Theater der Zeit

Kommentar

Tot in Sankt Petersburg

Über ein Schaubühnen-Gastspiel in Russland

von Josef Bierbichler

Erschienen in: Theater der Zeit: Andrzej Stasiuk: Autor der Vergessenen – Der Erste Weltkrieg und das Rumoren der Geschichte (01/2014)

Assoziationen: Debatte

Es war gerade die Zeit der Aufdeckungen, als Ostermeier mir eine gemeinsame Arbeit vorschlug. Überall waren pädagogisch ausgebildete Päderasten ans Licht gekommen. Man hatte sie hervorgezerrt aus Löchern aus Vertuschen, Verschweigen und vollkommen absentem Unrechtsbewusstsein – aus jahrhundertealter Selbstgewissheit: Die meisten waren ohne jedes Schuldgefühl. Da Ostermeier schier zum Einzigen geworden war, bei dem ich mir die Vorstellung von einer gemeinsamen Theaterarbeit noch abringen konnte – jetzt noch mehr, nachdem Gotscheff tot ist –, nahm ich seinen Vorschlag an. Ich wollte aber keine Texte mehr auswendig lernen und empfahl, etwas zu machen mit Gesang. Da könnte ich vom Blatt singen. Ostermeier kam bald mit „Der Tod in Venedig“ von Thomas Mann daher. Das könne man mit den „Kindertotenliedern“ von Gustav Mahler mischen, und das gemeinsame Vorhaben wäre bewehrt mit ausgewiesenem Material zum aktuellen Thema. So kam es schließlich zur Aufführung. Und nach bald dreißig Vorstellungen kam eine Einladung nach Sankt Petersburg.

Davor hatte ich Angst.

Ein Jahr zuvor war dort ein Gesetz erfunden worden, das das Reden über Homosexualität und Knabenliebe im Beisein von Minderjährigen unter Strafe stellt. Auch für Ausländer. Und in Thomas Manns Erzählung wird nur darüber geredet. Und das Objekt der Begierde in der Erzählung – und...

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