Vom Glauben an die Macht der Bilder
Wie man die Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit kritisiert
von Anna Raisich
Erschienen in: Recherchen 156: Ästhetiken der Intervention – Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters (04/2022)
Assoziationen: Wissenschaft (ZPS) Zentrum für Politische Schönheit

»Wir sind Künstler, wir machen Aktionskunst. Wir machen keinen Polit-Aktivismus.«1 So eindeutig wie Cesy Leonard, ihres Zeichens »Chefin des Planungsstabs«2 beim Zentrum für Politische Schönheit (ZPS), es in diesem Statement auf der Website des Kollektivs formuliert, scheint es um dessen Tun keineswegs bestellt zu sein. Schon das Erfordernis der Abgrenzung künstlerischen Handelns von aktivistischer Praxis, die der deklarativen Aussage vorausgeht, ist ein Indiz dafür, dass das ZPS es den Beobachter:innen seiner Aktionen offenbar schwer macht, diese eindeutig der einen oder der anderen Seite zuzuschlagen. Eine Unbestimmtheit, die teils heftige Reaktionen seitens verschiedenster Akteur:innen provoziert, die sich unter anderem in öffentlich geführten Auseinandersetzungen um die Frage »Ist das nun Kunst oder Politik?« entladen und etliche Spalten der medialen Berichterstattung füllen. Versuche seitens des ZPS, Klarheit bezüglich des Kunststatus seiner Aktionen zu schaffen, werden von Gegner:innen häufig als strategische Behauptungen abgetan, die es ermöglichen sollen, unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit fragliche politische Ziele zu verfolgen. Indessen beklagen Sympathisant:innen nicht selten die künstlerische Ungebildetheit einiger Kommentator:innen, die blind für den wahren Charakter des zur Diskussion stehenden Gegenstands seien. Die hitzig geführte Debatte zeigt, dass die Versuche, Eindeutigkeit in Bezug auf den Status der Aktionen herzustellen, ihre ›reale‹ Wirkmacht oder -ohnmacht und die ›eigentliche‹ Natur des Handelns der darin verwickelten Akteure aufzudecken, einen wesentlichen Bestandteil dieser Aktionen ausmachen.
Daher bilden eben diese kontroversen Abgrenzungsversuche den Ausgangspunkt des vorliegenden Essays. Sie nicht als bloße diskursive Begleiterscheinungen zu behandeln, sondern als Einstieg in eine (kunstwissenschaftliche) Betrachtung der vom ZPS durchgeführten Aktionen, soll dabei helfen, besser zu verstehen, wie diese vielfältigen und unübersichtlichen Ereignisse ihre Wirkung entfalten. Eine solche Herangehensweise, die die Unterscheidung zwischen Kunst und Politik bzw. Wirklichkeit nicht zur Voraussetzung, sondern zum Gegenstand der Untersuchung macht, stellt nicht zuletzt einen Versuch dar, sich kritisch gegenüber den Aktionen des ZPS zu positionieren, ohne sich den dichotomen Zuweisungen (und den damit einhergehenden vorschnellen Moralisierungen) unterzuordnen, die von den Aktionen selbst diktiert scheinen und die dazu zwingen, sich entweder auf die Seite der Sympathisant:innen zu schlagen oder in den Empörungschor der Gegner:innen einzustimmen. Die Grundthese lautet, dass nicht im Vorhinein darüber entschieden werden muss, ob es sich bei den Aktionen um Kunst oder Politik handelt, um anschließend ihre Wirkung erklären zu können. Die Frage, was diese als ›politisch‹ etikettierten Ereignisse zu Kunst und was diese Kunst politisch macht, geht den Aktionen nicht voraus. Vielmehr ist diese Unterscheidung selbst Bestandteil ihrer Wirkung.
Um zu verdeutlichen, auf welche Weise im Zuge der Aktionen des ZPS zwischen (bloßer) Kunst und (echter) Politik geschieden und damit über die reale Wirkmacht der Kunst entschieden wird, soll zunächst ein gängiges Argumentationsmuster in Augenschein genommen werden, von dem Gebrauch gemacht wird, um die Aktionen des ZPS als Kunst und den Handlungsspielraum der an ihnen Beteiligten zu definieren. Dieses Muster findet Einsatz in einem Essay der Publizistin Mely Kiyak und soll im folgenden Abschnitt in einer eingehenderen Lektüre herausgearbeitet werden. Anschließend greife ich auf die Theorie Bruno Latours zurück, um eine alternative Herangehensweise an die Aktionen des ZPS vorzuschlagen, die nicht im Vorhinein zu definieren sucht, wo ihre Grenzen verlaufen und wodurch und auf welche Weise sie ihre Wirkung entfalten. Dabei soll den Bildern, die stets Bestandteil der Aktionen sind, besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden, statt sie, wie häufig der Fall, zum Nebenprodukt dieser ereignishaften Aktionskunst zu erklären oder sie als Beweis dafür ins Feld zu führen, dass es sich bei den Aktionen um reine Medienspektakel, um bloßen Schein handle.3 Es geht, mit anderen Worten, darum, die Bilderskepsis zu überwinden, die den Blick auf die Wirkweise dieser Kunst verstellt, die sich die Kraft von Bildern, Symbolen und Ikonen zunutze macht, um einen Angriff auf die Bilder, Symbole und Ikonen politischer Akteur:innen zu vollführen und dadurch nicht nur das Handeln letzterer zu kritisieren, sondern sie in Zugzwang zu versetzen. Mit Latour lassen sich die Aktionen des ZPS als ikonoklastische Akte beschreiben und Ziel dieser Akte ist, wie abschließend am Beispiel der Aktion Erster Europäischer Mauerfall (2014) nachvollzogen werden soll, die nationale Identität Deutschlands. Es ist seine Version einer deutschen Identität, der das ZPS im Rahmen des Ersten Europäischen Mauerfalls mithilfe von 14 weißen Kreuzen Gestalt und Legitimität zu verleihen sucht. Entscheidend für die Wirkung dieser Attacke auf das herrschende nationale Selbstverständnis ist der ontologische Status jener Kreuze, die nicht, wie Kiyak argumentiert, bloß künstlerische Mittel zum Überbringen politischer Botschaften sind, die den eigentlichen Gehalt der Kunst des ZPS darstellen würden, sondern wichtige Mittler, die Verbindungen knüpfen und jener Vorstellung des ZPS von der deutschen Identität die Festigkeit verleihen, die es braucht, um Akteur:innen zum Handeln zu bewegen.
I.Die Macht der Bilder
2014 wurde in Deutschland gefeiert. Anlass bot der 25. Jahrestag der Ereignisse rund um die deutsche Wiedervereinigung. Ein Vierteljahrhundert war es nun her, dass Menschen aus der DDR auf die Straße gegangen waren, um einen fundamentalen Wandel in Gang zu bringen, der zum Sturz der SED-Diktatur führen und als friedliche Revolution in die Geschichtsbücher der fortan geeinten Nation eingehen sollte. Auf dem Höhepunkt der unzähligen Jubiläumsveranstaltungen und Gedenkfeiern zu Ehren der Opfer des Unrechtsregimes brach jedoch eine Welle der Empörung los, ausgelöst von einer Gruppe von Aktionskünstler:innen, die die Legitimität der offiziellen Gedenkpraktiken in Zweifel zogen, mehr noch, ihre Illegitimität öffentlich anprangerten. Beteiligt am Geschehen waren neben den Künstler:innen selbst unter anderen eine Reihe freiwilliger Unterstützer:innen, hochrangige Politiker:innen, diverse Medienvertreter:innen, eine Berliner Theaterinstitution sowie allen voran 14 weiße Holzkreuze. Diese bildeten im wörtlichen Sinne die Gegenstände der Auseinandersetzung, die sich an ihrem Verbleib entzündete.
Am 3. November 2014 nämlich entfernte das ZPS die besagten Kreuze, die Teil der Gedenkstätte »Weiße Kreuze« am Reichstagsufer sind und, angebracht an dem Ort, wo die ehemalige Berliner Mauer verlief, an die Mauertoten erinnern sollen, vom Zaun, an dem sie befestigt waren. Zugleich gab es bekannt, sie an die europäische Außengrenze zu Nordafrika gebracht zu haben, wo »seit dem Fall des Eisernen Vorhangs« bis heute zigtausende Menschen an den »EU-Außenmauern« zu Tode kämen.4 Das Ganze bildete den Auftakt der Aktion Erster Europäischer Mauerfall, die im Rahmen des vom Maxim Gorki Theater veranstalteten Festivals »Voicing Resistance« stattfand. Einige Tage später, am 11. November 2014, sollte sich eine Gruppe von Freiwilligen, die das ZPS rekrutiert hatte, mit Bolzenschneidern und DIY-Anleitungen im Gepäck in Reisebussen an die europäische Außengrenze in Bulgarien aufmachen, um sie zu Fall zu ›zwicken‹.5 Doch bevor sich die vom ZPS sogenannten »friedlichen Revolutionäre«6 auf die Reise begaben, um ihre Mission eines neuerlichen Mauerfalls zu vollstrecken, kursierten bereits Bilder von den vorangereisten Weißen Kreuzen, die an spanischen Grenzzäunen hingen und von Männern mit schwarzer Hautfarbe in die Kamera gehalten wurden, sowie Bilder, die die Abwesenheit der Kreuze in der Gedenkstätte bezeugten, und sorgten für Empörung.
Es entspann sich eine Debatte darum, ob die Künstler:innen in ihrem Bestreben, auf Gewalt gegenüber Geflüchteten an den europäischen Außengrenzen hinzuweisen, zu weit gegangen waren, ob es sich bei der Entwendung der Mauerkreuze noch um Kunst handle oder ob hier nicht vielmehr den Mauertoten und ihren Hinterbliebenen Gewalt angetan werde. Die Kreuze abzuschrauben und nach Nordafrika zu verfrachten, so die Ansicht einiger Kommentator:innen, sei nicht länger Kunst, sondern ein Verbrechen. Geführt wurde diese Auseinandersetzung nicht nur unter den vom Verschwinden der Kreuze unmittelbar Betroffenen, es meldeten sich, da die Angelegenheit schließlich als Kunstaktion deklariert war, auch etliche Kunstkritiker:innen zu Wort und diskutierten in den Feuilletons, ob das Vorgehen des ZPS als unmoralisch zu verurteilen sei. Kurz, es entspann sich das übliche Durcheinander, das die Aktionen der Gruppe gemeinhin begleitet und in dem allerlei heterogene Akteur:innen sich darüber uneinig sind, wie diese Ereignisse nun einzuordnen seien – ein Durcheinander, das Mely Kiyak zufolge keinerlei Berechtigung habe.
In einem Essay, der in der ersten eigenständigen, sich der Dokumentation und Reflexion der Arbeiten des ZPS widmenden Publikation enthalten ist und in dem sie sich unter anderem auch auf das hier diskutierte Beispiel bezieht, legt sie dar, dass das geschilderte Durcheinander auf einem grundsätzlichen Missverständnis beruht. Einem Missverständnis, das die Wirkweise der Kunst und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit und, damit einhergehend, die Haltung betrifft, die die Kunstkritik gegenüber der Kunst einzunehmen habe. Schon in der Überschrift fragt Kiyak: »Warum fällt es der Kunstkritik so schwer, das Zentrum für Politische Schönheit als das zu betrachten, was es ist«, um sogleich die Antwort zu liefern, die da nur lauten könne: »als Kunstwerk«7. Schließlich stünden alle Zeichen unübersehbar auf Theater, angefangen bei der Maske (die Künstler:innen würden in der Öffentlichkeit beispielsweise mit rußverschmierten Gesichtern auftreten), über die Dramaturgie (die Aktionen folgten einem im Voraus vom ZPS bestimmten Ablauf) bis hin zur institutionellen und raum-zeitlichen Rahmung (die Aktionen seien Teil von Theaterspielplänen und es gebe stets einen Moment, an dem sich der Vorhang hebt und das Geschehen seinen Lauf nimmt), kurz: »Wir haben es beim Zentrum für Politische Schönheit […] mit Elementen einer klassischen Inszenierung zu tun. Alles was stattfindet, findet als Aufführung statt.« Und, so Kiyak weiter, »Thema des Stückes ist die Vorführung der Verhältnisse.«8 Dies bleibe aber allzu häufig unerkannt, das Anliegen der Künstler:innen infolgedessen ungehört, und schuld daran seien nicht zuletzt Kunstkritiker:innen. Statt die Aktionen als das auszuweisen und zu behandeln, was sie sind, nämlich Kunstwerke, in denen mit künstlerischen Mitteln auf reale Verhältnisse hingewiesen und auf politische Missstände gedeutet werde, ließen sich die Kolleg:innen zu ahnungslosen Mitspieler:innen der von ihnen zu kritisierenden Kunstaufführungen machen und vom ZPS vorführen.
Als Ursache dafür vermutet Kiyak zunächst einen Mangel an Kompetenz und Expertise seitens der Branche, die häufig nicht einmal Kunstkritiker:innen auf diese künstlerischen Ereignisse ansetze, sondern
oftmals Kommentator/-innen aus der dritten Riege irgendeiner Lokalredaktion. Damit fängt es schon an. Man schickt zu einem Kunsthappening einen Lokalreporter, der normalerweise über Straßenumbenennungen berichtet. Und der Lokalreporter tut das, was er gelernt hat. Er sucht Kronzeugen, Gegenstimmen, er versucht herauszufinden, wo die Story ist.9
Der Lokalreporter zieht also los und interviewt entrüstete Vertreter:innen von Opferverbänden, aufgebrachte Parlamentsabgeordnete und ermittelnde Anwält:innen, die zu den Ereignissen Stellung nehmen, und schreibt ihre Meinung in seinem Bericht nieder, der das allgemeine Entsetzen wiedergibt und seinerseits weitere empörte Reaktionen hervorruft und den Teufelskreis des Entsetzens in Gang hält. Der Bericht des Lokalreporters aber gebe, wie Kiyak argumentiert, nicht den Inhalt der Kunstaktionen wieder, sondern bloß die öffentliche Reaktion auf diese. Er sei, anders ausgedrückt, nur oberflächliches Abbild des Geschehens, vermöge es aber nicht, den Sinn hinter den Handlungen und Äußerungen der darin verstrickten Akteure aufzudecken. Mit den Worten Kiyaks: »Gegenstand der Betrachtung ist am Anfang einer jeden Berichterstattung über die Aktionen des ZPS niemals das Geschehen«10, das ist die Aktion als Theaterstück, in dem etwas mithilfe von Symbolen, Requisiten und Spieler:innen auf- und vorgeführt wird, »sondern die Mittel, mit denen das Geschehen abgebildetwurde«11, das sind die öffentlichen Reaktionen auf die Aktionen, und diese seien Kiyak zufolge Bestandteil der Kunst, die hier eigentlich nüchtern beschrieben und kritisch reflektiert werden soll.
Die Empörung ist Teil des Kunstwerks, das Entsetzen des einfachen Journalisten, dem das Genre ›Politische Aktionskunst‹ skandalös erscheint, weil zu seiner Normalität gehört, dass er jeden Morgen aufschreibt, was er im Fernsehen sah, ist im Kunstwerk bereits einkalkuliert. Dieser Furor, die Schnappatmung gewordene Herummeinerei in Form von überhitzten Überschriften und Nichtexpertise ist genreimmanent. Denn politische Kunst ohne Rezeption, ohne das Zusammenspiel zwischen Staatsanwaltschaften, Parlament und Lokalredaktion, zwischen Öffentlichkeit und Künstler wäre ja bloß Malerei oder irgendwas anderes, aber eben nicht politische Aktionskunst.12
Vom ZPS dazu provoziert, agieren die genannten Akteur:innen ganz im Sinne der Künstler:innen, denen der allgemeine Aufruhr um die Kunstaktion als Nachweis dafür dient, dass sich die moralische Entrüstung an ein paar Kreuzen in einem Theaterstück entzündet, während ein ähnlicher Effekt angesichts massenhaften Sterbens geflüchteter Menschen ausbleibt. Politik, Behörden und Medien würden so zu Marionetten in jenem Stück, dessen Thema die Vorführung der Verhältnisse ist, und der Bericht des Lokalreporters zur Figurenrede. Unwissentlich lasse er sich instrumentalisieren und werde zum Teil des Kunstwerks, anstelle sich diesem gegenüber zu positionieren; er nimmt die Rolle an, die ihm vom ZPS zugedacht ist, und führt sich so auf, wie es die Regisseure vorgesehen haben. Aufgrund seiner unfreiwilligen Involviertheit ist er unfähig dazu, eine äußere Beobachterposition einzunehmen und seinen eigenen Standpunkt inmitten des Schauspiels zu erkennen. Damit aber verkenne der Lokalreporter (wie auch zahlreiche Kolleg:innen aus dem eigentlich zuständigen Ressort, wie Kiyak später ausführt) die elementarsten Wirkgesetze politischer Aktionskunst und versage als Kunstkritiker.
Das Versagen der Kunstkritik beruht somit aber weniger auf einer handwerklichen Inkompetenz, sondern reicht tiefer. Denn das Missverständnis, dem der Lokalreporter erliegt, betrifft nicht einzig die Funktionsweise politischer Aktionskunst, sondern das Wesen künstlerischen Handelns überhaupt. Der von ihm begangene Fehler besteht darin, dass er den Taten und Äußerungen der in die Aktionen verstrickten Akteur:innen mit demselben naiven Glauben begegnet wie den Fernsehbildern und sie behandelt, als seien sie getreue Repräsentationen der Wirklichkeit. Dabei verkennt er, dass jene Taten und Äußerungen, die, wie Kiyak argumentiert, Bestandteil der Kunstaktion sind, lediglich auf eine der Kunst äußere (soziale, politische) Wirklichkeit verweisen. Künstlerisches Handeln ist, so ließe sich das Argument paraphrasieren, symbolisches Handeln und als solches niemals identisch mit der Wirklichkeit, die es zur Anschauung bringt. Deshalb ist die ästhetische Dimension dieses Handelns, die Art und Weise, wie Mittel – und das schließt den Bericht des Lokalreporters ebenso ein wie die Rußschlieren in den Gesichtern der ZPS-Mitglieder oder die abmontierten Kreuze – von den Künstler:innen eingesetzt werden, um eine bestimmte Wirklichkeit aufzuzeigen, sekundär. Sie ist nicht der eigentliche Gehalt der politischen Aktionskunst, die, wie einleitend erwähnt, niemals vorgebe, etwas anderes als Kunst zu sein. Um zum eigentlichen Gehalt der gesellschaftskritischen politischen Aktionskunst des ZPS vorzudringen, muss man sich darauf konzentrieren, was sie mit diesen Mitteln aussagt. Dort, wo dies nicht der Fall ist, laufe etwas schief. So auch dann, wenn
sich eigentlich jeglicher Groll und jegliche Klage nie gegen das richtet, worauf das ZPS aufmerksam machen will, sondern immer gegen das Künstlerkollektiv. Dabei ist die am häufigsten formulierte Kritik eine, die sich gegen die Mittel richtet. Mittel sind, wie der Name schon sagt, Brücken zur Sichtbarmachung von Unrecht. Und überall da, wo in einem künstlerischen Projekt Mittel verwendet werden, um Botschaften zu transportieren, ist es erschreckend wie sehr der Diskurs im Rezensieren der Mittel steckenbleibt. Man richtet das Augenmerk nicht auf die Gesetzeslage, die ja immer Grundlage der politischen Kunst der Berliner Künstler/-innen ist, sondern gegen ihre Ästhetik.13
Die Aufgabe der Kunstkritik sei es Kiyak zufolge aber, »die Merkmale politischer Kunst zu dechiffrieren«14, um ihre Bedeutung aufzudecken und die sozio-politische Wirklichkeit zu beschreiben, auf die das Kunstwerk verweist. Voraussetzung hierfür ist die Fähigkeit, zwischen bloßen Mitteln zum Transportieren von Botschaften und ihrem eigentlichen Gehalt, der dahinter stehenden Wirklichkeit, unterscheiden, zwischen Kunst und Wirklichkeit trennen zu können. Etwas, das einzig von einem Standpunkt außerhalb der Aktionen möglich ist, weshalb es zu den größten Fehlleistungen des Kritiker:innen-Standes gehört, wenn sich dessen Vertreter:innen als nicht dazu in der Lage erweisen, einen solchen Standpunkt zu beziehen. So wie im Fall des Lokalreporters, der dem Irrglauben verfällt, die Aktionen seien nicht Kunst, sondern Wirklichkeit. »Das Seltsame ist,« stellt Kiyak verständnislos fest, »dass die Mittel nicht als Inszenierung begriffen werden, sondern als etwas, dass [sic!] ›in echt etwas meint.‹«15 In der Folge bleibe unerkannt, dass »[d]as ZPS […] nicht Unrecht [schafft], sondern […] auf Unrecht [zeigt].«16 Weshalb es schließlich »als Überbringer der Nachricht als pietätlos«17 gelte und nicht die von ihm bekundeten menschenunwürdigen Zustände an den europäischen Außengrenzen. »Wenn schon das Theater nicht mehr als Theater, also als Ort einer Inszenierung, das Verhältnisse abbildet und nicht herausbildet – was ja ein bedeutender Unterschied ist –, wahrgenommen wird,« so Kiyaks vernichtendes Fazit, »dann sieht es für den Aufklärungsstandort Deutschland echt düster aus.«18
Um das von ihr aufgedeckte Missverständnis aus der Welt zu schaffen und der aufklärerischen Pflicht nachzukommen, schließt Kiyak ihren Essay mit einer Geste der Entzauberung und stellt den Glauben an die Echtheit der Mittel nochmals nachdrücklich als Irrglauben dar.
Zum Abschluss noch ein Detail am Rande: Bei den Kreuzen, die an die Außengrenzen Europas gebracht wurden, handelte es sich um Replika [sic!], die in den Werkstätten des Gorki Theaters in Berlin hergestellt wurden. […] Na klar, will man rufen, was sonst!? …19
Dass sich über ein paar zusammengenagelte, weiß lackierte Bretter eine derart heftige gesellschaftliche Auseinandersetzung entfachen konnte, wie es im Nachgang des Auftakts zum Ersten Europäischen Mauerfall der Fall war, scheint in den Augen der Publizistin angesichts der offensichtlichen Künstlichkeit der Kreuze im Grunde nur des Spotts würdig und zeuge von einer Öffentlichkeit, die dem Kunstbegriff des ZPS ganz offensichtlich nicht gewachsen sei.20 Und doch folgt sogleich eine kuriose Wendung, die angesichts der vorausgehenden harschen Kritik beinahe wie eine Kehrtwende anmutet.
… Aber – und das ist die gute Nachricht, bei alledem – sollte noch irgendwer behaupten, das Theater sei tot und hätte keine Wirkung, so kann man an dieser Stelle sagen: schlagt die Zeitungen auf, und lest selbst: das Theater, das das ZPS veranstaltet, ist vital.21
Ein Gutes hat das Ganze also doch: Der hartnäckige Irrglaube ihrer Kolleg:innen bezeugt die Wirkkraft des Theaters, mehr noch, seine Vitalität.
An dieser Stelle zeichnet sich das Muster, das Mely Kiyaks paradoxer Argumentation zugrunde liegt, am deutlichsten ab. Diese basiert auf einer Trennung zwischen bloßen Mitteln (den Kreuzen) einerseits und eigentlichem Gehalt (dem Unrecht) andererseits. In einem ersten Schritt wird das Geschehen als Inszenierung entlarvt, um den naiven Glauben des Lokalreporters an die Echtheit der Mittel als solchen zu denunzieren, nur um dann im zweiten Schritt auf diesen Glauben und die Produktivkraft der ästhetischen Mittel zu verweisen, um die lebendige, reale Wirkung des Theaters zu behaupten. Aufgrund der absoluten Trennung zwischen Wirklichkeit und Fiktion, zwischen Politik und Kunst, kann Kiyak die Profanität der Kreuze, ihre Gemachtheit offenbaren, ohne die Wirksamkeit der Kunst oder den Wahrheitsgehalt ihrer Botschaft zu beeinträchtigen, da die Abbildungen zu zerstören der Sache selbst nichts anhaben kann. Sie kann darauf bestehen, dass alles Kunst, also nicht ›echt‹ ist, ohne die Wirksamkeit dieser Kunst preiszugeben.
II.»Der Trick, den Trick aufzudecken«
Im Gegensatz zum Lokalreporter, der sich vom ZPS in die Irre führen lässt und nicht in der Lage ist, zwischen Kunst und Wirklichkeit zu unterscheiden, kann Kiyak die Aktionen von einem äußeren Standpunkt aus betrachten, da sie die ästhetischen Mittel als Abbildungen der Wirklichkeit und die hinter ihnen liegende Botschaft zu erkennen vermag. Die Unterscheidung ist die Voraussetzung ihres kritischen Blicks und befähigt sie dazu, die Dinge so zu sehen, wie sie ›wirklich sind‹. Gleichzeitig aber beruft sie sich auf die Abbildungen, um einen Bezug zwischen Kunst und Wirklichkeit herzustellen, die sie zuvor strikt voneinander getrennt hat. Das wiederum ermöglicht es ihr, die reale Wirkkraft dieser Kunst und die Objektivität ihres eigenen kritischen Urteils zu untermauern.
Mit Bruno Latour lässt sich Mely Kiyaks kritische Intervention in den Mediendiskurs als ikonoklastische Geste begreifen. In seinem einleitenden Essay zum Katalog zur Ausstellung »Iconoclash – Beyond the Image Wars in Science, Religion and Art«22 beschreibt Latour ein Dilemma, in dem sich die Menschheit seit alttestamentlichen Zeiten befinde und das die Fähigkeit von Bildern betrifft, Macht auf die Betrachtenden auszuüben und teils heftige Leidenschaften hervorzurufen, die sich nicht selten in Form hasserfüllter ikonoklastischer Akte entladen würden.
[W]ir forschen nach dem Ursprung einer absoluten – nicht relativen – Unterscheidung zwischen Wahrheit und Falschheit, zwischen einer reinen Welt, vollständig entleert von künstlichen, von Menschenhand geschaffenen Vermittlungen, und einer widerlichen Welt voller unreiner, künstlicher, doch faszinierender Mittler von Menschenhand. ›Könnten wir doch nur‹, sagen manche, ›ohne jegliches Bild auskommen. Um wieviel reiner, besser, schneller erhielten wir dann Zugang zu Gott, Natur, Wahrheit und Wissenschaft.‹ Worauf andere Stimmen (manchmal auch dieselben) antworten: ›Leider (oder zum Glück) können wir nicht ohne Bilder auskommen, nicht ohne Vermittlungen, Mittler in jeglicher Form und Gestalt, denn nur so gewinnen wir Zugang zu Gott, Natur, Wahrheit und Wissenschaft.‹23
Wahre Erkenntnis werde an Unmittelbarkeit und die Abwesenheit von menschlichem Hinzutun geknüpft. Damit gerate jegliche Art von Bildern, womit »jede Einschreibung, Abbildung, jedes Zeichen, Kunstwerk« gemeint sei, »das als Vermittlung dient, um Zugang zu etwas anderem zu gewinnen«24, unter Verdacht, falsch, manipulativ, etc. zu sein, da sie den Zugang zur Wahrheit verstellten. Aus diesem Grund werde die Zerstörung der von Menschenhand geschaffenen Mittler zum Grundstein einer jeden Kritik, die auf die Enthüllung der dahinterliegenden Wahrheit aus ist; zum »letzte[n] Prüfstein […], um die Gültigkeit des eigenen Glaubens, der eigenen Wissenschaft, des eigenen kritischen Scharfsinns, der eignen künstlerischen Kreativität zu beweisen«.25
Auch Kiyaks Überlegungen basieren letztlich auf solch einer Unterscheidung und einem ikonoklastischen Misstrauen gegen die Macht der Bilder. Sie richtet sich gegen den als naiv denunzierten Glauben an die Wirklichkeit der ästhetischen Mittel, die den Zugang zum objektiven Gehalt der Kunst verstellen, zu dem, was sie die »Botschaft« der politischen Aktionskunst nennt. Dabei gilt ihre Kritik nicht den Bildern selbst; ihre Polemik richtet sich gegen diejenigen, die an die Wirklichkeit jener Bilder glauben. Es gilt, die Kreuze als leere Zeichen zu entlarven, um den Gegner:innen dieser politischen Aktionskunst den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Kreuze, die das ZPS an Europas Außengrenzen gebracht hat, seien nur ein paar weiße Bretter, die nichts mit den Mauertoten zu tun hätten. Und diejenigen, die sich über die Demontage der Weißen Kreuze und die vom ZPS lancierten Bilder empörten als seien die Toten selbst exhumiert und nach Spanien verschleppt worden, seien auf einen einfachen Theatertrick hereingefallen. Deshalb ist das Echtheitskriterium, das in der Debatte rund um die in den Aktionen des ZPS eingesetzten ›Requisiten‹ immer wieder eine zentrale Rolle spielt, ausschlaggebend, steht hier doch nicht nur der Zeichencharakter dieser Requisiten infrage, sondern vielmehr ihr ontologischer Status.
Nicht nur für Kiyaks Argumentation ist es relevant, dass die Kreuze nicht ›echt‹, sondern im Auftrag der Künstler:innen von Handwerkern des Gorki Theaters fabriziert worden sind. Jedoch nicht, weil dies ihren Beitrag zur Wirksamkeit dieser Kunst oder deren Wahrheitsgehalt schmälern würde – dass sie wirkt, zeigt ja der Glaube des Lokalreporters –, sondern weil der Verweis auf ihre Gemachtheit zugleich dazu dient, jedes kritische Urteil, das sich auf sie beruft, als bloßen Glauben zu brandmarken und für nichtig zu erklären. »Dem Bild die Hand hinzuzufügen«, so Latour, »ist […] gleichbedeutend damit, die Bilder zu verderben, zu kritisieren.«26
Je mehr demonstriert werden kann, dass Menschen am Bild gearbeitet haben, desto schwächer sein Wahrheitsanspruch. […] Der Trick, den Trick aufzudecken, besteht immer darin, den ordinären Ursprung des Werks aufzuzeigen, den hinter den Kulissen auf frischer Tat ertappten Manipulator, Heuchler, Betrüger.27
Nur, dass es sich im vorliegenden Fall um Künstler:innen handelt, die für alle Augen sichtbar ihrer Arbeit nachgehen und Bilder produzieren, was diejenigen, die diesen Bildern ihren moralischen Eifer entgegenbringen, in umso schlechterem Lichte dastehen lässt, begeben sie sich doch sozusagen sehenden Auges auf den Holzweg. An dieser Stelle lässt sich also festhalten: Es sind Bilder, die ins Feld geführt werden, um einen Standpunkt zu delegitimieren, und umgekehrt wird durch Berufung auf Bilder der eigenen Position Legitimität verliehen.
Entgegen dieser Auffassung von Kritik betont Latour jedoch, dass Bilder gerade nicht den Blick auf eine objektive Wirklichkeit verstellten. Sie seien auch kein neutrales Zwischenglied, das zwischen einer wahren Welt (der Politik) und einer fiktiven (Kunstwelt) hin und her zu wechseln erlaubte. Vielmehr seien sie von Menschenhand geschaffene Mittler, die Wirklichkeiten zum Sein verhelfen.28 Und auch Kiyak beruft sich letztlich auf ihre Produktivkraft, die dem politischen Theater des ZPS Vitalität verleiht, sodass es mehr sei als »bloß Malerei oder irgendwas«, deren toten Bildern es ihrer Auffassung nach offenbar an lebendigem Bezug zur Wirklichkeit mangelt.
Die kategoriale Trennung von Kunst und Wirklichkeit unterstellt einerseits also, dass die Mittler der Kunst eben nur Mittel, also nichts weiter als Zeichen seien, und gesteht ihnen andererseits die Macht zu, allerlei Akteure zu mobilisieren und zum Handeln zu bewegen. Statt dieser widersprüchlichen Argumentationsweise und der ihr zugrunde gelegten Unterscheidung a priori treu zu bleiben, ließe sich mit Latour alternativ danach fragen, wie die Macht dieser Mittler zustande kommt und wie der Glaube an sie beschaffen ist. Das hieße, keine Bildkritik zu betreiben, sondern »die Verehrung des Bilderstroms selbst« zu befragen und zu beurteilen.29 In dieser Herangehensweise will ich mich im letzten Abschnitt versuchen und anhand der Aktion Erster Europäischer Mauerfall exemplarisch den Weg der Weißen Kreuze nachverfolgen. Dabei wird deutlich, dass sie in der Tat als »Brücken zur Sichtbarmachung von Unrecht«30 fungieren, jedoch nicht in der vorhersagbaren Form, die die Vorstellung von ästhetischen Mitteln als transparenten Medien, die eindeutig definierte Botschaften und Intentionen transportieren, nahelegt. Als Mittler stellen sie konkrete Verbindungen zwischen heterogenen Elementen her, transformieren dabei mitunter die Bedeutungen, die sie übermitteln sollen, und spielen auf diese Weise einen aktiven Part in einem Geschehen, dessen Wirklichkeit nun näher betrachtet werden soll.
III.Vom falschen Glauben ans Richtige
Zum Aktionsauftakt des Ersten Europäischen Mauerfalls am 3. November 2014 veröffentlichte das ZPS auf seiner Website einen Ankündigungstext. Darin heißt es:
Die Installation ›Weiße Kreuze‹ ergriff vor den Gedenkfeiern zum 25. Jahrestag des Mauerfalls kollektiv die Flucht aus dem Regierungsviertel in Berlin. Die Mauertoten flüchteten in einem Akt der Solidarität zu ihren Brüdern und Schwestern über die Außengrenzen der Europäischen Union, genauer: zu den zukünftigen Mauertoten.31
Die Gedenkkreuze flüchteten vor dem Oktoberfestgedenken zu Menschen, deren Leben durch die EU-Außenmauern akut bedroht ist und erweiterten dadurch das selbstbezogene deutsche Gedenken um einen entscheidenden Gedanken: die Gegenwart.32
Es fällt auf, dass die Künstler:innen selbst nicht als Akteur:innen auftreten. In Aktion treten hier stattdessen die Weißen Kreuze. Die ›Magie‹, durch die sie gewissermaßen animiert werden, findet im zweiten Satz statt, in dem die Weißen Kreuze scheinbar selbstverständlich durch die Mauertoten ersetzt werden. Dabei handelt es sich um mehr als eine rhetorische Volte. Hinter diesem beiläufig erfolgenden Kunstgriff verbirgt sich eine lange Repräsentationskette, die sich nachzuverfolgen lohnt.
Ansatzpunkt der Kritik des ZPS ist die Funktion der Kreuze im staatlichen Gedenkakt. Darin fungieren sie als Denk- und Mahnmal, das der Vergegenwärtigung eines Abwesenden und Vergangenen dient: der Mauertoten und, damit einhergehend, der deutsch-deutschen Trennung. Diese präsenzerzeugende Funktion sei ihnen abhandengekommen. Wie das Zentrum nicht ohne Häme betont, sei ihr Verschwinden zunächst gar unbemerkt geblieben; wie sollten sie dann noch die Kraft besitzen, Abwesendes im kollektiven Bewusstsein zu erhalten? Ohne lebendigen Bezug zur Vergangenheit aber handle es sich um leere Zeichen, die auf nichts anderes verweisen als auf sich selbst. So sei auch das »selbstbezogene deutsche Gedenken«, wie dessen pejorative Bezeichnung als »Oktoberfestgedenken« suggeriert, zur allenfalls folkloristischen Veranstaltung verkommen, der jeglicher Bezug zum lebendigen Brauchtum abgehe. Kurz, der ikonoklastische Angriff des ZPS richtet sich gegen die Ikonen des staatlichen Gedenkakts und entlarvt dieses identitäts- und gemeinschaftsstiftende politische Ereignis als sinnentleerte Täuschung.
Entscheidend ist, dass die Kritik gemäß dem oben beschriebenen Muster auch im Falle des ZPS bei näherem Hinsehen nicht den Ikonen selbst gilt. Die Notwendigkeit der Bilder wird nicht in Frage gestellt, vielmehr ist es die Art und Weise ihrer Verwendung bzw. Verehrung, die zum Gegenstand der Auseinandersetzung um die legitime Form der Glaubensausübung wird. Es wird nicht etwa das öffentliche Gedenken in Frage gestellt, sondern die erstarrte Gedenkpraxis kritisiert. Mit Latour gesprochen haben wir es hier mit einem Typus von Bilderstürmern zu tun, für den die wahre Form der Bildverehrung darin bestehe, »sich von einem zum anderen Bild zu bewegen«, und dessen kritische Angriffe daher jenen gelten, die »bei der faszinierten Betrachtung eines isolierten, eingefrorenen Bildes stehenbleiben.«33
Und so macht sich das ZPS daran, die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart neu zu beleben. Es kurbelt den Bilderstrom an, indem es die Kreuze entführt und auf diese Weise buchstäblich Bewegung in die Sache bringt. Wie genau dies vonstatten geht, lässt sich beispielsweise anhand des folgenden Bildes nachvollziehen, das auf der Aktionswebsite zu finden ist. (Vgl. Abb. 1)
Darauf zu sehen ist eines der Weißen Kreuze, genauer eines der Replikate, das an der NATO-Drahtanlage in Melilla, einer spanischen Exklave an der Grenze zu Marokko, oder, wie das ZPS es ausdrückt, am »Todesstreifen von Melilla«34 prangt. Wie nun kommt die hier geknüpfte Verbindung zwischen dem deutschen Gedenkritual und der gegenwärtigen Situation an der europäischen Außengrenze zustande? Auf welche Weise wird (räumliche, historische, affektive) Distanz überbrückt?
Ausschlaggebend ist zunächst die Dinglichkeit des Kreuzes, die Tatsache, dass dieser konkrete Gegenstand die Entfernung zwischen der Gedenkstätte im Regierungsviertel, wo einst die Berliner Mauer verlief, nach Melilla, wo laut ZPS eine neue Mauer errichtet wurde, zurückgelegt hat. Hier wird territoriale Distanz nicht nur symbolisch, sondern auch logistisch überbrückt, um die europäische ›Abschottungspolitik‹ zu einer dezidiert deutschen Angelegenheit zu machen.
Darüber hinaus ist der Reliquien-Charakter der Weißen Kreuze entscheidend. Dieser tritt beispielsweise zutage, wenn der damalige Innensenator Frank Henkel (CDU) in einer öffentlichen Stellungnahme zur Entwendung der 14 Mauerkreuze von einer »Entehrung der Mauertoten« spricht und urteilt, das ZPS habe sich »am Opfergedenken versündigt«.35 Henkels Wortwahl impliziert, dass es sich um eine Art Grabschändung gehandelt habe, die sich nicht nur am Opfergedenken, sondern an den Opfern selbst vergriffen habe. Die Kreuze fungieren also nicht nur als Stellvertreter für Abwesendes und damit als Denk-, sondern werden in ihrer Funktion als Grabmal aufgerufen, als etwas, das substantielle Präsenz (der physischen Überreste der Toten) sozusagen leibhaftig bezeugt, weil es eine gemeinsame Verbindung aufrechterhält und eben nicht bloß für etwas einsteht, das sich dem unmittelbaren Zugriff entzieht. Hier werden geradezu die heilbringenden Kräfte von Märtyrern heraufbeschworen, von Menschen, die aufgrund ihres Strebens nach Freiheit und Demokratie ihr Leben gelassen haben. Dabei hat die Szenerie etwas Epiphaniehaftes. Das lichtdurchflutete Gebiet erscheint erfüllt von der Präsenz des Weißen Kreuzes, in dem sich der Geist der Mauertoten manifestiert. Und ihr Erscheinen bringt die Hoffnung auf Erlösung: Diese liegt in der Überwindung der in der Mauer materialisierten Trennung und der Wiederherstellung einer rechtmäßigen Einheit, wobei hier in einem geographisch neuen Kontext einem historischen Ereignis eine neue Bedeutung zugewiesen wird.
Es wird eine Überblendung von deutscher Einheit und Einheit aller Menschen vollzogen, wenn von »Brüdern und Schwestern« die Rede ist, zu denen die Mauertoten »in einem Akt der Solidarität« flüchteten. Das folgende Bild zeigt einen dieser vom ZPS sogenannten »zukünftigen Mauertoten«.36 (Vgl. Abb. 2) Während die Mauertoten vermittels der zuvor beschriebenen Referenzkette sozusagen reanimiert werden, wird der abgebildete junge Mann durch Gleichsetzung mit den Mauertoten in umgekehrter Weise für schon tot erklärt. Auf das Merkmal seiner Hautfarbe reduziert, das als vermeintliches Authentizitätszeugnis dient und auf seinen Geflüchtetenstatus verweist, verschwindet er hinter dem Stereotyp des hilfebedürftigen Schwarzafrikaners – dass er in Deutschland geboren und Besitzer der deutschen Staatsbürgerschaft sein könnte, scheint hier keine Option zu sein: Der lebendige Mensch wird zum Zeichen. Dieses Bild ist Anklage und Handlungsaufforderung zugleich: »Durch unser Verschulden ist dieser Mensch in Not geraten«, kündet es, »und es Bedarf unserer Hilfe zu seiner Errettung.« Während das Kreuz, das strahlend weiß ins Zentrum des Bildes retuschiert ist und wie ein gewaltsamer Einschnitt wirkt, den Namenszug eines ›Märtyrers‹ trägt, bleibt derjenige, der es in Händen hält, namenlos. Auf diese Weise werden zweierlei Arten von Opfern konstituiert: einerseits diejenigen aus den Reihen des Kollektivs, dessen Identität hier zur Disposition steht und bei dem es sich keineswegs um ›die Menschheit‹, sondern vielmehr um ›die Deutschen‹ handelt. Diese Opfer sind der Garant für das gemeinschaftsstiftende Band, das das Leiden an den EU-Außengrenzen zum gemeinsamen Leiden werden lässt, und die Basis für die Wirksamkeit des Handlungsappells, geht es doch allem voran auch um das eigene Schicksal. Sie stehen für den aktiven Part, für die Fähigkeit, aus eigener Kraft zur Erlösung zu gelangen. Hingegen ist die Funktion, die das ZPS dem abgebildeten jungen Mann zuweist, die des passiven Opfers, das schweigend sein Leid erduldet und der aktiven Zuwendung bedarf, um seinem zwingenden Schicksal zu entkommen; dem Tod. Immer wieder muss es geopfert werden, um das Phantasma der Erlösung aufrechtzuerhalten, denn es bedarf dazu nicht nur seiner Errettung, sondern zuallererst der begangenen Schuld. Wollte man es ähnlich zuspitzen, wie es die rhetorische Strategie des ZPS meist vorsieht, ließe sich zynisch behaupten, dass der junge Mann dem ZPS und seiner Version von der deutschen Identität nur solange nützt, wie sein Leben durch das Handeln der Bundesregierung bedroht ist. Wie die Mauertoten nur als Tote ihre gemeinschaftsstiftende Wirkung entfalten und überlebende ehemalige DDR- und BRD-Bürger:innen in einem Akt der gemeinsamen Trauer um die Opfer eines Unrechtsregimes vereinen können, dessen Untergang im selben Akt als kollektive Leistung gefeiert und zum Gründungsmoment einer gemeinsamen Geschichte wird, so kann dieses Deutschland seinen aktiven Part bei der Bekämpfung von Unrecht nur an- und einnehmen, wenn es dieses Unrecht zuallererst begangen hat, während der abgebildete junge Mann dabei nur als (baldiger) Toter einen Platz in dem sich solchermaßen konstituierenden Kollektiv hat. Und so wird er zur Projektionsfläche für die Erlösungsphantasien eines ›deutschen Volkes‹, das an seine in der historischen Schuld gründende Mission erinnert werden soll. Oder wie es in der Selbstbeschreibung des ZPS heißt:
Grundüberzeugung ist, dass die Lehren des Holocaust durch die Wiederholung politischer Teilnahmslosigkeit, Flüchtlingsabwehr und Feigheit annulliert werden und dass Deutschland aus der Geschichte nicht nur lernen, sondern auch handeln muss.37
Um Deutschland zum Handeln zu bewegen, mobilisiert das ZPS Objekte und Vorstellungen und schafft Bilder. Diese verleihen seiner Version von einer deutschen Identität Konsistenz, indem sie an Bestehendes anknüpfen und Altes neu arrangieren.
Im Fall des Ersten Europäischen Mauerfalls sind die Weißen Kreuze wichtige Mittler im Dienste eines zeitgemäß interpretierten ›Gedächtnistheaters‹. Wie der Soziologe Y. Michal Bodemann in seiner Analyse der deutschen Erinnerungskultur nach dem Holocaust anhand von Fallstudien aufgezeigt hat, basiert diese auf der Identifikation mit den Opfern und setzt stark auf die Sühne vermittels öffentlich aufgeführtem Schuldbekenntnis.38 Angesichts der in den letzten Jahren aus dem rechts-populistischen und -extremen politischen Lager aufkommenden Diffamierung der in Deutschland nach 1945 entstandenen Erinnerungskultur als »Schuldkult«, muss an dieser Stelle ausdrücklich betont werden, dass Bodemanns kulturgeschichtliche Auseinandersetzung mit der Rolle jüdischer Menschen im deutschen Gedenken nach dem Zweiten Weltkrieg in striktem Gegensatz zu derlei geschichtsrevisionistischen und schlicht holocaustleugnenden Positionen steht.
Ein wesentliches Charakteristikum des Gedächtnistheaters nach Bodemann ist seine Teleologie: Häufig werde ein religiöses Vokabular verwendet, um Erlösung durch Versöhnung und Wiedervereinigung einer gewaltsam getrennten Einheit heraufzubeschwören. Als Beispiel dafür zitiert Bodemann Richard Weizsäckers Rede anlässlich der Gedenkveranstaltung zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges: »Die Erinnerung«, ließ der damalige Bundespräsident in der historisch gewordenen Ansprache verlautbaren,
ist die Erfahrung vom Wirken Gottes in der Geschichte. Sie ist die Quelle des Glaubens an die Erlösung. Diese Erfahrung schafft Hoffnung, sie schafft Glauben an Erlösung, an Wiedervereinigung des Getrennten, an Versöhnung. Wer sie vergißt, verliert den Glauben.39
In Anbetracht dessen reiht sich Frank Henkel in eine bewährte Tradition ein, wenn er in seiner Stellungnahme einen pastoralen Tonfall anschlägt und die Entwendung der Weißen Kreuze durch das ZPS als Sakrileg verdammt. Auf den ersten Blick erscheint dies wie eine Strategie seitens der Politik, den Angriff des ZPS abzuwehren und die unliebsam gewordene Künstler:innengruppe in ihre Schranken zu weisen, indem man ihr den Kunststatus abspricht, um die Aktion als Straftat ahnden zu können.40 Bei näherer Betrachtung aber erweist sich die Aktion des ZPS wie auch Henkels Reaktion als ein und derselben Logik zugehörig. Das moralisierende Vokabular ist dabei ein Indiz dafür, dass der Streitgegenstand – die deutsche Identität – keine juristische bzw. politische Angelegenheit im rein administrativen Sinne darstellt, bei deren Aushandlung sich auf ein vorhandenes normatives Regelwerk berufen werden könnte. Skandalös ist die vom ZPS begangene Tat eher in einem etymologisch ursprünglicheren Sinne: als Verstoß gegen das göttliche Gesetz, als dessen irdischer Fürsprecher der CDU-Politiker hier auftritt, um seinem Standpunkt die nötige Autorität zu verleihen.
Gerade weil das ZPS öffentlich und mit künstlerischen Mitteln gegen die Bilder und Symbole des staatlichen Gedenkkults vorgeht, statt beispielsweise in einer Stellungnahme die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung zu kritisieren, wird es zur Gefahr. Denn es rührt mit seiner Aktion nicht nur an ein nationales Selbstverständnis, eine abstrakte Idee, sondern an eine damit einhergehende konkrete Herrschaftspraxis, die unter anderem durch Monumente wie die Weißen Kreuze aufrechterhalten wird. Bodemann zufolge dient die öffentliche (staatliche) Inszenierung einer vermeintlich gemeinsam erlittenen Bluttat und die Identifikation mit den Opfern dazu, die eigene Vormachtstellung zu erhalten. Voraussetzung und Folge davon ist, dass Jüdinnen und Juden auf den Opferstatus festgeschrieben werden.41 Im neu interpretierten Gedächtnistheater des ZPS scheint es, als widerfahre Ähnliches nun Geflüchteten. Diese werden als Opfer in den identitätsstiftenden Gedenkkult integriert und von diesem absorbiert.
Liegt der Fokus im Falle des Holocaust-Gedenkens darauf, die Täterrolle in eine ferne Vergangenheit zu entrücken und einer entpersonalisierten, monströsen Macht zuzuschreiben, geht es bei den Bildern des ZPS vor allem darum, das Leiden spürbar und auf die Präsenz der Täter in den eigenen Reihen aufmerksam zu machen, um dessen heroische Überwindung zu glorifizieren. Die Anerkennung der Täterrolle bedeutet nicht die Aufgabe der Opferidentifikation. Das ZPS rüttelt nicht an der Auffassung, dass Deutschland in Sünde geraten sei; es ergänzt das Skript des Gedächtnistheaters um eine aktive Täterrolle, um mit der Selbstbeschuldigung den Sühneeffekt zu verstärken und, wichtiger noch, nicht passiv der Erlösung zu harren, sondern aktiv als Retter seiner selbst und der in Not geratenen Menschheit aufzutreten. Darin liegt die Bedeutung des Vorgangs, das »selbstbezogene deutsche Gedenken um einen entscheidenden Gedanken: die Gegenwart« zu erweitern.
Mehr als um den Aufruf zur aktiven Verhinderung jenes Leidens, scheint es in dieser Aktion, die sich, wie ich nochmals betonen möchte, nicht gegen eine politische Agenda, sondern gegen eine Praxis, ein Ritual und dessen Symbole richtet, insgesamt darum zu gehen, einem durch falsche Gedenkpraxis verminderten Läuterungseffekt neue Kraft zu verleihen. Die Bilder, die dazu ins Feld geführt werden, als bloße Mittel zur Überbringung von politischen Botschaften zu betrachten, trägt dazu bei, ihre Tragweite zu unterschätzen und die herausgearbeitete Komplizenschaft zu übersehen. Das ZPS ist mehr als »Überbringer der Nachricht«42 vom Unrecht, das Geflüchtete an den Außengrenzen Europas erleiden. Mit seiner bildmächtigen Neuinszenierung des Gedächtnistheaters trägt es aktiv einen Teil zu diesem Unrecht bei. Die Wirkmacht der Bilder anzuerkennen bedeutet, die Verantwortung für sie zu übernehmen, statt sich mit Verweis auf ihre ›Unechtheit‹ aus der Affäre zu ziehen.
Den Bildern dieser sogenannten politischen Aktionskunst eine Macht und Wirklichkeit zuzugestehen, ist nicht gleichbedeutend damit, ihren Kunstcharakter oder ihre politische Botschaft zu verkennen. Beides ist hier nicht unabhängig voneinander zu haben. Deshalb ist es meiner Ansicht nach produktiver und auch interessanter, die Bilder zu befragen, die das ZPS schafft, als mit ikonoklastischem Eifer zu versuchen, es ungefügig zu machen, indem man es als bloße Kunst denunziert, oder umgekehrt, seine Gegner ungefügig zu machen, indem man es als bloße Kunst denunziert.
1Zentrum für Politische Schönheit: »Cesy Leonhard«, auf: https://politicalbeauty.de/Cesy_Leonard.html (Zugriff am 8. April 2020).
2Ebd.
3So äußerten bspw. die Teilnehmer:innen der Aktion Erster Europäischer Mauerfall, die vom ZPS an die europäische Außengrenze gebracht wurden, um diese kurzerhand einzureißen, in einem schriftlichen Statement ihre Enttäuschung darüber, als »Statist*innen in einem Kunstprojekt« agiert zu haben, »das sich vornehmlich als Medienspiel an eine deutsche Öffentlichkeit richtete.« (Vgl. Diesselhorst, Sophie et al.: »An die Grenzen Europas«, auf: https://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=10194:2014-11-07-13-38-48&catid=315:blog-k2&Itemid=100078 (Zugriff am 8. April 2020). Matthias Warstat spricht in diesem Zusammenhang von einer »Ästhetik der leeren Ankündigung« und weist auf die Enttäuschung hin, die sich in dem Moment einstellen kann, da unausweichlich der Kunstcharakter des Geschehens zutage tritt und klar wird, dass nicht wirklich Grenzzäune eingerissen, Flüchtlingsleichen vor dem Reichstag verbuddelt und Menschen von Tigern gefressen werden, etc. – eine Enttäuschung, die darin resultiert, die politische Folgenlosigkeit von Kunst zu beklagen oder ihren Scheincharakter anzuprangern. (Vgl. Warstat, Matthias: »Postmigrantisches Theater? Das Theater und die Situation von Flüchtlingen auf dem Weg nach Europa«, in: Bloch, Natalie/ Heimböckel, Dieter/Tropper, Elisabeth (Hrsg.): Vorstellung Europa – Performing Europe. Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart, Berlin 2017, S. 26 – 42, hier S. 40.) Insgesamt haften dem Begriff der politischen Aktionskunst – insbesondere in der theaterwissenschaftlich informierten Debatte – vielfach immer noch Konnotationen an, die der Privilegierung des Live-Ereignisses und einer medienfeindlichen Attitüde Vorschub leisten. So spricht aus den Kommentaren vieler Beobachter:innen eine unverhohlene Skepsis gegenüber der ›Scheinwelt‹ der medialen Berichterstattung und insbesondere des Web 2.0, dem, wie ich behaupten würde, primären Operationsfeld des ZPS. Eine Kunst, die wirklich etwas bewirken wolle, müsse im ›echten Leben‹ agieren. Raimar Stange bspw. verwurzelt die Ästhetik des ZPS in der 68er-Bewegung und arbeitet enge Parallelen zur Arbeit der Guerilla Action Group heraus, einem New Yorker Kollektiv, das sich ganz im Einklang mit der Debord’schen Kritik an der ›Gesellschaft des Spektakels‹ gegen passiven Konsum, ökonomische Vereinnahmung des Kunstbetriebs und aktive gesellschaftliche und moralische Anteilnahme einsetzte. (Vgl. Stange, Raimar: »Appropriativ, agitatorisch, anständig. Zur Ästhetik des Zentrums für Politische Schönheit«, in: Rummel, Miriam/Stange, Raimar/Waldvogel, Florian (Hrsg): Haltung als Handlung. Das Zentrum für Politische Schönheit, München 2018, S. 288 – 304.) In dieselbe Richtung weisen auch Frauke Surmanns Überlegungen zu den »Grundzüge[n] einer politischen Ästhetik«, die sie auf den Begriff der »ästhetischen In(ter)vention« bringt. Diese vollziehe sich als ereignishafter »Einbruch in die symbolische Ordnung des öffentlichen Raums« einerseits und als »wirklichkeitskonstituierender Gründungsakt« andererseits und sei vor allem eines: Aufführung. Das kollektiv und im Hier und Jetzt erzeugte »utopische[] Performativ« könne dann zwar in Form von Bildern und Videos geteilt und weiterentwickelt werden, dies geschehe allerdings im »Modus des Zuschauens zweiter Ordnung« und sei somit der ursprünglichen Live-Erfahrung, d. h. der eigentlichen In(ter)vention, untergeordnet. (Vgl. Surmann, Frauke: Ästhetische In(ter)ventionen im öffentlichen Raum. Grundzüge einer politischen Ästhetik, Paderborn 2014, hier S. 13, S. 20, S. 179 u. 180.) Dass selbst Philipp Ruch, Kopf des ZPS, in seinem »politischen Manifest« das Bild einer medial sedierten Spektakelgesellschaft zeichnet, deren politisches Handlungsvermögen es zu revitalisieren gelte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. (Vgl. Ruch, Philipp: Wenn nicht wir, wer dann? Ein politisches Manifest, München 2015.) Dieser Skepsis gegenüber dem Mittelbaren skeptisch gegenüberzutreten, ist Ziel der folgenden Ausführungen.
4Vgl. Zentrum für Politische Schönheit: »Erster Europäischer Mauerfall«, auf: https://politicalbeauty.de/mauerfall.html (Zugriff am 8. April 2020).
5Mit fraglichem Erfolg, wie Kritikerin Sophie Diesselhorst, die in ihrer Funktion als Beobachterin und Journalistin an der Busreise teilgenommen hat, in Einklang mit zahlreichen Kommentator:innen feststellt. Ihr vollständiger Bericht von der Aktion findet sich online unter: Diesselhorst, Sophie: »Wer schön sein will, muss leiden? Erster Europäischer Mauerfall – Das Zentrum für Politische Schönheit fährt an die Außengrenze der Europäischen Union, um Grenzzäune aufzuschneiden«, auf: https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=10218:2014-11-11-15-05-49&catid=38&Itemid=40 (Zugriff am 8. April 2020).
6Vgl. Zentrum für Politische Schönheit: »Erster Europäischer Mauerfall«, auf: https://politicalbeauty.de/mauerfall.html (Zugriff am 8. April 2020).
7Kiyak, Mely: »Warum fällt es der Kunstkritik so schwer, das Zentrum für Politische Schönheit als das zu betrachten, was es ist: als Kunstwerk. Lautes Nachdenken über den eigenen Stand«, in: Rummel, Miriam/Stange, Raimar/Wald-vogel, Florian (Hrsg.): Haltung als Handlung. Das Zentrum für Politische Schönheit, München 2018, S. 332 – 336, S. 332.
8Ebd., S. 333.
9Ebd., Hervorh. i. O.
10Ebd.
11Ebd., Hervorh. i. O.
12Ebd.
13Ebd., S. 334.
14Vgl. ebd., S. 336.
15Ebd., S. 334.
16Ebd., S. 335.
17Ebd.
18Ebd.
19Ebd., S. 336.
20Vgl. ebd., S. 335.
21Ebd., S. 336, Hervorh. der Verf.
22Diese fand 2002 im Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe statt. Latour, Bruno: »What is Iconoclash? or Is there a world beyond the image wars?«, in: Iconoclash, Kat. zur Ausst. »Iconoclash – Beyond the Image Wars in Science, Religion and Art«, ZKM Karlsruhe, hrsg. v. Latour, Bruno/Weibel, Peter, Cambridge u. a. 2002, S. 14 – 37. Hier aus der ins Deutsche übersetzten, leicht veränderten Fassung zitiert: Latour, Bruno: Iconoclash oder Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges, aus dem Engl. von Gustav Roßler, Berlin 2002.
23Latour: Iconoclash, S. 9f., Hervorh. i. O. Vgl. dazu auch: Latour, Bruno: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M. 62017 [2008]; ders.: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a. M. 62017 [2002].
24Vgl. Latour: Iconoclash, S. 10.
25Ebd., S. 10.
26Ebd., S. 15f., Hervorh. i. O.
27Ebd., S. 17, Hervorh. i. O.
28Eine systematische Unterscheidung zwischen Mittlern und Zwischengliedern, wie sie in dem hier hauptsächlich referierten Essay nicht erfolgt, findet sich beispielsweise in: Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M. 2007, S. 66 – 75.
29Vgl. Latour: Iconoclash, S. 14f.
30Ebd.
31Zentrum für Politische Schönheit: »Erster Europäischer Mauerfall«, auf: https://politicalbeauty.de/mauerfall.html (Zugriff am 8. April 2020).
32Ebd.
33Latour: Iconoclash, S. 50.
34So lautet die Überschrift zu einer Serie von Videos, in denen die »zukünftigen Mauertoten« zu Wort kommen. Vgl. Zentrum für Politische Schönheit: »Erster Europäischer Mauerfall«, a. a. O.
35Vgl. Henkel, Frank: »Verabscheuungswürdige Tat. Gestohlene Mauerkreuze und das Gorki-Theater«, in: Der Tagesspiegel, 8. November 2014, auf: https://www.tagesspiegel.de/berlin/gestohlene-mauerkreuze-und-das-gorki-theater-frank-henkel-verabscheuungswuerdige-tat/10953356.html (Zugriff am 8. April 2020), Hervorh. d. Verf.
36Zentrum für Politische Schönheit: »Erster Europäischer Mauerfall«, a. a. O.
37Zentrum für Politische Schönheit: »Über das ZPS«, auf: https://politicalbeauty.de/index.html (Zugriff am 8. April 2020).
38Vgl. Bodemann, Y. Michal: Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung, Hamburg 1996. Zum offiziellen deutschen Umgang mit dem Holocaustgedenken vgl. u. a. auch: Jureit, Ulrike/Schneider, Christian: Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Bonn 2010.
39Weizsäcker, Richard: Rede anlässlich der Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa, Bonn, 8. Mai 1985, auf: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/Reden/1985/05/19850508_Rede.html (Zugriff am 8. April 2020).
40Henkels Reaktion, die durchaus im Einklang mit der von der Bundesregierung vertretenen Position steht, ließe sich in diesem Sinne mit Christopher Balme als Form der Zensur zur »Absicherung der Schwellen der Toleranz« deuten. Balme zufolge übe »jedes politische Gemeinwesen zum Zwecke der Aufrechterhaltung bestimmter kultureller und religiöser Grundwerte und um sie vor Übergriffen zu schützen, die ein oder andere Form der Zensur« aus. Die kontrovers geführte Debatte um die Grenzen der Kunstfreiheit, die sich im Zuge der Aktion entspann und im Rahmen derer sich ranghohe deutsche Politiker zu öffentlichen Stellungnahmen gezwungen sahen (vgl. z. B. das Statement des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert, einsehbar auf der Aktionswebsite, a. a. O.), zeugt insofern von einer ständigen Überwachung der »Schwellen der Toleranz« und gibt Aufschluss über herrschende Wertesysteme. Besonders schwierig wird es dort, wo gesetzlich verankerte Freiheiten gegeneinander abgewogen werden müssen (im vorliegenden Fall die Freiheit der Kunst gegen die Unantastbarkeit der Menschenwürde). Wesentlich für die verunsichernde und zugleich offenbarende Wirkung sei die räumliche Anordnung: die Tatsache, dass der geschützte Raum des Theaters und damit die moderne ästhetische Erfahrung hinter sich gelassen werde. (Vgl. Balme, Christopher: »Schwellen der Toleranz: Künstlerische Freiheit und das Theater des öffentlichen Raums«, in: Fischer-Lichte, Erika/Wihstutz, Benjamin (Hrsg.): Politik des Raumes. Theater und Topologie, München 2010, S. 121 – 130, hier S. 122 u. 128) Dies ist auch beim ZPS der Fall, das im öffentlichen Raum zur Tat schreitet und einen Übergriff auf ein Terrain vollzieht, das in den Zuständigkeitsbereich des Staates fällt, von diesem kontrolliert und gesetzlich reguliert wird. Wichtiger noch ist meines Erachtens nach, dass der Übergriff nicht nur öffentlich, sondern zunächst an konkreten Gegenständen – den Weißen Kreuzen – vollzogen wurde, was der beschriebenen Repräsentationskette an Wirkkraft verleiht. Auch wenn es sich bei den Kreuzen um Symbole handelt, die wiederum in den Theaterwerkstätten nach- und anschließend digital abgebildet wurden, sind sie das Verbindungsglied zu den Mauertoten. Das ist ein Grund für die Heftigkeit der Reaktion und die Voraussetzung dafür, dass die Tat als obszön empfunden werden kann.
41Vgl. dazu auch Max Czolleks Polemik Desintegriert Euch!, die sich als Gegenstück zu Ruchs Manifest lesen ließe. Statt Erlösungsphantasien und Heldenpathos zu kultivieren, spricht sich Czollek für die Legitimität jüdischer Rachephantasien aus, die eine Möglichkeit darstellten, sich aus der Fixierung auf die Opferrolle durch das Gedächtnistheater zu befreien. Vgl. Czollek, Max: Desintegriert Euch!, München 2018.
42A. a. O.