Theater der Zeit

Thema

Verdichtung statt Verdrängung

Das Festival „Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart“ fragt an den Münchner Kammerspielen nach Formen der Erinnerung in künstlerischen Formaten

von Rebecca Fischer und Isadora Wandt

Erschienen in: Theater der Zeit: Theater & Erinnerung – Gedächtnistheater – Wie die Vergangenheit spielt (05/2023)

Assoziationen: Bayern Münchner Kammerspiele

„Les statues rêvent aussi“ in der Regie von Serge Aimé Coulibaly, Jan-Christoph Gockel
„Les statues rêvent aussi“ in der Regie von Serge Aimé Coulibaly, Jan-Christoph GockelFoto: Armin Smailovic

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Wie wagt man einen unmittelbaren, schonungslosen Blick auf Vergangenheit und Erinnerungsarbeit und setzt dabei künstlerische Impulse, ohne in einem Betroffenheitsmasochismus zu verharren? Der Rassismusexperte Mark Terkessidis fordert in seinem Buch „Wessen Erinnerung zählt“ Differenzierung: Zwar habe „das gigantische Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen dafür gesorgt, dass es keinen Weg um das Erinnern herum“ gebe, aber darüber hinaus sollte in einer vielheit­lichen Gesellschaft das Erbe aus vielen Erinnerungen bestehen, also multiperspektivisch sein. Außerdem verlangt er, jegliches Schweigen zu durchbrechen: „Die große menschliche Aufgabe bleibt, den Anderen zu sehen und den Dialog zu beginnen.“

Mit dem siebenwöchigen Festival „Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart” wagte das gleichnamige künstlerische Forschungsfeld der Kammerspiele im Herbst 2022 den Versuch, ein Festival als ein politisches und poetisches Unterfangen zu durchmessen. Es entstand eine komplexe Zeitreise, die historische Schuldverstrickungen auch über deutschen Grenzen hinweg offenlegte. Das Festival vereinte kaleidoskopartig Kunstformen: Theaterstücke, Konzerte, Tanzaufführungen, Performances, Workshops und Lesungen, verwob unterschiedliche Sprachen und Erinnerungen verschiedener Kulturen an unterschiedlichen Spielstätten. Festivalleiter Martín Valdés-Stauber präsentierte dabei (Zwischen-)Ergebnisse eines fortlaufenden Großprojekts, das sich politisch profiliert, provokant und poetisch der problematischen Vergangenheit Deutschlands stellt, Perspektiven für die Zukunft eröffnen will und zuvorderst im Heute für Pluralismus und Toleranz einsteht. Theater kann respektvoll Visionen vor-spielen, Konflikte an-sprechen, Sehgewohnheiten brechen. Ohne Führungsanspruch kann auf der Bühne eine andere Welt verhandelt werden. So entstanden während des Festivals vielfach generationenübergreifende, internationale Gespräche, bei welchen nicht nur das Gesehene reflektiert, sondern auch über die je eigene Familiengeschichte und Traumata gesprochen wurde.

„Hungry Ghosts“, inszeniert von Anna Smolar, eröffnete das Festival im Schauspielhaus der Kammerspiele: Eine Darstellerin probt eine Komödie, aber plötzlich wird es ihr unmöglich, die von ihr erwartete komische Haltung einzunehmen, was ihre Kolleg:innen in die Verzweiflung treibt. Die Ursache ist genau das, was so manche Zuschauer:innen ins Erinnerungsfestival treibt: geerbtes Trauma. Die Traumata unserer Vorfahren haben sich in uns eingeschrieben. Wir tragen alle neben unserem persönlichen Schmerz einen Teil der kollektiven Schuld noch in uns, weshalb wir dazu beitragen müssen, dass unsere kollektive Erinnerung jetzt in einer Zeit, in der sich Erinnerungsarbeit durch den Verlust von Zeitzeug:innen radikal verändert, aufrechterhalten werden kann. Und wir müssen dafür sorgen, dass sich die Vergangenheit nicht zyklushaft wiederholt. In Form einer im Repertoire der Münchner Kammerspiele aufgenommenen Farce mit dokumentarischen, fiktionalen, musikalischen und tänzerischen Elementen wie in „Hungry Ghosts“ vermag man vielleicht sich thematisch und formell diesen Fragen und Themen anzunähern.

Mit dem Schauspiel „Oasis de la Impunidad“, das die New York Times als eines der besten Stücke des Jahres 2022 ausgezeichnet hat und weiterhin auf Gastspielen um die Welt reist, thematisierte Marco Layera mit der chilenischen Theaterkompanie La Re-sentida, ebenfalls im Großen Haus der Münchner Kammerspiele, das zeitlose Mitläufertum, indem er eine groteske Horrorparade aus grausamen, exakten und ästhetisierten Folterungs- und Selbstverstümmelungsmethoden in unbarmherzigem Stroboskoplicht choreografiert. Durch die Verlängerung der Bühne in den Zuschauerraum hinein wurde dem Publikum die grundsätzliche Frage nicht erspart, wie weit man gehen kann oder muss, bis jemand eingreift.

Einen weiteren Ansatz der Erinnerungsarbeit stellte eine Buchpräsentation des Hispanisten und Verlegers Frank Henseleit im Vortragssaal des NS-Dokumenta­tionszentrums München dar: Schauspielerin Svetlana Belesova las Auszüge aus den Reportagen des Journalisten Manuel Chaves Nogales, der im Jahr 1933 aus Madrid nach Deutschland kam, um den Triumph der ­Nationalsozialisten kurz nach der sogenannten Machtergreifung zu beobachten, und ein Interview mit dem Propaganda­minister Joseph Goebbels führte. In der BRD sind diese eindringlichen Texte und ihr Verfasser gänzlich unbekannt geblieben. Als Haupttäter benennt Nogales nicht SA und SS, sondern die Nachbarn und Nächsten: „Der Kommunist oder Jude braucht sich weniger vor knüppelnden Polizisten zu fürchten, vielmehr vor den eigenen Nachbarn, Kollegen, Passanten, der ganzen Volksmasse.“ Schon in den Anfängen prognostiziert er, dass „gegen den Hass einer solchen Mehrheit […] kein Kampf möglich“ sei.

Im Schauspielhaus wurden Texte von Überlebenden der Shoah gelesen: „Ist das ein Mensch“ richtet sich an die Nachgeborenen, um diese schwer fassbaren Erfahrungen von moralischen Fragestellungen, Freundschaft, Leid und Torturen weiter zu vermitteln. In dem Publikumsgespräch im Anschluss machten Carolin Emcke, Lena Gorelik und Maryam Zaree ihre Position deutlich: Die deutsche Erinnerungskultur gebe sich mit „Nie wieder“ zufrieden, ohne die Geschichten der Überlebenden zu erzählen, denn die Solidarität heutzutage beschränke sich oftmals auf Floskeln.

Der Werkraum, die Studiobühne der Münchner Kammerspiele, schafft mit ihren unverputzten Wänden, Rohren und Industrietoren immer wieder ein Fundament für intime, ehrliche Produktionen mit Versuchscharakter. Vor allem in Kombination mit der Verwendung von Musik wird der Raum emotional aufgeladen und lädt dazu ein, seinen persönlichen Zugang zu der Erinnerungsthematik auszubauen. Hierfür ist das Singspiel „Songs for Babyn Yar“ der drei Musiker:innen Svetlana Kundisch, Mariana Sadovska und Yuriy Gurzhy ein besonders wichtiges Beispiel. Sie verarbeiten mithilfe traditioneller, jiddischer und ukrainischer Volkslieder, Poesie, Erzählungen und Zeugenaussagen das Leid und den Schmerz einer der verheerendsten Episoden der ukrainischen Geschichte. Eine aus Odessa geflüchtete Mutter saß mit ihrem Kind im Publikum. Als ein Wiegenlied über eine Mutter gesungen wurde, die gerade ihre Kinder verloren hatte, sagte das Kind im Publikum immer wieder „Mama“.

Überraschende Perspektiven an neuen Orten

Autor Max Czollek kritisiert in seinen drei Essaybänden, zuletzt „Versöhnungstheater“, die Entlastungsfunktion der Rituale um die Shoah, mit der sich die bundesdeutsche Gesellschaft von historischer Schuld freisprechen wolle. Die Selbstinszenierungen durch Holocaust-Reden, Erinnerungsveranstaltungen und Mahnmale sollen die deutsche Identität in einem „Prozess der Wiedergutwerdung ohne Wiedergutmachung“ entlasten, ohne wirklich Gerechtigkeit herzustellen oder „die Verbindung der gewaltvollen Gegenwart mit der Vergangenheit zu bedenken“, so etwa die Taten der NSU und die Brandanschläge auf Unterkünfte von Asylsuchenden. Den Jüd:innen komme bei diesen Ersatzhandlungen die Rolle des versöhnlichen „supernetten“ Opfers zu. Er betonte, die Erinnerungskultur nicht abschaffen, sondern ins Heute hereinholen zu wollen. Gefühle von Enttäuschung, Verlust und Rache können durch künstlerisches Engagement sublimiert werden. Unterstützenswert ist besonders sein Plädoyer für eine radikal pluralistische Gesellschaft der Gegenwart, die – ohne eine exklusivistische Leitkultur – Menschen in ihrer Vielfalt respektiert und die vor allem mittels der Förderung der Jugend nachhaltig und sinnstiftend wirken sollte.

Im Sinne dieser Reflexion gründete das künstlerische Forschungsfeld „Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart” mit den Münchner Kammerspielen und in Kooperation mit der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft” das Theaterlabor Neuperlach, einen Arbeitsraum des radikalen Austausches und Ausprobierens mit einem kostenlosen, facettenreichen Angebot an Workshops, Vorstellungen und Ferienangeboten, die von Theaterpädagog:innen betreut werden. Gerade deshalb ist Valdés-Staubers komplexes Projekt so zukunftsweisend: In einem Stadtviertel wie Neuperlach, das wegen seines hohen Anteils an Menschen mit Migrationshintergrund Diskriminierungen ausgesetzt ist, hat er eine Filiale der Münchner Kammerspiele gegründet. Mit dem Theaterlabor entsteht in München gegenwärtig ein Experimentierort für gesellschaftliche Prozesse. Im engen Dialog mit dem Haupthaus wird ein produktiver Umgang mit gesellschaftlicher Heterogenität gefördert, um die Vielfalt der Gesellschaft widerzuspiegeln, zueinanderzuführen und neue Formen des Austausches zu ermöglichen.

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