Der historische Kontext
Ästhetik des Verschwindens
von Joachim Fiebach
Erschienen in: Welt Theater Geschichte – Eine Kulturgeschichte des Theatralen (05/2015)
Die Überwindung der gewohnten Raum-Zeit-Distanzen, die neuen Geschwindigkeiten des gesellschaftlichen Lebens und Arbeitens und die neu geschaffene Vieldimensionalität der Perspektiven auf die sinnlichen Oberflächen zeugten von der außerordentlichen Produktivität moderner Wissenschaftlichkeit und ihrer technologisch-experimentellen Praktiken. Sie bestätigten in diesem Sinne triumphal eine prinzipielle Durchschaubarkeit und rationale Beherrschbarkeit der Dinge, machten aber zugleich das konkrete Durchdenken, das rationale Begreifen oder auch Ergreifen enorm schwierig und bargen so das Potenzial einer grundsätzlichen, gefährlichen Verunsicherung des Verhaltens zu ihnen. Das wurde seit den 1870er Jahren bestärkt durch die spezifische Natur epochaler wissenschaftlichtechnischer Entdeckungen/Erfindungen und der mit diesen wachsenden Industrien 283 – die Elektrizität, die als solche nicht sichtbar ist, das Radium und damit die Röntgenstrahlung, die selbst unsichtbare Körperlichkeit schemenhaft sichtbar machen kann, das Ergründen der unsichtbaren doch höchst wirksamen molekularen Prozesse und der damit verbundene Aufstieg der neuen, vielfach entscheidenden Chemieindustrie, und nicht zuletzt Freuds Entdeckung der Mächtigkeit/Macht des Unbewussten/des Nicht-klar-rationalBeherrschten für das bzw. im Verhalten des Individuums, der gleichsam unabwendbare Blick in die „Unergründlichkeit“ der menschlichen Psyche. Diese Realitäten wurden in ihrer Gesamtheit nicht zuletzt als ein höchst problematisches Entgleiten, ja Verschwinden der Dinghaftigkeit, der „sinnlichen Körperlichkeit“ wahrgenommen, wurden auch erlebt als ein Unwirklichwerden, auf jeden Fall ein Unheimlichwerden der...