns gezahlt. Ein paar Euro als Wegegeld sozusagen, und man hatte uns durchgelassen.
Leicht außer Atem erreichten wir die Wohnungstür von Frau Barthelmess und klingelten. Ein junger Mann ließ uns herein. »Da draußen«, setzte die Frau an, »wir sollten vielleicht die Polizei ...« - aber schon im nächsten Moment brachte uns die durch und durch rosafarbene Wohnung von Frau Barthelmess zum Verstummen. Wir wurden ins Wohnzimmer geführt, wo uns die Rentnerin im rosa Kleid vom Sofa aus still lächelnd begrüßte. In der Luft schwebten an die zwanzig Schmetterlinge aus dünnem Tüll an Nylonfäden und bewegten sich leicht. Noch immer schweigend versanken wir auf der Couch gegenüber, und Frau Barthelmess begann, mit sanfter Stimme Gedichte über ihre verstorbene Katze vorzulesen. Von den Regalen warfen uns Porzellantiere Blicke zu. Rosa W ände, pastellfarbener Teppich, zartlila Licht. Der Rest strahlte weiß oder glänzte golden. Kunstblumen, Rüschenpuppen, Duftölkerzen. Im Hintergrund lag Meditationsmusik wie ein leises Schnurren in der Luft. Zunehmend paralysiert schien mich das Sofa immer tiefer einzusaugen. Ein Gefühl wie in einer Seifenblase, bemerkten meine Begleiter später. Völlig surreal. Dann schwieg Frau Barthelmess, immer noch lächelnd. Der junge Mann, der uns hereingelassen hatte, forderte zum Gehen auf. Vor der Wohnung erwarteten uns die Schläger. Auch sie lächelten, verbeugten sich höflich, gaben das Geld zurück und wünschten uns noch einen schönen Theaterabend.
Unser Verhalten in dieser Kurzinszenierung der türkischen Filmregisseurin Ayse Polat erscheint mir im Nachhinein auf doppelte Weise merkwürdig. Warum hatte uns die vermeintliche Schlägertruppe im Flur einschüchtern können - obwohl auf dieser ungewöhnlichen Theatertour quer durch Kreuzberger Privatwohnungen doch eigentlich jederzeit mit gestellten Szenen zu rechnen war? Und weshalb versanken wir bei Frau Barthelmess kurz darauf schweigend im Sofa, ohne den jungen Mann an der Tür über die Vorgänge im Flur aufzuklären?
Dass die von Schauspielern dargestellte Erpressung im Hochhaus am Kottbusser Tor von einem Großteil der Zuschauer als real e Bedrohung empfunden wurde, entsprach sicherlich dem Klischee vieler Besucher, demzufolge Übergriffe in dieser Gegend nicht unwahrscheinlich sind. Bei Frau Barthelmess von den Vorfällen zu schweigen, korrespondiert zudem mit der Konvention, sich als Theaterzuschauer zunächst auf die Situation einzulassen und sich möglichst unauffällig und ruhig zu verhalten.
Diese Erklärungen bleiben jedoch insofern unbefriedigend, als sie am für mich zentralen Erleben der Aufführung vorbei gehen. Blicke ich auf die Geschehnisse zurück, verbinden sie sich vor allem mit meiner Erinnerung an das hier durchlebte Wechselbad der Gefühle. Zunächst fühlte ich mich bedroht und hellwach, kurz darauf beruhigt und beinahe betäubt - jedoch schien ich auf diese Zustände nicht selbst Einfluss zu nehmen. Die unterschiedlichen Stimmungslagen drängten sich mir vielmehr von außen auf. Schlagartig wechselte mit den Orten und Situationen auch mein Empfinden und Verhalten, gerade so, als wäre ich mit dem Eintritt in die Wohnung in eine andere Klimazone eingetaucht. Die noch eben im klaustrophobischen Flur des Hochhauses verspürte Beunruhigung glitt in der Barthelmess'schen Kitschoase wie ein Regenfilm von mir ab und machte dort süßlicher Benebelung Platz. Mein Verhalten wurde mithin nicht von bewussten Entscheidungen bestimmt, sondern von meinen wechselnden Stimmungen gelenkt. Was mich auf dem Weg vom vermeintlichen Straßenkrimi in die unwirkliche Wohnungsidylle ergriff und mein Handeln beeinflusste, waren seine intensiven Atmosphären.
Von dieser Beobachtung nimmt meine Arbeit ihren Ausgang. Atmosphären vermögen unser Fühlen und damit die Wahrnehmung und Beurteilung von Situationen stark zu beeinflussen, ohne dass wir eigens auf sie aufmerksam werden. Wo auch immer wir uns aufhalten, wirken Räume auf unser Spüren ein. Als affektive Anmutung von Umgebungen sind sie ein steter Modus der Welterfahrung. So offenbart sich im Gestimmtsein durch das Bedrohliche, Heitere oder Melancholische eines Ortes eine Verflechtung von eigenem Fühlen und äußerem Wirken: Was auch immer unsere Aufmerksamkeit beansprucht - ob wir arbeiten, ein Buch lesen, eine Feier besuchen oder im Theater sitzen - stets reicht die affektive Qualität der Umgebung dabei in unser Befinden hinein. Nicht immer richten wir unser Handeln nach ihr aus. Insbesondere inszenatorisch vorbereitete Atmosphären verführen jedoch bisweilen gezielt dazu, ungeplante Dinge zu tun, beispielsweise auch - ob nun in diesem Theaterprojekt oder einer durchdesignten Shoppingmall - das Portemonnaie zu öffnen.
Kaum ist diese Behauptung aufgestellt, löst sie eine ganze Flut von Fragen aus: Können Atmosphären überhaupt inszenatorisch hervorgebracht werden, derart, dass sie das Fühlen der Zuschauer einheitlich beeinflussen? Steht die Wahrnehmung von Atmosphären nicht vielmehr in Abhängigkeit zum je eigenen Befinden und Denken? Wie vermittelt sich uns ein Gespür für Umgebungen und Situationen? Und auf welche Weise vermögen Atmosphären andererseits von diesen Orten auszugehen? Vor allem aber: Was genau sind Atmosphären?
Während die Reflexion auf das Phänomen sogleich definitorische Probleme aufwirft, geht mit der alltäglichen Rede über Atmosphären offenbar keine Unsicherheit einher. Wie Gernot Böhme bemerkte, sprechen wir oft und gerne von Atmosphären. Der Philosoph definiert sie als affektive Gebundenheit an den uns umgebenden Raum: Atmosphären geben Auskunft, »wie ich mich, wo ich bin, befinde«. So vermittelt die Erwähnung einer elektrisierenden Premiere oder der gedrückten Atmosphäre beim Familienfest Eindrücke von der emotionalen Qualität dieser Situationen. Ein ›Lokal mit Atmosphäre‹ ist zweifellos zu bevorzugen, auch wenn weitgehend unklar bleibt, was mit einer solchen Floskel genau gemeint ist. Folgt man dem Sprachgebrauch, so lässt sich in Atmosphären mitunter regelrecht eintauchen, man kann in ihnen versinken, von ihnen mitgerissen oder getragen werden. Äußerungen dieser Art sind oft im Kontext von Popkonzerten oder auch Großdemonstrationen zu hören. Sie konnotieren eine Anziehungskraft, die von den Veranstaltungen und ihren Besuchern ausgeht und alle Beteiligten ergreift und umschließt.
Die damit assoziierte ›Umhüllung‹ von etwas oder jemandem erinnert an die etymologische Begriffsbedeutung der Atmosphäre. Als Wortschöpfung des 17. Jahrhunderts setzt sie sich aus griechisch atmis/atmos (Dunst/Dampf) und sphaira (Ball, Kugel) zusammen. Mit der neulateinischen Form atmosphaera bezeichnete man zunächst einen vermeintlich »von Himmelskörpern ausströmenden Dunst«, und noch heute wird unter dem physikalischen Begriff der Atmosphäre die Gashülle der Planeten verstanden. Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lassen erste Textbelege auf eine erweiterte Begriffsverwendung schließen. In ihnen bezeichnet Atmosphäre die Ausdünstung von Lebewesen und Dingen, also ihren jeweiligen Geruch.
Diese ursprünglich synonyme Verwendung der Begriffe Geruch und Atmosphäre ist heute kaum noch gebräuchlich. Stattdessen wird das Phänomen mit Begriffen wie »Umwelt, Einfluß, Stimmung« umschrieben; einer Aufzählung, welche die alltagssprachlich vermittelte Eigenart des Atmosphärischen zusammenfasst: Atmosphären gehen als affektive Wirksamkeiten von Umgebungen aus und werden als deren emotionale Beeinflussung wahrgenommen.
Allerdings verweist die Rede von Atmosphären nicht immer auf eine überwältigende Erfahrung. So kann etwa die oft zitierte gespannte oder gelöste Atmosphäre zwischen zwei Politikern auch aus der eigenen Distanz beobachtet werden. Im Allgemeinen jedoch deutet die umgangssprachliche Verwendung auf die enge Verbindung zwischen Atmosphäre und Gefühl des Wahrnehmenden hin: Atmosphären stimmen uns fröhlich oder melancholisch, überfallen uns plötzlich im Zuschauersaal, stecken zum Lachen an oder lehren uns auf dem Heimweg durch den dunklen Park das Fürchten. Mitunter können sie uns auch auf die Nerven fallen. Dann erwischen sie uns auf dem falschen Fuß: Einem strahlenden Tag mit Melancholie zu begegnen, verärgert ebenso, wie sich in gelöster Stimmung der Anspannung mürrischer Kollegen auszusetzen.
Der kurze Blick auf die alltagssprachlich konnotierte Verbindung zwischen Umgebung und Gefühl des Wahrnehmenden unterstreicht zwar meine in Ayse Polats Aufführung gemachten Beobachtungen, führt jedoch nicht darüber hinaus. Fragen danach, auf welche Weise sich das Atmosphärische hier herstellte und vermittelte, und ob mit ihm inszenatorische Intentionen und Funktionen verbunden waren, bleiben ungeklärt. Auch aus Perspektive der Theaterwissenschaft stellen entsprechende Antworten bisher ein Desiderat dar. So fielen Atmosphären zunächst fast vollständig durch das Raster der hermeneutisch ausgerichteten Theaterwissenschaft der 70er und 1980er-Jahre, da sie als Phänomen der Wahrnehmung vorrangig affektive Wirkungen auf den Zuschauer ausüben. In den semiotisch orientierten Untersuchungen kamen sie daher allenfalls dort zur Sprache, wo sie im Rahmen einer szenischen Anordnung als Bedeutung lesbar wurden. In einer der raren aufführungsanalytischen Betrachtungen, in denen Atmosphärisches überhaupt Beachtung findet, bemerkt Erika Fischer-Lichte:
Das Licht ist eines der wichtigsten Mittel, um eine bestimmte Atmosphäre zu schaffen. [...] In unserer Kultur beispielsweise wird helles warmes Licht allgemein in bezug auf eine ruhige, warme, freundliche Atmosphäre interpretiert, trübes oder kaltes Licht in bezug auf eine beklommene, Angst und Traurigkeit auslösende. [...] Wenn das Licht auf dem Theater als Bedeutung eine bestimmte Atmosphäre konstituieren soll, wird man daher auf die entsprechenden, in unserer Kultur funktionierenden Lichtcodes zurückgreifen müssen.
Die einzelnen theatralen Mittel, etwa das Licht oder die Geräusche, fungieren hier lediglich als Bedeutungsträger und verweisen dabei auf eine jeweils spezifische Atmosphäre, etwa die der Gemütlichkeit. Im Rahmen einer semiotischen Aufführungsanalyse ist eine solche Bestimmung des Phänomens als ein vom Zuschauer zu deutendes Zeichen oft aufschlussreich. So kann etwa die feindliche Haltung zweier Figuren als Verweis auf eine feindselige Atmosphäre verstanden werden, die ihrerseits wiederum narrative Aussagen zur Beziehung zwischen den Figuren vermittelt. Versuchte man aber beispielsweise die Atmosphären der X Wohnungen-Aufführung anhand dieser Kriterien zu untersuchen, blieb das Wesentliche unerfasst. Der Frage, auf welche Atmosphären die beiden szenischen Arrangements jeweils verweisen, könnte etwa über die Interpretation der Zeichenträger (wie »drohende Fäuste« oder »rosa Licht«) nachgegangen werden. Jedoch stand in dieser Arbeit weder die Darstellung und Deutung zweier Atmosphären im Mittelpunkt, noch verfolgte sie die theatrale Illustration einer Geschichte. Vielmehr wurde es dem Zuschauer ermöglicht, über das emotionale Wechselbad am eigenen Leib eine Verunsicherung und Lenkung zu erfahren, die ihn zur kritischen Befragung eigener Wahrnehmungs- und Vorurteilsstrukturen anregte. Der Zuschauer war hier nicht distanzierter Interpret einer symbolischen Atmosphäre, sondern direkter Adressat (und zugleich auch Mitproduzent) ihrer unmittelbar affektiven Beeinflussung.
Die vorliegende Arbeit verfolgt das übergreifende Ziel, Atmosphären - ihre Wahrnehmung, ihre Erzeugung und ihre ästhetischen Funktionen - der theaterwissenschaftlichen Betrachtung von Aufführungen zugänglich zu machen. Eben dieser Relation von eigenem Gespür und Inszenierung ist mit einer Forschungsweise, die allein in einer Auffassung von ›Kultur als Text‹ wurzelt, jedoch nicht nachzukommen. Mein Vorhaben siedelt sich deshalb vor dem Hintergrund eines geisteswissenschaftlichen Umbruchs an, der unter dem Begriff des Performativen seit den 1990er-Jahren das Bewusstsein für kulturelle Produktions- und Wahrnehmungsprozesse schärft. Statt der Suche nach den Bedeutungen kultureller Systeme, einer an textwissenschaftlicher Hermeneutik geschulten Auslegungspraxis, rückte im Zuge des »performative turn« die Beschreibung und Untersuchung der Tätigkeiten, Perzeptionen und Objekte in den Vordergrund, die den Verweisstrukturen jeweils zugrunde liegen. Im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses steht dabei nicht die Erforschung der semantischen Ebenen etwa einer literarischen Erzählung, eines religiösen Rituals oder einer Theateraufführung. Aus dem Blickwinkel des Performativen rückt vielmehr die Fragestellung in den Mittelpunkt, durch welche kulturellen Praktiken diese Verweisstrukturen überhaupt hervorgebracht werden und auf welche Weise sie semantische Muster zugleich überschreiten, verschieben oder auflösen.
Infolge einer verstärkt auf eben solche Prozesse der Handlung und Wahrnehmung abstellenden Theaterpraxis erweiterte sich in den letzten Jahren auch der Fokus der theaterwissenschaftlichen Betrachtung. In den Blick rückten damit zugleich die emotionalen Vollzüge der Zuschauer als wesentlicher Bestandteil des Theaterereignisses - und mit ihnen das Bedeutungen überschreitende Andere der Atmosphären, auf das erneut Erika Fischer-Lichte aufmerksam macht:
In der Atmosphäre, die der Raum und die Dinge auszustrahlen scheinen, werden diese dem Subjekt, das ihn betritt, in emphatischem Sinne gegenwärtig. [...] Sie rücken dem wahrnehmenden Subjekt in der Atmosphäre auch in bestimmter Weise auf den Leib, ja dringen in ihn ein. Denn es findet sich nicht der Atmosphäre gegenüber, nicht in Distanz zu ihr, sondern wird von ihr umfangen und umgeben, taucht in sie ein. Statt der semiotischen Ebene einer Inszenierung thematisiert eine Ästhetik des Performativen mithin das Wechselverhältnis von Wahrnehmendem und Dargestelltem sowie die Bedingungen der Hervorbringung von Bedeutung. Theater wird aus dieser Perspektive nicht als geschlossenes, vom Zuschauer lediglich zu interpretierendes Bühnenkunstwerk untersucht, sondern als Aufführung verstanden. Damit ist eine Auffassung vorgestellt, die das theatrale Ereignis nicht entlang des Bühnengrabens in die einerseits werkhafte Darbietung der Schauspieler innerhalb einer spezifischen Konfiguration und die andererseits interpretative Auslegung des Publikums unterteilt. Der Begriff der Aufführung betont vielmehr, dass Dargebotenes und Wahrgenommenes in ständiger wechselseitiger Beeinflussung stehen. Theater wird somit als ein Ineinander von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem gedacht, das dem Zwischen von Bühne und Publikum entspringt.
Ein solcher Begriff von Aufführung vermag zugleich den Boden für die vorliegende Untersuchung zu bereiten. Denn wie die Aufführung selbst steht auch die Erspürung der theatral hervorgebrachten Atmosphäre in Abhängigkeit zur gleichzeitigen Anwesenheit von Wahrnehmendem und Dargebotenem im selben Raum. Atmosphären sind ebenso an die situative Umgebung wie an ihre Wahrnehmung gebunden. Anders als ein Bühnenbild, können sie nicht von einem Ort zu einem anderen versetzt werden, vielmehr stellen sie sich nur zwischen ihm und seiner Erspürung - im Moment der Begegnung von Subjekt und Objekt - her.
Aus dieser Beheimatung der Atmosphäre im ›Zwischen‹ von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem ergibt sich die Struktur dieser Arbeit. Um der Hervorbringung und den ästhetischen Funktionen von Atmosphären im Theater nachzugehen, bedarf es vordringlich einer Vorstellung davon, wie Atmosphärisches erspürt wird. Das erste Kapitel legt also den Akzent zunächst auf die Analyse atmosphärischer Wahrnehmung, den subjektiven Pol des Phänomens. Das zweite Kapitel wird hierauf aufbauend der Hervorbringung von Atmosphären im Theater nachgehen und danach fragen, ob und wie sie sich methodisch untersuchen lässt. Dem Zusammenspiel von Subjekt und Objekt wendet sich schließlich das dritte Kapitel zu. Es fokussiert auf die atmosphärische Verbindung von Zuschauerhaltung und theatraler Hervorbringung und geht damit den ästhetischen Funktionen des Atmosphärischen ebenso nach wie der Frage, auf welche Weise innerhalb verschiedener Aufführungen spezifische Erfahrungen des Zuschauers durch bestimmte Atmosphären ermöglicht werden. Die Fragen nach der Wahrnehmung von Atmosphären, nach ihrer theatralen Hervorbringung und dem ästhetischen Zusammenspiel von Wahrnehmung und Erzeugung in der Aufführung stecken das Untersuchungsfeld dieser Arbeit ab. Nachfolgend ein kurzer Überblick:
Im Unterschied etwa zu Tönen, die gehört werden, oder Farben, die gesehen werden und deren Eindruck auf einen analysierbaren Träger - etwa eine Melodie oder ein Bild - rückführbar ist, muss bezüglich des Atmosphärischen zunächst geklärt werden, wie es sich vermittelt. Die Frage, auf welche Weise sich in der atmosphärischen Wahrnehmung Sinnliches, Sinnhaftes und Gespürtes verbinden, führt somit als roter Faden durch das erste Kapitel. Es gliedert sich thematisch in die Untersuchung drei zentraler Merkmale atmosphärischer Wahrnehmung: ihre Räumlichkeit, ihre Sinnlichkeit und ihre Affektivität. Alle drei Unterkapitel verfolgen dabei das übergreifende Ziel, jene theoretischen Ansätze zu diskutieren und zusammenzuführen, die zur notwendigen Klärung des Verhältnisses sinnlicher, mentaler und affektiver Perzeptionen in der atmosphärischen Wahrnehmung nützlich sind. Im Vordergrund steht hier noch nicht die Beschäftigung mit den spezifisch theatralen Atmosphären, sondern die Frage danach, worauf unser generelles Vermögen des atmosphärischen Spürens gründet. Ihre Rückbindung finden die Untersuchungen jedoch in meiner Erinnerung an das atmosphärische Erleben in der Aufführung Visitors Only von Meg Stuart. Hiervon ausgehend wird zunächst die spezifische Räumlichkeit der Atmosphäre näher bestimmt. Der Vermutung folgend, dass diese sich aus einem speziellen Modus sinnlicher Wahrnehmung ergibt, gehe ich im zentralen zweiten Unterkapitel der Frage nach, auf welche Sinnestätigkeit das Spüren der Atmosphäre zurückzuführen ist, wenn diese weder gesehen noch gehört, gerochen, ertastet oder geschmeckt werden kann. Die Untersuchung zur Affektivität atmosphärischer Wahrnehmung wendet sich schließlich der Relation von sinnlichen Perzeptionen und leiblich-affektivem Spüren sowie ihrer Verbindung zu mentalen Prozessen zu. Basierend auf diesen Untersuchungen des ersten Kapitels versuche ich schließlich die These zu plausibilisieren, dass das Vermögen der atmosphärischen Wahrnehmung als eine zusätzliche, integrale Sinnesmodalität fungiert.
Das zweite Kapitel legt anschließend den Akzent der Untersuchung auf den objektiven Pol der Atmosphäre, ihre theatrale Hervorbringung. Mein Ziel liegt somit nicht in der Bestimmung verschiedener Charaktere der Atmosphäre in unterschiedlichen Aufführungen (etwa ihrer Heiterkeit oder Bedrohlichkeit). Diesen vermag sich der Zuschauer in Reflexion auf sein eigenes Gespür selbst zu versichern. Die Herausforderung besteht vielmehr in der Erforschung der atmosphärischen Erzeugungsprozesse des Theaters und der Frage, auf welche Weise und mit welcher Methode sich diese analysieren lassen. Durch den Gegenstand meiner Untersuchung wird dieses Vorhaben einerseits erleichtert. So ermöglicht es die Blackbox des Theaters, Atmosphären gewissermaßen unter Laborbedingungen zu untersuchen. Ort und Mittel ihrer Entstehung werden durch den Aufführungsrahmen begrenzt und vereinfachen so die analytische Betrachtung. Andererseits aber stehe ich als Untersuchende in diesem ›Laboratorium‹ nicht als vermeintlich distanzierte Beobachterin außerhalb der Versuchsanordnung. Als Zuschauerin bin ich am Zustandekommen und jeweiligen Verlauf der zu untersuchenden Aufführung und den in ihr hervorgebrachten Atmosphären unmittelbar beteiligt. Zudem ist ihre Erspürung und Bewertung immer auch abhängig vom eigenen Empfinden, gemachten Erfahrungen, subjektiven und kulturellen Prägungen und vielem mehr. Das zweite Kapitel nimmt seinen Ausgang deshalb zunächst von der kritischen Diskussion der Grenzen und den heuristischen Vorbedingungen einer atmosphärischen Analyse. An der Aufführung von Ibsens Gespenster in der Regie von Sebastian Hartmann und der Tanztheaterarbeit Körper von Sasha Waltz werden dann zwei unterschiedliche Methoden der Analyse zur Anwendung gebracht: Sie sollen meine zugrunde liegende These erhärten, dass sowohl die inszenatorische Hervorbringung theatraler Atmosphären als auch die ästhetischen Funktionen, die ihnen im Rahmen der Aufführung zukommen, trotz der Gebundenheit an das subjektive Gespür des Einzelnen, durchaus analytisch bestimmbar sind.
Die Vielzahl der wechselnden Atmosphären, die uns im Alltag begleiten, wird nur selten bewusst reflektiert. Dennoch verbindet sich mit dem stets vorhandenen Gespür das präsente Erleben des Hier und Jetzt von räumlichen Situationen. Über die Atmosphäre erfahren wir die Umgebung in ihrer unmittelbar auf uns bezogenen Stimmungsqualität. Damit fordert sie gleichzeitig zu einer responsiven Haltung auf. Ob wir uns auf die Atmosphäre einlassen oder ihr distanziert begegnen, ob wir von ihr umgestimmt werden oder unberührt bleiben, hängt dabei sowohl von der Intensität und Charakteristik des Erspürten als auch von unserer intuitiv oder willentlich gewählten Einstellung ab. Während es in der überfüllten U-Bahn oder beim Spaziergang durch den Park jedoch meist unerheblich ist, in welchem Maße wir uns der atmosphärischen Beeinflussung ergeben und ob wir unser Verhalten nach ihr ausrichten, entspringen dem theatralen Zusammenspiel von inszenierten Atmosphären und eigenem Respons spezifische ästhetische Funktionen der Aufführung. So vermag die Relation zwischen Gespür und intendierter Atmosphäre nicht nur deren Wahrnehmung, sondern auch den Verlauf der Aufführung zu beeinflussen - wie beispielsweise in Ayse Polats X Wohnungen-Arbeit. Wären wir Zuschauer dem inszenierten Übergriff im Flur des Hochhauses lediglich mit Erheiterung entgegengetreten, hätte dies nicht nur die Atmosphäre der Bedrohung, sondern auch den weiteren Hergang der Aufführung modifiziert. Das dritte Kapitel der Arbeit fokussiert daher explizit auf die atmosphärische Relation von Zuschauerhaltung und Inszenierung und untersucht, wie über die Wahrnehmung von Atmosphären hinaus spezifische Erfahrungen des Zuschauers generiert werden. Zentrale Bedeutung kommt hierbei dem von mir neu in den Blick genommenen theaterästhetischen Begriff der Einfühlung zu. Ausgehend von einer weiteren Theaterarbeit Meg Stuarts entwickle ich die These, dass sich in unterschiedlichen Aufführungen verschiedene Abstufungen atmosphärischer Einfühlung herstellen, deren planvolle Erzeugung sich mit spezifischen ästhetischen Funktionen verbindet. Bevor jedoch an zwei Theaterbeispielen und einer Opernarbeit drei heuristische Kategorien dieser Einfühlung näher exemplifiziert und die mit ihr ermöglichten Erfahrungen untersucht werden, bedarf es zunächst einer Auseinandersetzung mit und Abgrenzung von traditionellen Einfühlungstheorien. Das Kapitel etabliert somit eine neue Kategorie theatraler Einfühlung, die sich nicht dem hermeneutischen Nachvollzug von Narration, sondern der erspürten Atmosphäre der Aufführung verdankt.
Von vorrangigem Wert sind die theoretischen und methodischen Erkenntnisse dieser Untersuchung vor allem für die Erforschung postdramatischer Theaterarbeiten, in denen das Atmosphärische als Träger ästhetischer, etwa dramaturgischer Funktionen der Aufführung bestimmt werden kann. Meine Auswahl der Beispiele aus den Bereichen Theater, Tanztheater und Oper folgt diesem Kriterium. Als postdramatisch lassen sich diese Arbeiten des Gegenwartstheaters insofern bestimmen, als ihre theatralen Mittel der textuellen bzw. narrativen Ebene nicht hierarchisch unterstellt werden. Auch die in den jeweiligen Aufführungen erzeugten Atmosphären treten folglich nicht als schlichtes Beiwerk des ›bebilderten‹ dramatischen Textes hervor. Zu unterscheiden sind die Inszenierungen jedoch anhand der Relevanz, die sie der schlüssigen Schilderung einer Narration einräumen: Während etwa Sasha Waltz' Körper weder Figuren noch eine durchgängige Erzählung anbietet, folgt Michael Thalheimers Emilia Galotti dem Fortlauf der dramatisch angelegten Handlung. Dass die Notwendigkeit einer theaterwissenschaftlichen Betrachtung des Atmosphärischen der Aufführung insbesondere mit Blick auf die postdramatischen Formen des Gegenwartstheaters offensichtlich wird, verwundert nicht. Mit dem Verzicht auf die psychologisch-realistische Darstellung eines dramatischen Textes wird die Aufmerksamkeit vermehrt auf die theatralen Mittel und damit die atmosphärischen Faktoren selbst (etwa den Körper, den Raum, die Stimme, das Licht oder die Lautlichkeit) gelenkt. Wo das Atmosphärische, wie in Sebastian Hartmanns Inszenierung Gespenster, nicht primär der stimmigen Untermalung etwa einer illusionär hergerichteten Ibsen'schen Wohnstube dient, tritt sein Erleben im Moment der Aufführung meist stärker hervor.
Meine Auswahl der Beispiele soll jedoch nicht suggerieren, dass sich die affektive Wirksamkeit der Atmosphäre auf postdramatische Aufführungen beschränkt. Denn anders als etwa eine Kulisse, die im Illusionstheater primär als Zeichen auf eine außertheatrale Wirklichkeit verweisen soll, überschreitet die mit ihr hervorgebrachte Atmosphäre der Aufführung jede Staffage. Das Atmosphärische einer Szene wird auch im Guckkastentheater nicht nur in seinem ›Als-ob‹ gelesen, sondern immer zugleich in seiner präsenten Anmutung erspürt. Als Phänomene des Performativen machen die sich räumlich ausbreitenden Atmosphären also auch im Literaturtheater nicht vor der Rampe halt -, ebenso wenig wie sich ihre Inszenierung auf den Raum des Theaters beschränkt. Auch dort, wo Atmosphären illusionären Zwecken dienen oder wo wir uns außerhalb des Theaters ihrer inszenatorischen Lenkung nicht gewahr werden sollen, beeinflussen sie das eigene Gespür. In zwei Exkursen geht die Arbeit diesen Aspekten deshalb explizit nach: mit einer historischen Betrachtung des Theaters Max Reinhardts sowie mit einer Ausführung zu atmosphärischen Marketingstrategien der Gegenwart und den Ansätzen zu einer ›Kritik der Atmosphären‹ in den Arbeiten des Künstlerpaares Ingo Vetter und Annette Weisser.
Den Fragen und Unsicherheiten, die mein Besuch bei Frau Barthelmess hier einleitend aufwarf, werde ich mich schließlich am Ende noch einmal zuwenden - hoffend, dass der Rückblick auf die Befunde dieser Arbeit nunmehr zu ihrer theaterwissenschaftlichen Beantwortung beiträgt.
Einführung in die philosophischen Theorien der Atmosphäre
Die philosophische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Atmosphäre als eine im eigenen Spüren auffällig werdende emotionale Tönung der Umgebung teilt sich wesentlich in drei Stränge. Im Kontext der Theorien zur Einfühlung kommt sie erstmals im Stimmungsdiskurs um 1910 auf. Mit Hermann Schmitz' Bestimmung der Atmosphäre als autarkem Gefühl setzt die Diskussion objektiv erfahrener Anmutungen dann ein halbes Jahrhundert später neu ein. Mitte der 1990er-Jahre wird sie schließlich von Gernot Böhme aufgegriffen, der das Phänomen unter veränderten Vorzeichen als ein grundlegend ästhetisches Erleben von Welt diskutiert. In alle drei Richtungen soll hier kurz eingeführt werden, um damit den Rahmen zu skizzieren, innerhalb dessen sich meine nachfolgenden Untersuchungen positionieren.
Zum Stimmungsbegriff
Wie David E. Wellbery in seinem Überblick über die historische Genese des Begriffs der Stimmung und seiner mannigfaltigen semantischen Felder aufzeigte, umfasst sein gegenwärtiger Gebrauch drei Aspekte. Er beschreibt 1. unter Bezug auf das Ich eine spezifische emotionale Qualität, etwa die schlechte oder gute Stimmung; 2. hinsichtlich einer Gruppe deren Zustand, etwa als integrale Bestimmung der politischen oder ökonomischen Stimmung und 3. bezüglich einer situativen Umgebung deren emotional geprägte Anmutung und Verfasstheit, etwa als Stimmung einer Landschaft. Insbesondere im zweiten und dritten Punkt trifft sich die Semantik des Begriffs mit dem der Atmosphäre, weswegen beide Termini heute oft synonym gebraucht werden. Von vordringlichem Wert für die Erforschung theatraler Atmosphären ist jedoch insbesondere der dritte Aspekt, der sich auf die Relation von Umgebung und Subjekt bezieht. Zwar ist diese im Stimmungsbegriff des 17. Jahrhunderts mit der Kopplung vom ›Stimmen‹ (hier noch vollständig auf den Vorgang des Stimmens eines Instruments bezogen) und des ›Gestimmtseins‹ bereits assoziativ gegeben. Jedoch weist Wellbery darauf hin, dass sich über zunächst rein metaphorische Verwendungen des musikalischen Bildes eine semantische Betonung der Ichqualität des Gestimmtseins herausbildete; verstanden als ein innerer Zustand, der durch ästhetische Erfahrungen hervorgerufen wird oder diese selbst künstlerisch hervorbringt. Der Vorgang des Stimmens bezieht sich hier etwa auf eine Vermittlung zwischen Einbildungskraft und Verstand (bei Kant) oder zwischen innerem Lebensgefühl und äußerem Ausdruck (bei Fichte) - jedoch nicht auf die Gestimmtheit als Abstimmungsvorgang zwischen äußeren Komponenten.
Erst Anfang des 20. Jahrhunderts erweiterte sich der Fokus explizit auf das Atmosphärische, auf die Umgebungsstimmungen. Ein früher Ansatz, Stimmung als ästhetische Kategorie von Kunstwerken zu fassen, findet sich in Alois Riegls Aufsatz »Die Stimmung als Inhalt der modernen Kunst«. Der Kunsthistoriker fasst unter dem Begriff eine Stimmigkeit, ein ausgewogenes Arrangement von Formen, etwa in der impressionistischen Malerei, die er mit der Fernsicht auf eine Landschaft und dem daraus hervorgehenden »Gefühl der Beseeligung, Beruhigung, Harmonie« vergleicht. Kurze Zeit später verknüpft auch der Philosoph Georg Simmel den Begriff der Stimmung mit Naturerfahrungen und definiert mit ihm Landschaft als dasjenige, was einer Umgebung über das nicht zu ergründende Zusammenspiel ihrer einzelnen Elemente Einheit verleiht. In beiden Fällen bezieht sich der Begriff jedoch weder auf eine spezifische emotionale Tönung noch auf eine daraus resultierende Eigenstimmung, sondern auf das über den Stimmungseindruck vermittelte Erlebnis der Ganzheit heterogener Teile.
Dem Zusammenhang zwischen Eigen- und Umgebungsstimmung widmet sich hingegen eine Untersuchung des Philosophen und Psychologen Moritz Geiger. Seine Arbeit Zum Problem der Stimmungseinfühlung sucht zunächst allgemein zu ergründen, warum eine Landschaft beispielsweise ›melancholisch‹ erscheint. Dabei fokussiert er auf das Wechselverhältnis zwischen eigenem Erleben und Umgebung, um sich dann den spezifischen Relationen in der Betrachtung bildender Kunst zuzuwenden.
Geigers Befunde werden für die im dritten Kapitel dieser Arbeit vorgenommene Untersuchung des Verhältnisses zwischen atmosphärischer Wahrnehmung und inszenatorischer Erzeugung wichtige Impulse geben - bezüglich einer vorläufigen Bestimmung des Phänomens der Atmosphäre selbst sind sie jedoch kaum hilfreich, da sie diese nur indirekt über den Subjektpol ihrer Erfahrung thematisieren.
Aus dem knappen Überblick über die zahlreichen semantischen Nuancen und die thematische Heterogenität des Stimmungsdiskurses leitet sich bereits eine doppelte Begründung ab, weshalb die vorliegende Arbeit nicht den Stimmungs-, sondern Atmosphärenbegriff zur zentralen Untersuchungskategorie erhebt. Zunächst finden sich in den Schriften zur Stimmung kaum systematische Abhandlungen zum Phänomen selbst. Vielmehr wird der Stimmungsbegriff genutzt, um über ihn auf die Möglichkeit verschiedener Integrationsleistungen, etwa die Zusammenführung heterogener Empfindungen oder Wahrnehmungen, zu blicken. Darüber hinaus bleibt der Begriff aber auch dort, wo seine eigenständige Erfahrung als Stimmungserleben der Umgebung in den Vordergrund tritt, stets eng - für die Zwecke dieser Untersuchung zu eng - an das wahrnehmende Subjekt gebunden. Atmosphärisches beschränkt sich hier vornehmlich auf das Konzept eines inneren Phänomens, auf einen sich meist primär über das wahrnehmende Ich herstellenden Stimmungseindruck. Obwohl mit dieser Fokussierung zwar ein konstitutiver Teil des Atmosphärischen angesprochen wird, bedarf es zur Analyse seiner theatralen Erzeugung indes einer stärkeren Berücksichtigung der Gegenstandsseite und einer Konkretisierung des präsentischen Zusammenhangs zwischen Atmosphäre, eigener Stimmung und situativer Umgebung. Aus diesen im Verlauf des ersten Kapitels noch zu ergänzenden Gründen verfolgt die vorliegende Arbeit eine terminologische Trennung zwischen den Begriffen der Atmosphäre (als Zwischen von Subjekt und Objekt) und Stimmung (als subjektivem Pol ihrer Erspürung).
Hermann Schmitz:
Gefühle als frei schwebende Atmosphären
Die diskursive Objektivierung des Phänomens der Atmosphäre ist
dem Philosophen Hermann Schmitz zu verdanken. Der Begründer
der »Neuen Phänomenologie« entwickelte zwischen 1964 und
1980 sein zehn Bände umfassendes System der Philosophie, in
dem das Atmosphärische einen zentralen Bezugspunkt darstellt.
Seine Definition folgt einer dem gesamten Schaffen zugrunde
liegenden These:
Was das große Unternehmen eines Systems der Philosophie gegenwärtig zu rechtfertigen scheint, ist nicht allein theoretisches, spekulatives Interesse, sondern hauptsächlich das Bedürfnis nach Überwindung der Introjektion der Gefühle, d. h. der Neigung, Gefühle als subjektive, private Seelenzustände der einzelnen Menschen aufzufassen, statt als erregende als ergreifende Mächte, die von sich aus wirken und über die Menschen [...] kommen, ohne der Heimstatt in einem Subjekt zu bedürfen und bloß dessen Ausgeburten, Inhalte oder Eigenschaften zu sein.
Diese »Introjektion der Gefühle« setzt, so Schmitz, im Griechenland des fünften vorchristlichen Jahrhunderts ein. Dabei dient sie dem Ziel, die menschliche Existenz vom Diktat der Gefühle zu befreien: Kurz vor Platon und Aristoteles, ereignet sich im europäischen, d. h. hier griechischen, Denken ein Bruch, durch den sich an die Stelle eines archaischen Paradigmas für das menschliche Welt- und Selbstverständnis ein neues Paradigma setzt, das seither die dominante europäische Intellektualkultur bestimmt. Das alte Paradigma bezeichne ich als archaischen Dynamismus. [...] Das menschliche Erleben ist im archaischen Paradigma weder zentralisiert noch abgegrenzt: die Person, die ›ich‹ sagt, steht ohne Hausmacht in einem Konzert von Regungsherden [...] Das neue Paradigma ist durch Psychologismus, Reduktionismus und Introjektion im Zeichen des Innenweltdogmas charakterisiert. Das Innenweltdogma kann so formuliert werden: Für jeden Bewußthaber zerfällt die Welt in seine Außenwelt und seine Innenwelt.
Die Verlagerung der Gefühle in die - so Schmitz - fiktive Innenwelt des Menschen brachte die Verpflichtung zur Kontrolle derselben mit sich. Statt sich zum Spielball äußerer Gefühlsmächte zu machen, galt es nunmehr, die Emotionen zu kontrollieren. Schmitz lehnt diese Verinnerlichung der Gefühle ab und verfolgt mit seinen Arbeiten die Absicht, den vollzogenen Paradigmenwechsel weitgehend rückgängig zu machen. Entsprechend definiert er im Umkehrschluss Gefühle als »räumlich, aber ortlos, ergossene Atmosphären«. Das Phänomen der Atmosphäre dient ihm also vor allem als argumentatives Werkzeug innerhalb seines Vorhabens, die Vorstellung vom Gefühl zu entsubjektivieren. Dabei kommt ihm die ontologische Unbestimmtheit des Begriffs der Atmosphäre entgegen. So führt Schmitz zur Plausibilisierung der Gleichung »Gefühl gleich Atmosphäre« den Terminus zunächst in seiner klimatischen Bedeutung ein. Leibliches Befinden, so Schmitz, ist klima- und wetterabhängig. Eine warme Sommernacht wirkt sich anders auf unsere Konstitution aus als ein nahender Schneesturm. Obwohl sich Temperaturen und Windstärken objektiv messen lassen, werden diese klimatischen Atmosphären von verschiedenen Personen als unterschiedlich angenehm oder auch unangenehm empfunden. Gefühlte Temperaturen sind also subjektive Tatsachen, befinden sich aber dennoch nicht inner-, sondern außerhalb des Menschen. Die jeweils gefühlte klimatische Atmosphäre ist etwas »randlos im Raum Ergossenes«, das sich zwischen den Personen befindet und diese von außen einhüllt.
Gleiches behauptet Schmitz nun kühn von den Gefühlen, indem er den Atmosphärenbegriff generalisierend auf sie bezieht: Emotionen sind dieser »exzentrischen Gefühlstheorie« zufolge frei im Raum schwebende Atmosphären. Sie vermögen, leiblich zu ergreifen, können aber nicht umgekehrt aus dem eigenen Empfinden heraus entstehen, da ja eben dieses schon immer der vorgängigen Atmosphäre geschuldet ist. Obwohl die Gefühle demnach weder an Stoffliches noch an Belebtes gebunden sind, sind sie nicht als etwas Transzendentes zu denken:
Alle vermeintlichen Inhalte des Bewußtseins passen nicht in ein mythisches Privathaus, mit dem der Mensch gleichsam in die Welt hineingeboren wurde, sondern sie kommen, soweit sie nicht bloße Erdichtungen sind, in der gemeinschaftlichen Welt nicht prinzipiell anders vor als Häuser und Bäume. [...] Gefühle sind nicht subjektiver als Landstraßen, nur weniger fixierbar.
Schmitz versteht Atmosphären demnach als frei schwebende »Halbdinge«, die wie Wolkenfelder des Emotionalen unsere Umwelt durchziehen. Die Art und Weise, in der Atmosphären bzw. Gefühle ergreifen, ist nach Schmitz rein affektiver Natur: »Das Gefühl ergreift durch leibliche Regungen, die es dem Betroffenen auferlegt.« Erfasst uns eine Atmosphäre, wirkt diese körperlich auf uns ein. Erst durch das Spüren der eigenleiblichen Regung werden wir uns der Gegenwart eines ergreifenden, objektiven und ungebundenen Gefühls bewusst. Atmosphären sind nach Schmitz weder an die sinnliche Wahrnehmung der Umgebung noch an mentale Prozesse des Subjekts gebunden.
Die Definition der Gefühle als »ortlos ergossene Atmosphären« wirkt zunächst äußerst verstörend und ist in seiner Ausschließlichkeit auch immer wieder kritisiert worden. Als Inbegriff des Privaten sind uns Emotionen meist integraler Bestandteil der eigenen oder fremden Innerlichkeit. Für die Untersuchung theatraler Atmosphären schafft dieser Ansatz jedoch zugleich die notwendige Aufmerksamkeit für jene Empfindungen, die sich nicht an individuelle Biografien knüpfen, sondern der Umgebung zugehörig sind und uns in ihr zu ergreifen vermögen. Eine Szene der Trauer im Theater vermag auch uns traurig zu stimmen, gleichwohl können wir zwischen dem eigenen Mitschwingen und der im Raum stehenden Traurigkeit unterscheiden. Damit ist allerdings zugleich auch die Problematik der Schmitz'schen Theorie -
gerade für die Bestimmung theatraler Atmosphären - aufgezeigt.
Denn obwohl die Atmosphäre der Trauer als objektives Gefühl den Raum besetzt, beruht ihr Vorhandensein nicht auf einem willkürlich das Theater durchziehenden Gefühl, sondern auf der Gesamtheit der szenischen Eindrücke. Theatervorstellungen sind auf allabendliche Wiederholungen angelegt, und obwohl sich die jeweilige Ergriffenheit der Zuschauer nicht inszenatorisch beherrschen lässt, intendieren szenische Probenvorgänge und Absprachen doch die Wiederholbarkeit der mit ihr verbundenen Erfahrungen. Erwiese sich der Entwurf von Hermann Schmitz als tragfähig, hieße dies jedoch, dass Gefühle als Atmosphären das Theater und die Zuschauer grundlos überfallen. Ohne zu wissen warum, würden wir von Atmosphären besetzt, die verschwinden, wie sie gekommen sind, von denen wir nicht wissen, woher sie stammen und wohin sie entweichen.
Gernot Böhme: Atmosphäre als Zwischenphänomen
Während der Stimmungsdiskurs Anfang des 20. Jahrhunderts Atmosphärisches vornehmlich in das wahrnehmende Subjekt verlagerte und die Theorien von Hermann Schmitz hingegen eine Objektivierung des Phänomens betrieben, leisten die Arbeiten Gernot Böhmes eine Vermittlung beider Positionen. Dass der Begriff der Atmosphäre erst durch dessen Konzeptualisierung an übergreifendem Interesse gewann, mag zum einen daran liegen, dass Böhme ihn zum Grundbegriff seiner als »allgemeine Wahrnehmungslehre« angelegten »neuen Ästhetik« erhob. Zum anderen aber thematisiert er mit ihm ein Phänomen, das spätestens seit Ende des 20. Jahrhunderts eine zentrale Dimension des alltäglichen als auch künstlerischen Erlebens darstellt. So geht seiner Beschäftigung mit dem Atmosphärischen die Diagnose einer Veränderung der westlichen Gesellschaft voraus, mit der sich auch die bisherige, auf die Beurteilung von Kunstwerken beschränkte ästhetische Disziplin völlig neuen Anforderungen ausgesetzt sieht: Aufgrund einer zunehmenden Ästhetisierung unserer Lebenswelt, so Böhmes zentrale These, bedürfe es einer neuen kulturtheoretischen Methode, mit der sich die veränderte Wahrnehmung und Erlebnisqualität der Dinge sowohl beschreiben als auch analysieren lässt. Gerade die Kunstkritik aber sei mit ihrer traditionellen Suche nach der ›tieferen Bedeutung‹ dazu nicht in der Lage. Vielmehr ginge die Ästhetik, so Böhme, an der »Ästhetisierung des Realen« vorbei, da Werbung, Design, Architektur oder Mode es explizit nicht auf intellektuelle Erkenntnis, sondern zunehmend auf ästhetische Alltagserfahrungen, im Sinne einer emotionalen Beeinflussung des Wahrnehmenden, anlegten:
Die bisherige Ästhetik ist im wesentlichen Urteilsästhetik, d. h. es geht in ihr weniger um Erfahrung oder gar sinnliche Erfahrung, wie der Ausdruck Ästhetik durch seine Herkunft vom Griechischen nahe legen könnte. [...] Spätestens seit Kant geht es aber um Beurteilung, d. h. um die Frage der Berechtigung der Teilnahme an etwas oder der Ablehnung von etwas. Seither besteht die soziale Funktion der ästhetischen Theorie darin, die Konversation über Kunstwerke zu ermöglichen.
Was Böhme im Gegensatz hierzu insbesondere im Rückgriff auf Alexander Gottlieb Baumgartens ästhetische Theorie der sinnlichen Erkenntnis einfordert, ist die Besinnung auf die Sinnlichkeit und Leiblichkeit der ästhetischen Erfahrung. Der ihm zufolge seit dem 18. Jahrhundert in Beurteilungspflichten verharrenden Ästhetik stellt er daher eine Aisthetik entgegen, innerhalb derer ihm der Begriff der Atmosphäre beides ist: zentrales Werkzeug der Beschreibung ästhetischer Wahrnehmung und zugleich deren wichtigster Erkenntnisgegenstand: »Die neue Ästhetik wird versuchen, diese Erfahrungen [der Ästhetisierung von Alltag, Politik und Ökonomie] mit Hilfe des Atmosphärenbegriffes zu analysieren und sprachfähig zu machen.«
Vor allem in drei Bereichen sollen die bisherigen Versäumnisse mithilfe der Aisthetik wettgemacht werden: in der Natur (indem sie herausarbeitet, »ob es eine besondere ästhetische Naturerkenntnis gibt und was diese an der Natur erkennt«), im Design (als wesentlichem Instrument der Ästhetisierung) und in der Kunst (indem sie die »Kluft zwischen der modernen künstlerischen Produktion und ihrem Publikum« schließt). Die Zusammenführung von ästhetischen Fragestellungen und Naturerfahrungen eröffnet Böhme ein zentrales, sowohl für die Aisthetik als auch für die Ökologie fruchtbares Untersuchungsfeld, nämlich »die Frage nach dem Sich-Befinden in Umgebungen«. Durch das Problem der Umweltverschmutzung wurde der Mensch Böhme zufolge in den letzten Jahrzehnten auf neue Weise mit seiner Leiblichkeit konfrontiert. Sein spätestens seit Descartes geprägtes Selbstverständnis als Vernunfts- und Verstandeswesen wurde dabei durch die Erfahrung erschüttert, dass menschliches Leben in seiner Körperlichkeit Bestandteil der umgebenden Natur ist. In der Folge ist der Mensch (im »Durchzug der natürlichen Medien« wie Wasser, Luft, Erde) auch von ihrer Zerstörung unmittelbar leiblich betroffen. Wird diese Umweltproblematik üblicherweise naturwissenschaftlich erforscht, so bedarf sie nun nach Böhme auch der ästhetischen Betrachtung. Erst durch sie könne unser leibliches Befinden in Umgebungen treffend analysiert werden. Geht man nun von der so definierten ökologischen Naturbetrachtung in die inszenierten Räume des Alltagslebens hinein, [...] so ist klar, daß die Kunst - und schon gar nicht die hohe Kunst - weder das alleinige noch das wichtigste Phänomen der Ästhetik ist. [...] Es geht darum, daß jede Gestaltung von Umwelt, jegliche Formation der Oberfläche der Welt in unser Befinden eingeht. Jeder Raum, in dem man sich befindet, jede Blümchentapete, jede S-Bahn-Gestaltung, jede Atmosphäre in Verkaufsräumen etc. ist Ästhetik.
Sowohl im Alltagsdesign als auch in der Kunst der Gegenwart geht es Böhme zufolge immer weniger um eine rein funktionale Nutzung bzw. intellektuelle Entschlüsselung der Objekte, sondern vielmehr um eine direkte sinnliche Wirkung: Wenn man in der bildenden Kunst mit Gemälden, die nichts darstellen, und in der Literatur mit Texten, die keinen Sinn haben, rechnen muß, dann kann Semiotik und Hermeneutik nicht das ganze der Ästhetik sein. In Installation, Performance und Happening tritt eine Dimension zutage, die immer schon zur Kunst gehörte, aber im Blick auf Form und Bedeutung verdrängt wurde.
Damit ist das Zentrum des Böhme'schen Entwurfs angesprochen - seine Theorie der Atmosphäre. Die Betrachtung dieses Phänomens eröffnet die Möglichkeit, beide Stoßrichtungen der Aisthetik miteinander in Verbindung zu setzen: die Diagnose einer Ästhetisierung der Objekte einerseits und andererseits die Untersuchung der damit einhergehenden veränderten Befindlichkeit des Subjekts. Seine Bestimmung der Atmosphäre führt ihn über die »ontologische Ortlosigkeit«, in der sie bei Hermann Schmitz verbleibt, zu einer Betrachtung der Objekte und ihrer Erscheinungsweisen. Werden Gegenstände üblicherweise durch ihre stofflichen (wie Farbe, Material) und sekundären Qualitäten (wie Ausmaß und Form) definiert und durch diese Bestimmungen ein- und von der Umgebung abgegrenzt, strebt Böhme im Rekurs auf die sinnliche Erfahrung eine Umkehrung dieser Festlegung an. Statt die Eigenschaften eines Gegenstandes als eine Demarkationslinie zu anderen Objekten zu denken, versteht Böhme sie als [...] Artikulation ihrer Präsenz, der Weise ihrer Anwesenheit.
Das Ding wird so nicht mehr durch seine Unterscheidung gegen anderes, seine Abgrenzung und Einheit gedacht, sondern durch die Weisen, wie es aus sich heraustritt. Ich habe für diese Weisen, aus sich herauszutreten, den Ausdruck ›die Ekstasen des Dings‹ eingeführt. Form, Material, Struktur, Farbe und Volumen sind also nicht nur Merkmale, die das Ding als solches bestimmen, sondern Eigenschaften, die in der spezifischen Weise ihrer Anwesenheit den sie umgebenen Raum prägen bzw. »tingieren«. So ist etwa eine Tasse durch ihr Blausein von anderen unterschieden, gleichzeitig strahlt aber dieses Blau auch auf die umgebenden Objekte aus und prägt die situative Wahrnehmung. Im Unterschied zu gegenständlichen Eigenschaften, die sich auch mental aufrufen oder imaginieren lassen, sind Ekstasen nur in der sinnlichen Wahrnehmung gegeben. Auf ihr Erscheinen vermag deshalb eingewirkt zu werden. Gerade hieran ist etwa Designer/innen, Bühnenbildner/innen, Kosmetiker/innen oder Werbeleuten gelegen:
In der ästhetischen Gestaltung geht es aber genaugenommen gar nicht um Eigenschaften, also um etwas, was die Dinge an sich haben und was sich in ihrem Gebrauch auswirken kann, sondern es geht um Ekstasen, d. h. um die Weise, wie Dinge aus sich heraustreten und wie sie sich im Raum präsentieren. Die so veränderte Ding-Ontologie eröffnet Böhme nun die Möglichkeit zur Statusbestimmung der Atmosphären, und zwar zunächst in Anlehnung an Hermann Schmitz. Wie dieser bestimmt er Atmosphären als räumlich ergossen. In deutlichem Gegensatz zu Schmitz wird die Atmosphäre aber nicht als eine frei schwebende Anwesenheit gedacht, sondern auf die Ekstasen der Dinge zurückgeführt. Böhme bindet Atmosphären also ausdrücklich an Umgebungen. Es ist die spezifische »Artikulation ihrer Präsenz, der Weise ihrer Anwesenheit«, die das Atmosphärische für das Subjekt wahrnehmbar macht. Letzteres heißt jedoch nicht, dass das Phänomen nunmehr rein der Objektseite zugedacht werden soll. Vielmehr charakterisiert Böhme das Atmosphärische als etwas von den Dingen räumlich Ausgestrahltes, das den Menschen ergreift und von ihm leiblich wahrgenommen wird.
Die Atmosphären sind so konzipiert weder als etwas Objektives, nämlich Eigenschaften, die die Dinge haben, und doch sind sie etwas Dinghaftes, zum Ding Gehöriges, insofern nämlich die Dinge durch ihre Eigenschaften - als Ekstasen gedacht - die Sphären ihrer Anwesenheit artikulieren. Noch sind die Atmosphären etwas Subjektives, etwa Bestimmungen eines Seelenzustandes. Und doch sind sie subjekthaft, gehören zu den Subjekten, insofern sie in leiblicher Anwesenheit durch Menschen gespürt werden und dieses Spüren zugleich ein leibliches Sich-Befinden der Subjekte im Raum ist. Die sich räumlich ausbreitende Atmosphäre ist also weder vollständig an das Objekt der Wahrnehmung noch an das wahrnehmende Subjekt gebunden. Sie ist: [...] die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen. Sie ist die Wirklichkeit des Wahrgenommenen als Sphäre seiner Anwesenheit und die Wirklichkeit des Wahrnehmenden, insofern er, die Atmosphäre spürend, in bestimmter Weise leiblich anwesend ist.
Atmosphären werden demnach ebenso wenig auf die Umgebung projiziert, wie sie ohne ihre leibliche Erfahrung objektiv vorhanden sind. Vielmehr werden sie in der Wahrnehmung eines Subjektes auffällig, indem sie »uns zu dem machen, was sie affektiv sind«. Damit beschreibt Böhme Atmosphären als ein Phänomen, das dem Zusammentreffen zweier Grundbedingungen entspringt: Ebenso wie der Wahrnehmende nicht als von der Umwelt abgetrenntes Subjekt, sondern »wesentlich als Leib gedacht werden« muss, der »in seinem Sich-Spüren ursprünglich räumlich ist«, so müssen die Objekte in ihrem Potenzial verstanden werden, aus sich herauszutreten. Diesem doppelten Gerichtetsein verdankt sich das Zwischenphänomen der Atmosphäre. Nach Böhme ist diese Synthese aus Dingekstasen und affektivem Betroffensein nun keinesfalls als kontingentes Ereignis zu verstehen. Vielmehr kennzeichnet es unsere generelle Weltverbundenheit: »Atmosphärische[s] Spüren von Anwesenheit [ist] das grundlegende Phänomen von Wahrnehmung [...] Wahrnehmung ist qua Spüren eine Erfahrung davon, daß ich selbst da bin und wie ich mich, wo ich bin, befinde.«
Die Bestimmung der Atmosphäre als Zwischenphänomen und die These ihrer Erzeugbarkeit kommen dem Vorhaben einer theaterwissenschaftlichen Untersuchung des Atmosphärischen entgegen. Beide Aspekte kennzeichnen zugleich die Grundvoraussetzung des Theaters, das einerseits auf der Inszenierung von Dargebotenem, andererseits auf dessen Wahrnehmung beruht, und deshalb nur im Moment der Aufführung zu generieren vermag. Die folgenden Untersuchungen nehmen deshalb von der Definition des Atmosphärischen als einem Zwischen von Subjekt und Objekt ihren Ausgang. Bevor jedoch im zweiten Kapitel dieser Arbeit der Analyse ihrer theatralen Hervorbringung nachgegangen werden kann, ist zunächst eine Schärfung dessen notwendig, was die vorgestellten Ansätze nur ungenügend umreißen: Was genau bedeutet es, von der Atmosphäre ergriffen zu werden? Wie ist dieses Spüren zu denken? Welche sinnlichen und mentalen Bedingungen liegen ihm zugrunde und wie kann sich das Atmosphärische vermitteln? Das folgende Kapitel wendet sich also zunächst den Fragen atmosphärischer Wahrnehmung zu.