Theater der Zeit

Schwerpunkt

„Ein Mädchen würde so was nie sagen“

Sexualität und Gender im zeitgenössischen Jugendtheater

von Maja Bagat

Erschienen in: IXYPSILONZETT: IXYPSILONZETT 02/2015 – Genderdiskurse im Theater für junges Publikum (06/2015)

Assoziationen: Kinder- & Jugendtheater

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Die auf dem gleichnamigen Roman basierende Geschichte handelt von einem Mädchen, das sämtlichen Jungs den Kopf verdreht und die Freundschaft der männlichen Protagonisten auf die Probe stellt. Während Lila alle anderen Männer im Viertel ignoriert, nimmt sie Kontakt zu Chimo auf. Lila befriedigt ihn auf einer halsbrecherischen Fahrradtour; sie erzählt ihm ihre ungewohnten Wünsche und Träume; sie lässt ihn teilhaben an ihrer Fantasie. Und während Chimos Freunde Lila als Schlampe abtun – nicht, weil ihre Sprache obszön ist, denn Lila spricht nur mit ihm, sondern weil sie die Jungs ignoriert – bleibt Chimo immer wieder irritiert und sprachlos vor ihr stehen. „Sagt Lila“ handelt von Ungewissheit, unglaublicher Intimität und unüberwindbarer Distanz – und endet tragisch.

Als Dramaturgin von „Sagt Lila“ habe ich mich im vergangenen Jahr eingehend mit Sexualität, Vertrauen und dem Erleben der ersten Liebe beschäftigt. Die Publikumsgespräche und die Feedbacks, die wir vom jungen Publikum erhielten, zeigten allerdings, dass nicht die vulgäre Sprache, die einen wichtigen Aspekt in der Geschichte darstellt, per se schockiert, sondern vielmehr die Tatsache, dass diese schmutzigen Wörter über die Lippen eines Mädchens kommen. Man möchte meinen, dass dies nichts Neues sei für ‚die‘ Jugendlichen, schliesslich begrüssen sie sich mit „Yo, bitches“, bringen sich mit „Chill deinen Schlitz“ zum Schweigen oder bezeichnen sich als „Famebitches“.

Engel mit Nuttenschnauze

Aber genau da liegt der Unterschied zwischen ihnen und Lila: Die von aussen betrachtete, derbe Sprache, die Jugendliche verwenden, wird gezielt eingesetzt. Sie wissen, wie sie diese zu verstehen haben. Sobald diese Sprache, wie bei Lila, als direkte Wunschäußerung oder Beschreibung der eigenen Fantasien fungiert, sieht die Einschätzung ganz anders aus. Und so wird in den Publikumsgesprächen hartnäckig die Tatsache, dass Lila ein Mädchen ist, diskutiert. Denn Mädchen sagen so was nicht. So etwas sagt allenfalls „ein Engel mit Nuttenschnauze“, wie Lila insgeheim von Chimo genannt wird. Das Bild von der passiven, empfangenden Frau und dem aktiven, gebenden bzw. fordernden Mann ist in uns offenbar immer noch tief verankert. Lilas Schönheit, ihr blondes Haare (hell = rein, unschuldig) und ihre vulgäre Sprache werden als derber Widerspruch empfunden.

Indem aber einem Mädchen eine derart obszöne Ausdrucksweise abgesprochen wird, impliziert dies gleichzeitig, dass solch eine bei einem Jungen nicht schockieren würde. Haben Sie schon Mal einen 16-Jährigen erlebt, der ernsthaft „Willst du meinen Schwanz sehen?“ sagt? Weil er verliebt ist und sich auf diese ganz besondere Art seinem Gegenüber annähert? Wieso greifen wir, wenn wir die Figur Lila beschreiben wollen, auf den Mann als Massstab zurück? Ist es nicht viel eher ungewöhnlich, dass überhaupt jemand so spricht? Ist nicht vielmehr die Figur Lila als Mensch, denn als Frau, aussergewöhnlich?

Spiel mit dem Vorurteil im Zuschauerraum

Oder wenn in „Steh deinen Mann“ (boat people projekt Göttingen) Homosexualität im Fussball thematisiert wird: Als Einmannstück, vorzugsweise gespielt in der Umkleidekabine eines Fussballvereins oder einer Schule, konfrontiert die Inszenierung die Zuschauer mit dem Fakt, dass 10 Prozent der Männer homosexuell sind und somit in jeder Fussballmannschaft mindestens ein Schwuler mitspielen müsste. Und indem nach einer Definition gesucht wird, wie diese schwulen Fussballspieler entlarvt werden könnten, wird das stereotype Bild der Männlichkeit heraufbeschworen. Das Publikum wird dabei sowohl mit den eigenen Vorurteilen als auch mit denjenigen der interviewten Fans, die in der Inszenierung per Video zu Wort kommen, konfrontiert. Gleichzeitig wird das scheinbar etablierte Männerbild evoziert und die Frage, was überhaupt ‚Mann sein‘ bedeutet, aufgeworfen. „Fussball ist Männersache.“ – „Schwule sind hygienischer als Männer.“ (Als wären homosexuelle Männer keine Männer.)

Denn „Fussball ist einfach“ und in einer Domäne, in der Einfachheit massgebend ist, wird eben heteronormativ gedacht. Aber wie steht die Tatsache, dass viele Fussballstars durch Style und aufwendige Frisuren auffallen, zu diesen vermeintlichen Wahrheiten? „Steh deinen Mann“ hinterfragt diese stereotypen Zuschreibungen und spielt gekonnt mit den Vorurteilen des Publikums. Indem der Schauspieler einzelne Zuschauer anspricht oder gar dazu auffordert, einen kurzen Catwalk hinzulegen, um zu überprüfen, ob es einen Unterschied in der Gangart zwischen Männern und Frauen gibt (denn Schwule würden ja eher wir Frauen gehen), ist es unmöglich, sich den Fragen der Inszenierung zu entziehen. Haben wir folglich nichts gelernt?

Geschlechterbilder zur Diskussion stellen

Auch wenn es Mädchen gibt, die eine Automechanikerlehre absolvieren oder Jungs, die Kindergärtner werden – scheinbar sind wir weit davon entfernt, ausserhalb der eingeschriebenen Biopolarität zu denken. Theater hat die Möglichkeit, Geschlechterbilder zu thematisieren, sie aufzuzeigen, durcheinander zu wirbeln und mit den Zuschauern in einen Dialog zu treten. Wobei hier der Vermittlung eine wichtige Rolle zukommt. „Ein Bodybild“ (Theater Marabu Bonn) veranschaulicht, dass es Wege gibt, Sexualität zu thematisieren, ohne vorgeschriebene Allgemeinplätze zu bedienen. Die Inszenierung zeigt, wie der Umgang mit der eigenen Sexualität, den Verwirrungen und den Entdeckungen des eigenen Körpers ohne auf stereotypisierte Klischees zurückzugreifen, umgesetzt werden kann. Die Stückfassung, in dieser Inszenierung von Laura Schuller gespielt, lässt offen, ob eine Frau oder ein Mann den Abend bestreitet. Die performative Inszenierung switcht zwischen männlichen und weiblichen Stimmen hin und her und zeigt auf assoziative Weise, auf welche Themen Jugendliche in dieser Zeit zurückgeworfen sein können. Aber nicht nur die Unsicherheiten in der Pubertät werden thematisiert, mit Fragen wie: „Hast du Angst vor dem Vergleich? Hättest du gern, was sonst niemand hat? Oder würdest du gern sein wie die anderen?“, wird das Publikum mit Fragen bombardiert, die ihr eigenes Verhältnis zu Sexualität prüfen. Indem die Darstellerin innerhalb kürzester Zeit mit einer Taschenlampe in der Männerunterhose einen leuchtenden Penis etabliert oder in akrobatischen Verrenkungen das Anziehen eines BHs mimt, wird die Frage nach dem biologischen Geschlecht der jeweiligen Figur überflüssig. Bald verschwimmen die Grenzen und der Fokus liegt auf individuellen und nachvollziehbaren Themen – egal ob männlich oder weiblich.

Die stereotypen Geschlechterrollen scheinen in unserer Gesellschaft tief verankert zu liegen, was sich in verschiedenen Lebensbereichen äussern kann. Gerade für das Kinder- und Jugendtheater erscheint es wichtig, Fragen nach den verbreiteten und angeblich geltenden Geschlechterbildern aufzuwerfen und Denkanstösse zu liefern. Umso wichtiger ist es also, dass sich Lehrer trauen, mit ihren Schülern Inszenierungen zu schauen, die außerhalb des klassischen Kanons liegen und qualitative Vor- oder Nachbesprechungen verlangen. Theater soll irritieren. Denn es kann die Rezipienten auf ihre eigenen Vorurteile und festgeschrieben Bilder zurückwerfen und so dabei helfen, Grenzen zu überwinden.

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