I.
Seitdem das Theater in der antiken Sklavenhaltergesellschaft in Griechenland entstanden ist, steht es im Konflikt mit der Moral. Während die Moral die Gesamtheit ethisch-sittlicher Normen umfasst, die das individuelle Handeln zugunsten des gesellschaftlichen Konsenses regulieren, stellt das Theater diesen gesellschaftlichen Konsens in seinem inneren Zusammenhang zur Schau. So macht es ihn verhandelbar. Theater als Theater macht den gesellschaftlichen Konsens ipso facto fragwürdig und schafft eine Bedingung der Möglichkeit von Dissens. Es verweltlicht politische Macht im Wege spielerischer Selbstkonfrontation der realen Gesellschaft mit einer virtuellen, die die reale zu sein vorgibt. Das unreflektierte Selbstverhältnis wird in einer sinnlichen Reflexionsform erfahren. Das ist die historische Aufgabe des Theaters. Sein Begriff besteht, folgt man Platon, aus einer dreistelligen Relation: Der Theoros ist der Zuschauer im Theater, das Theorein das zusehende Anschauen und die Theoria das in der Anschauung gewonnene Bild der Sache. Mithin entsteht die sinnliche Reflexion aus dem Gegenteil ihrer selbst, nämlich aus der Sache. Und es ist dann auch Platon gewesen, der das Theater und die Kunst aus moralischen Gründen im idealen Staat verboten wissen wollte, damit die Klassenmacht der Besitzenden nicht untergraben wird. Der Polis-Bürger, selbst von Sklavenarbeit lebend, sollte sich kein vom Schauspiel produziertes Bild der widersprüchlichen Idee...