Krisen des Besonderen in einer geschlossenen Welt: Japans Kabuki
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Ein Jahrhundert nach der Blütezeit des Nō bildete sich das im Wesentlichen von den nichtadligen urbanen Schichten des vormodernen Japan getragene Kabuki aus. Die Tradition besagt, dass im Jahr 1596 eine Shinto-Priesterin in einem Flussbett bei Kyoto buddhistische Tänze aufführte, aus denen sich das zunächst von Frauen gespielte Kabuki-Theater entwickelte. In den 1620er Jahren wurde die Darstellung durch Frauen verboten. Seitdem spielen wie im Nō ausschließlich männliche Schauspieler Kabuki. Europäische Darstellungstechniken der Jesuiten, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Teilen Japans Theater missionierten, könnten wesentliche Anregungen für die spezifische Form des Kabuki gegeben haben, insbesondere seine für die japanische Theatertradition ungewöhnlich aufwendige technisierte Szenerie.178
Der Schwerpunkt der „synthetischen“ Darstellungsweise des bis heute lebendigen Kabuki, das Zusammenwirken von Wort, Tanz, Musik, liegt auf dem Gestisch-Tänzerischen.179 Das dürfte auch das massive Ausstellen des Künstlichen der Kostüme und der Schminkmasken in den Inszenierungen insgesamt erklären.180 Es könnte aber auch wesentlich damit zusammenhängen, dass Kabuki wie andere große vormoderne Theaterformen, etwa die athenische Tragödie und die Pekingoper, ursprünglich im Freien gespielt wurden, also durch besondere Mittel die Aufmerksamkeit des Publikum fesseln mussten. Bestimmte Schminkmasken werten zeichenhaft die moralische Verfassung von Figuren,181 und die Handhabung des Fächers kann...