II. Schauspielen als Beruf. Die Erfindung des bürgerlichen Schauspielers im 18. Jahrhundert
Das Paradox über den Schauspieler
Quelle 6
von Denis Diderot
Erschienen in: Lektionen 3: Schauspielen Theorie (12/2010)
Assoziationen: Schauspiel
Erster: Wenn der Schauspieler Gefühl hätte, könnte er – Hand aufs Herz! – zweimal hintereinander die gleiche Rolle mit der gleichen Wärme und dem gleichen Erfolg spielen? Bei der ersten Vorstellung wäre er warm, ja heiß, um bei der dritten bereits erschöpft und eiskalt zu sein. […] Wenn er im Spiel nur er selbst ist, wie soll er je aufhören, er selbst zu sein? Wenn er aufhören will, er selbst zu sein, wie soll er den Punkt finden, an den er sich stellen und aufhören muß?
Was mich in meiner Meinung bestärkt, ist die Ungleichheit der Schauspieler, die mit der Seele spielen. Erwartet von ihnen keinerlei einheitliche Wirkung, ihr Spiel ist abwechselnd stark und schwach, heiß und kalt, platt und erhaben. Sie werden morgen an der Stelle versagen, an der sie heute geglänzt haben, umgekehrt werden sie dort hervorragen, wo sie am Tage vorher danebengegriffen haben. Dagegen bleibt sich der Schauspieler, der mit Überlegung nach dem Studium der Natur in dauernder Nachahmung eines idealen Vorbildes aus der Phantasie, dem Gedächtnis spielt, immer gleich und vollkommen: alles war abgemessen, abgewogen, überlegt, geordnet worden in seinem Kopfe. In seiner Sprache ist weder Monotonie noch Dissonanz. Die Erregung hat ihre Entwicklung, ihre Wellen, ihre Ruhepunkte, ihren Anfang, Mitte und Höhepunkt. Die gleichen Akzente, die gleichen Stellungen, die gleichen Bewegungen: wenn ein Unterschied zwischen einer Vorstellung und der anderen entsteht, so ist es gewöhnlich zum Vorteil der letzten. Er ist nicht veränderlich: er ist ein Spiegel, immer bereit, die Gegenstände wiederzugeben und sie mit der gleichen Präzision, der gleichen Stärke und Wahrheit zu zeigen. Wie der Dichter schöpft er dauernd aus dem unerschöpflichen Brunnen der Natur, während er sehr bald das Ende seines eigenen Reichtums gesehen hätte.
Gibt es ein vollendeteres Spiel als das der Clairon? […] Sie ist die Seele einer großen Puppe, mit der sie sich umgeben hat, ihre Probenarbeit hat sie dazu gemacht. Sie kann lässig auf dem Faulbett liegen, unbeweglich, und ihrem Traum folgen, dann wird sie sich hören, sich sehen, sich beurteilen |85|und den Eindruck beurteilen, den sie hervorruft. In diesem Augenblick ist sie doppelt: die kleine Clairon und die große Agrippina.
Zweiter: Wenn man Sie hört, dann gleicht dem Schauspieler auf der Bühne oder bei seiner Probe nichts so sehr wie die Kinder, die nachts auf dem Friedhof Gespenster spielen, indem sie ein großes weißes Tuch an einer Stange über ihre Köpfe heben und unter diesem Leichengerüst hervor mit dumpfer Stimme die Vorübergehenden erschrecken.
Erster: Sie haben recht! […] Nicht in der Hitze des ersten Entwurfes findet man die charakteristischen Züge, sondern erst in ruhigen, kalten Momenten, in ganz unerwarteten Augenblicken. Man weiß nicht, woher sie kommen, sie sind eine Art Eingebung. Zwischen der Natur und ihrer Skizze schwebend, blicken diese Genies aufmerksam auf die eine und die andere. Die Schönheiten der Eingebung, die unerwarteten Züge, die durch sie in ihre Arbeiten kommen und deren plötzliches Auftreten sie selbst in Erstaunen setzt, haben eine viel sicherere Wirkung und einen größeren Erfolg als das, was sie im ersten Augenblick hineingeworfen haben. Kühle Überlegung muß das Fieber der Begeisterung dämpfen.
Nicht der erregte Mensch, der außer sich ist, kann uns mitreißen; das ist das Vorrecht des Menschen, der sich in der Gewalt hat. Vor allem die großen dramatischen Dichter sind aufmerksamste Zuschauer dessen, was um sie herum in der physischen und moralischen Welt geschieht.
Zweiter: Die nur eine einzige ist.
Erster: Sie ergreifen alles, was ihnen ins Auge fällt, sie sammeln es. Und aus diesem unbewußt im Innern gesammelten Reichtum dringen so viele seltene Erscheinungen in ihre Werke. Die Heißblütigen, Heftigen, Gefühlsmenschen sind auf der Bühne, sie geben ein Schauspiel, aber sie genießen es nicht. Nach ihnen eben schafft das Genie das Abbild. Die großen Dichter, Schauspieler und vielleicht ganz allgemein alle großen Nachahmer der Natur, wer sie auch seien, sind begabt mit einer schönen Phantasie, viel Urteilskraft, einem ausgeprägten Taktgefühl, einem sehr sicheren Geschmack, aber sie sind die denkbar gefühllosesten Menschen. Sie sind zu allem in gleicher Weise befähigt. Sie sind allzu beschäftigt mit Schauen, Erkennen und Nachahmen, um in ihrem Innern heftig ergriffen zu werden. Ich sehe sie immer mit dem Skizzenheft auf den Knien und dem Bleistift in der |86|Hand. Wir, wir fühlen, sie beobachten, studieren und malen. Soll ich es sagen? … Warum eigentlich nicht? Gefühl ist nicht die Eigenschaft des großen Genies. Es liebt die Gerechtigkeit, aber es übt diese Tugend aus, ohne ihre Süßigkeit zu genießen. Nicht sein Herz, sondern sein Kopf tut alles. Auch der geringste, unerwartete Umstand ist für den Gefühlsmenschen verloren. Er wird weder ein großer König, noch ein großer Minister, noch ein großer Feldherr, ein großer Advokat, ein großer Arzt sein. Füllt mir das Theater mit diesen Heulern, aber bringt mir keinen auf die Bühne. Seht euch die Frauen an! Sie überbieten uns zweifellos bei weitem an Gefühl: welcher Unterschied zwischen ihnen und uns in den Augenblicken der Leidenschaft! Aber soweit wir ihnen nachstehen, wenn wir handeln, so weit bleiben sie hinter uns zurück, wenn sie nachahmen. Das Gefühl ist undenkbar ohne eine gewisse Schwäche. Die Träne, die einem wirklich männlichen Mann entrinnt, rührt uns mehr als alle Frauentränen. In der großen Komödie, der Komödie der Gesellschaft, auf die ich immer zurückkomme, sind alle heißen Seelen auf der Bühne, alle genialen Leute sitzen im Parkett. Die ersten heißen Verrückte, die zweiten, die sich damit beschäftigen, ihre Verrücktheiten zu kopieren, heißen Weise. Das Auge des Weisen erfaßt die Lächerlichkeiten so vieler verschiedener Gestalten, die er malt, und damit bringt er euch zum Lachen über die unerfreulichen Originale, deren Opfer ihr geworden seid, und über euch selbst. Er hat euch beobachtet, er hat das komische Abbild des Lästigen und eurer Qual gezeichnet.
Man kann diese Wahrheiten beweisen, die großen Schauspieler werden sie nie zugeben, sie sind ihr Geheimnis. Die mittelmäßigen Schauspieler und Anfänger sind dazu geschaffen, sie zu verwerfen, und von einigen anderen könnte man sagen, daß sie zu fühlen glauben, wie man vom Abergläubigen gesagt hat, daß er sich einbildet, zu glauben, und daß es ohne den Glauben für diesen und das Gefühl für jenen kein Heil gibt.
Aber wie? Will man behaupten, die schmerzlichen Klagelaute, die jene Mutter aus ihrem Innersten stößt und von denen ich im tiefsten Innern so heftig erschüttert bin, seien nicht geboren aus einem augenblicklichen Gefühl, es sei nicht Verzweiflung, die sie eingibt? Keineswegs. Und der Beweis? Sie sind abgemessen, sie sind Teil eines sprachlichen Aufbaus; wenn sie um ein Zwanzigstel eines Vierteltones leiser oder schärfer wären, klängen |87|sie falsch. Sie sind einem Gesetz der Einheit unterworfen, sie werden, wie in der Harmonie, vorbereitet und aufgelöst. Sie genügen allen Anforderungen erst nach langem Studium. Sie tragen mit bei zur Lösung einer gestellten Aufgabe. Um richtig ausgestoßen zu werden, sind sie hundertmal wiederholt worden, und trotz der häufigen Wiederholungen macht man sie noch falsch. Ehe er sagt:
„Zaire, Sie weinen!“ oder
„Es wird gelingen, meine Tochter!“
hat der Schauspieler sich lange selbst zugehört. Er hört sich zu, während er euch bewegt, und sein ganzes Talent besteht nicht, wie ihr annehmt, im Fühlen, sondern in der Fähigkeit, die äußeren Zeichen des Gefühls so gewissenhaft wiederzugeben, daß ihr euch täuschen laßt. Die Schmerzensschreie hat er in seinem Ohr notiert. Die Gesten seiner Verzweiflung kommen aus dem Gedächtnis und sind vorm Spiegel ausprobiert worden. Er weiß den genauen Augenblick im voraus, in dem er sein Taschentuch ziehen muß und die Tränen fließen, erwartet sie bei diesem Wort, bei dieser Silbe, nicht früher und nicht später. Das Beben der Stimme, die abgehackten Worte, die erstickten oder gedehnten Laute, das Zittern der Glieder, das Wanken der Knie, die Ohnmachten, die Raserei – reinste Nachahmung! Vorausgelernte Lektion! Pathetische Grimasse! Erhabene Äfferei, deren Erinnerung der Schauspieler noch lange behält, nachdem er sie studiert hat, die ihm klar bewußt war in dem Augenblick, als er sie ausführte, die ihm, zum Glück für den Dichter, den Zuschauer und ihn selbst, die ganze Freiheit seines Geistes läßt und ihn, wie alle anderen Anstrengungen, nur Körperkräfte kostet. Sobald der Sokkus [der niedere Schuh als Kennzeichen der Komödie] oder der Kothurn [der hohe Schuh als Kennzeichen der Tragödie] abgelegt ist, verlischt seine Stimme. Er fühlt sich außerordentlich abgespannt, wechselt seine Wäsche und geht schlafen. Aber es bleibt ihm weder Verwirrung, noch Schmerz, noch Melancholie, noch seelische Niedergeschlagenheit. Diese Gefühlseindrücke nehmt ihr mit euch fort. Der Schauspieler ist müde, ihr seid traurig. Es liegt daran, daß er sich bewegt hat, ohne zu fühlen, und ihr gefühlt habt, ohne euch zu bewegen. Wenn es anders wäre, dann wäre der Beruf des Schauspielers der unglücklichste von allen Berufen – aber er ist nicht die Gestalt, |88|er spielt sie und spielt sie so gut, daß ihr ihn dafür haltet: die Illusion ist euer; er weiß genau, daß er sie nicht ist.
Verschiedene Gefühle sollten sich vereinen, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen, sich aufeinander abstimmen, sich mildern oder verstärken, sich gegenseitig nuancieren, um ein einheitliches Ganzes zu schaffen! Diese Vorstellung bringt mich zum Lachen. Ich betone es also nochmals und sage: Übertriebenes Gefühl macht mittelmäßige Schauspieler, mittelmäßiges Gefühl macht die Masse der schlechten Schauspieler, und der absolute Mangel an Gefühl ist die Voraussetzung für erhabene Schauspieler. Die Tränen des Schauspielers kommen aus seinem Gehirn herab, die des Gefühlsmenschen steigen aus dem Herzen herauf: die Eingeweide verwirren den Kopf des Gefühlsmenschen maßlos. Der Kopf des Schauspielers trägt manchmal eine vorübergehende Verwirrung in sein Inneres. Er weint wie ein ungläubiger Priester, der über die Leidensgeschichte predigt, wie ein Verführer zu Füßen einer Frau, die er betrügen will, wie ein Bettler auf der Straße oder an der Kirchentür, der euch beschimpft, wenn er keine Möglichkeit sieht, euch zu rühren, oder wie eine Dirne, die nichts fühlt, aber in euren Armen ohnmächtig wird.
Haben Sie jemals über den Unterschied zwischen den Tränen, die durch ein tragisches Ereignis, und denen, die durch eine traurige Erzählung hervorgerufen werden, nachgedacht? Man hört etwas Schönes erzählen: allmählich verwirrt sich der Kopf, die Seele wird bewegt, und die Tränen fließen. Beim Anblick eines tragischen Ereignisses dagegen berühren sich der Gegenstand, die Empfindung und die Wirkung: in einem Augenblick wird die Seele bewegt, man stößt einen Schrei aus, verliert den Kopf, und die Tränen fließen. In diesem Fall kommen sie plötzlich, im anderen wurden sie herbeigeführt. Das ist der Vorteil eines natürlichen und wahren Theatercoups auf einer wortreichen Bühne. Er bewirkt plötzlich, was die Bühne allmählich bringt. Aber die Illusion davon ist viel schwerer zu erzeugen. Ein einziger falscher oder nur schlecht wiedergegebener Umstand zerstört sie. Akzente lassen sich besser nachahmen als Bewegungen, aber die Bewegungen berühren stärker – das ist die Begründung für ein Gesetz, das meiner Meinung nach keine Ausnahme kennt: es kommt darauf an, den Knoten durch Handlung zu lösen, nicht durch Erzählung, wenn man nicht kalt lassen will.
|89|Nun, haben Sie mir nichts zu erwidern? Ich verstehe. Sie erzählen eine Geschichte in einer Gesellschaft; Sie sind im tiefsten Innern bewegt, die Stimme versagt Ihnen, Sie weinen. Sie haben, sagen Sie, gefühlt, und sehr intensiv gefühlt. Das gebe ich zu. Aber haben Sie sich darauf vorbereitet? Nein. Haben Sie in Versen gesprochen? Nein. Dennoch haben Sie mitgerissen, gerührt, eine große Wirkung erzielt. Das ist wahr. Aber übertragen Sie Ihren privaten Ton, Ihren einfachen Ausdruck, Ihre alltägliche Haltung, Ihre natürliche Geste auf die Bühne, und Sie werden sehen, wie arm und schwach Sie sind. Sie können noch so viel Tränen vergießen, Sie werden lächerlich wirken, man wird lachen. Sie spielen dann keine Tragödie, sondern eine tragische Parade. […]
Überlegen Sie einen Augenblick, was es auf dem Theater heißt: Wahr-Sein. Heißt das die Dinge so zeigen, wie sie in der Natur sind? Keineswegs! Das Wahre in diesem Sinne wäre nur das Alltägliche. Was ist also das Wahre auf der Bühne? Es ist die Übereinstimmung der Handlungen, Reden, der Gestalt, der Stimme, der Haltung, der Geste mit einem vom Dichter erfundenen Idealbild, das oft vom Schauspieler noch überbetont wird. Das ist das Wunderbare. Das Ideal beeinflußt nicht nur den Ton; es verändert sogar den Gang, ja die Haltung. Daher kommt es, daß der Schauspieler auf der Straße und auf der Bühne zwei so verschiedene Persönlichkeiten zeigt, daß man Mühe hat, ihn zu erkennen. Als ich Fräulein Clairon das erstemal zu Hause sah, rief ich ganz impulsiv: „Ach, gnädiges Fräulein, ich dachte, Sie seien einen Kopf größer!“
Eine unglückliche Frau, und zwar eine wirklich unglückliche, weint und rührt Sie nicht; schlimmer: ein leichter Zug, der sie entstellt, reizt Sie zum Lachen. Eine ihrer Eigenheiten klingt falsch in Ihrem Ohr und verletzt Sie. Eine Bewegung, die ihr ganz natürlich ist, zeigt Ihnen das Unedle und Kleinliche in ihrem Schmerz. Maßlose Leidenschaften zeigen sich fast immer in Verzerrungen, die der Künstler ohne Geschmack sklavisch nachahmt, während sie der große Künstler vermeidet. Wir wollen, daß der Mensch im tiefsten Leiden noch seinen Menschencharakter, die Würde seiner Gattung bewahrt. Was ist die Folge dieser heldenhaften Anstrengung? Uns vom Schmerz zu distanzieren und ihn zu mäßigen. Wir wollen, daß jene Frau mit Anstand und Anmut zusammenbricht und daß jener Held |90|wie ein antiker Gladiator mitten in der Arena stirbt unter dem Beifall des Amphitheaters, mit Anmut und Würde in einer edlen und malerischen Haltung. Wer wird Ihre Erwartungen erfüllen? Etwa der Kraftprotz, den der Schmerz bezwingt und das Gefühl übermannt? Oder der geschulte Athlet, der sich beherrscht und die Gesetze der Gymnastik befolgt, während er seinen letzten Seufzer ausstößt? Der antike Gladiator ebenso wie der große Schauspieler, und der große Schauspieler genau wie der antike Gladiator sterben nicht, wie man im Bett stirbt, sondern sind gehalten, uns einen anderen Tod vorzuspielen, um uns zu gefallen. Und der sensible Zuschauer würde empfinden, daß die nackte Wahrheit, die aller Kunst entkleidete Handlung, kleinlich wäre und zur Poesie des übrigen in Widerspruch stünde.
Das heißt nicht, daß die reine Natur nicht auch ihre erhabenen Momente hätte, aber ich glaube, wenn einer sie bestimmt erfassen und in ihrer Erhabenheit erhalten kann, so derjenige, der sie in der Phantasie oder aus Genialität vorausgefühlt hat und kaltblütig wiederzugeben weiß.
Dennoch leugne ich nicht, daß eine Art erworbener oder künstlicher Beweglichkeit des Inneren mit im Spiele ist. Aber wenn Sie meinen Rat hören wollen, ich halte sie fast für ebenso gefährlich wie das natürliche Gefühl. Sie muß den Schauspieler nach und nach zu Manieriertheit und Einförmigkeit führen. Es ist ein der Vielgestaltigkeit der Funktionen des großen Komödianten entgegenwirkender Faktor. Er ist oft gezwungen, sich davon zu befreien, und diese Selbstverleugnung ist nur einem ehernen Kopf möglich. Zur Erleichterung der Studien und Proben, der Universalität des Talents und der Vollendung des Spiels wäre es besser, die unbegreifliche Spaltung des Ich wäre nicht nötig; denn ihre außerordentliche Schwierigkeit bindet schließlich doch jeden Schauspieler an eine einzige Rolle, zwingt die Truppen, sehr zahlreich zu sein, oder fast alle Stücke werden notwendig schlecht gespielt, es sei denn, man stelle die Ordnung der Dinge auf den Kopf und mache die Stücke für die Schauspieler. Mir scheint jedoch, sie sollten umgekehrt für die Stücke gemacht werden. […]
Was ich Ihnen jetzt erzähle, habe ich gesehen. Garrick steckt seinen Kopf durch einen Türspalt und im Laufe von vier bis fünf Sekunden verändert sich sein Gesichtsausdruck von wilder Freude über gemäßigte Freude zur Ruhe, von der Ruhe zur Überraschung, von der Überraschung zum Erstaunen, |91|vom Erstaunen zur Trauer, von der Trauer zur Niedergeschlagenheit, von der Niedergeschlagenheit zum Schrecken, vom Schrecken zum Entsetzen, vom Entsetzen zur Verzweiflung. Von dieser letzten Stufe steigt er wieder bis an den Ausgangspunkt. Kann seine Seele all diese Gefühle empfinden und diese ganze Skala in Übereinstimung mit dem Gesicht? Ich glaube es nicht. Und Sie auch nicht. Wenn Sie diesen berühmten Mann fragten, der allein schon wert ist, daß man nach England reist, wie die Ruinen Roms eine Italienfahrt lohnen; wenn Sie, sage ich, ihn baten, die Szene des kleinen Kuchenjungen zu spielen, spielte er sie Ihnen. Wenn Sie ihn gleich darauf um die Hamlet-Szene baten, spielte er sie ebenfalls – gleich bereit, über die heruntergefallenen Pasteten zu weinen und in der Luft dem Weg des Dolches zu folgen. Kann man nach Wunsch lachen oder weinen? Man macht die mehr oder weniger genaue Grimasse, mehr oder weniger täuschend, je nachdem, ob man ein Garrick ist oder nicht. Ich imitiere manchmal, und sogar ziemlich wahrheitsgetreu, um sehr kluge Weltleute zu beeindrucken. Wenn ich verzweifelt bin bei dem gespielten Tode meiner Schwester in der Szene mit dem Advokaten aus der Niedernormandie, wenn ich mich in der Szene mit dem ersten Marinekommis anklage, der Frau eines Schiffskapitäns ein Kind beigebracht zu haben, dann sehe ich aus, als ob ich Schmerz beziehungsweise Scham empfinde. Aber bin ich wirklich traurig? schäme ich mich? ebensowenig in meiner kleinen Komödie wie in der Gesellschaft, wo ich diese beiden Rollen gespielt hatte, ehe ich sie in ein Theaterstück einfügte. Was ist denn ein großer Schauspieler? Ein großer tragischer oder komischer Imitator, dem der Dichter vorschreibt, was er zu sagen hat. […]
Stellen Sie sich zwei Liebhaber vor, die beide eine Erklärung machen wollen. Welcher wird sich besser aus der Affäre ziehen? Ich bestimmt nicht. Ich erinnere mich, daß ich mich dem geliebten Wesen immer nur zitternd genaht habe – mir schlug das Herz, meine Gedanken verwirrten sich, die Stimme erstickte, ich verdarb alles, was ich sagen wollte – ich antwortete mit nein, wenn es ja hätte heißen sollen – ich war linkisch und ungeschickt, lächerlich vom Scheitel bis zur Sohle, bemerkte es und wurde dadurch immer nur lächerlicher. Dagegen verstand es ein heiterer, lustiger und gewandter Rivale, der sich voll in der Gewalt und an sich selber Freude hatte, |92|unter meinen Augen keine Gelegenheit vorübergehen zu lassen, seine Verehrung auszusprechen, und zwar in feiner, geistreicher Weise; er unterhielt, gefiel und hatte Erfolg. Er bat um ein Händchen, das man ihm überließ, er ergriff es manchmal, ohne darum gebeten zu haben, küßte es, küßte es wieder, und ich saß in einer Ecke und bemühte mich, die Augen von einem Schauspiel abzuwenden, das mich in Wallung brachte, erstickte meine Seufzer, preßte meine Fäuste, bis die Gelenke knackten, versank in Schwermut und konnte, von kaltem Schweiß bedeckt, meinen Kummer weder zeigen noch verbergen. Man sagt, die Liebe raubt denen den Verstand, die welchen haben, und gibt ihn jenen, die keinen haben, das heißt auf gut deutsch, sie macht die einen gefühlvoll und albern und die andern kalt und unternehmungslustig.
Der Gefühlsmensch folgt den natürlichen Impulsen und vermag nur, den Schrei seines Herzens genau wiederzugeben – in dem Augenblick, da er diesen Aufschrei mildert oder verstärkt, ist er es nicht mehr selbst, er ist ein Schauspieler, der eine Rolle spielt.
Der große Schauspieler beobachtet die Erscheinungen: der Gefühlsmensch dient ihm als Modell, er denkt über ihn nach und findet aus der Überlegung, was er um der besseren Wirkung willen hinzufügen oder weglassen muß. […]
Zweiter: Die Seele des großen Schauspielers besteht aus jenem feinen Stoff, mit dem unser Philosoph [Epikur] den unendlichen Raum erfüllte, der weder kalt noch warm, weder schwer noch leicht ist, der keine feste Form annimmt, der jede Gestalt annehmen kann, aber keine behält.
Erster: Ein großer Schauspieler ist weder ein Klavier, noch eine Harfe, noch ein Cembalo, noch eine Geige, noch ein Cello, er hat keinen ihm eigenen Akkord, aber er nimmt den Akkord und Ton an, der seiner Rolle entspricht, und versteht es, sich an jeden hinzugeben. Ich habe eine hohe Meinung vom Talent eines großen Schauspielers: es ist selten, ebenso, vielleicht noch seltener als das des großen Dichters.
Wer sich in der Gesellschaft vornimmt, allen zu gefallen, und vielleicht sogar das unglückliche Talent dazu hat, ist nichts, besitzt nichts, was ihm eigen ist, was ihn auszeichnet, wofür sich die einen begeistern und was die anderen langweilt. Er redet immer und immer gut als ein berufsmäßiger Bewunderer, ein großer Höfling, ein großer Komödiant. […]
|93|In Gesellschaft finde ich sie, soweit sie nicht Spaßmacher sind, höflich, beißend und kalt, eitel, vergnügungssüchtig, verschwenderisch, auf ihren Vorteil bedacht, stärker angesprochen von unseren Lächerlichkeiten als gerührt von unseren Leiden, ziemlich ausgeglichenen Geistes beim Anblick eines unangenehmen Vorkommnisses oder bei der Erzählung einer traurigen Begebenheit – einsame Vagabunden im Dienste der Großen – wenig Sitten, keine Freunde, fast keine jener heiligen und zarten Bindungen, die uns mit den Leiden und Freuden eines anderen vereinigen. Ich habe oft Schauspieler außerhalb der Bühne lachen sehen, aber ich kann mich nicht entsinnen, je einen weinen gesehen zu haben. Was tun sie also mit dem Gefühl, das sie sich anmaßen und das man ihnen zuspricht? Lassen sie es auf den Brettern zurück, wenn sie herunterkommen, um es wieder aufzunehmen, wenn sie wieder hinaufgehen?
Was ist es, das sie auf den Sokkus oder auf den Kothurn bringt? Mangel an Erziehung, Elend und liederliches Leben. Das Theater ist ein Ausweg, niemals freie Wahl. Noch nie ist einer Schauspieler geworden aus Liebe zur Tugend, aus dem Wunsche, der Gesellschaft nützlich zu sein und seinem Vaterlande oder seiner Familie zu dienen oder irgendeinem ehrenhaften Motiv, das einen ehrlichen Kopf, ein heißes Herz, eine gefühlvolle Seele zu einem so schönen Beruf hinziehen könnte. […]
Von Natur ist der Mensch er selbst, in der Nachahmung ist er ein anderer. Das Herz, das man zu haben glaubt, ist nicht das, was man hat. Was ist denn das wahre Talent? Die äußeren Erscheinungsformen der erborgten Seele genau zu kennen, sich an die Sinne derer zu wenden, die uns hören und sehen und sie durch die Nachahmung der Erscheinungsformen zu täuschen, durch eine Nachahmung, die alles in ihren Köpfen vergrößert und der Maßstab für ihr Urteil wird. Denn es ist unmöglich, auf andere Weise das zu ermessen, was in uns vorgeht. Und was liegt schließlich daran, ob sie fühlen oder nicht fühlen, wenn wir es nur nicht merken?
Wer also am besten die äußeren Zeichen kennt und sie am vollendetsten wiedergibt nach dem besten und höchsten Vorbild, der ist der größte Schauspieler.
Zweiter: Wer dem großen Schauspieler am wenigsten zu erfinden übrigläßt, ist der größte Dichter. […]
|94|Erster: Gefühlvoll sein ist etwas anderes als fühlen. Das eine ist eine Angelegenheit der Seele, das andere der Urteilskraft. Man fühlt mit Macht, aber man kann das nicht wiedergeben. Es geht allenfalls noch, wenn man allein ist, in kleiner Gesellschaft, am Kamin, für einige wenige Zuhörer oder Zuschauer, so zu lesen und zu spielen, aber auf der Bühne gelingt auf diese Weise nichts Starkes – denn auf der Bühne gibt man mit dem, was wir Gefühl, Seele, Trieb nennen, ein oder zwei Tiraden gut wieder, das übrige gelingt nicht. Die ganze Spannweite einer großen Rolle zu umfassen, das Hell und Dunkel abzustimmen, das Weiche und Schwache, gleichstark zu sein an ruhigen und an bewegten Stellen, farbig zu sein in den Einzelheiten, harmonisch und geschlossen im Ganzen, sich ein durchgehendes System des Sprachklangs zu schaffen, das selbst die Launen und Schwächen des Dichters überbrückt, das ist die Leistung eines kühlen Kopfes, klaren Verstandes, ausgezeichneten Geschmacks, eines genauen Studiums, langer Erfahrung und eines vorzüglichen Gedächtnisses, das nicht alltäglich ist; denn die für den Dichter bindende Regel: qualis ab inscepto processerit et sibi constet [Man muss ein Kunstwerk von Anfang an nach einem klaren Plan organisch bis in die letzten Einzelheiten entwickeln und gestalten], gilt bis ins Kleinste und Nebensächlichste für den Schauspieler. Wer aus der Kulisse tritt, ohne sein Spiel klar vor Augen und seine Rolle parat zu haben, wird sich sein ganzes Lebens als Anfänger fühlen, und wenn er, mit Kühnheit, Anmaßung und Schwung begabt, auf seine Geistesgegenwart und Routine zählt, dann wird dieser Mensch imponieren durch seine Wärme und Trunkenheit, und Sie werden seinem Spiel Beifall zollen, wie der Kenner der Malerei eine freche Skizze bewundert, in der alles angedeutet und nichts ausgeführt ist. Dieses Wunder hat man gelegentlich auf dem Jahrmarkt oder bei Nicolet gesehen, diese Verrückten tun vielleicht gut, zu bleiben, was sie sind: geborene aber unfertige Komödianten. Intensives Studium würde ihnen nicht das geben, was ihnen fehlt, wohl aber das nehmen, was sie haben. Nehmen Sie sie als das, was sie sind, aber stellen Sie sie nicht neben ein vollendetes Bild.
Zweiter: Jetzt bleibt nur noch eine Frage offen.
Erster: Sprechen Sie!
Zweiter: Haben Sie je ein ganzes Stück vollendet gespielt gesehen?
|95|Erster: Nicht daß ich wüßte … aber halt … ja, manchmal ein mittelmäßiges Stück von mittelmäßigen Schauspielern … […]
Hier schwieg der Mann des Paradoxes. Dann hielt er plötzlich an, ergriff seinen Gegner heftig am Arm und sagte ruhig und bestimmt zu ihm: „Mein Lieber, es gibt drei Vorbilder, den Menschen der Wirklichkeit, den Menschen des Dichters, den Menschen des Schauspielers. Der der Wirklichkeit ist weniger groß als der des Dichters, und dieser wieder weniger groß als der des großen Schauspielers, der der übersteigertste von allen ist. Er steigt auf die Schulter des Vorhergehenden, steckt sich in eine Rohrpuppe, deren Seele er ist. Er bewegt diese Puppe auf erschreckende Weise, selbst der Dichter erkennt sie nicht wieder. Er erfüllt uns mit Entsetzen, wie Sie sehr richtig sagten, so wie sich die Kinder gegenseitig erschrecken, wenn sie ihre kurzen Röckchen über den Kopf ziehen und schwenken und, so gut sie können, heisere und hohle Stimmen vortäuschen beim Gespensterspielen. Aber haben Sie nicht zufällig Kinderspiele auf Kupferstichen gesehen? Haben Sie da nicht ein Kind gesehen, das sich von Kopf bis Fuß in einer häßlichen Greisenmaske verbirgt, es lacht unter dieser Maske, während seine kleinen Freunde vor Entsetzen davonlaufen. Dieses Kind ist das wahre Symbol des Schauspielers. Seine Freunde sind das Symbol des Zuschauers. Wenn der Schauspieler nur mit mittelmäßigem Gefühl begabt ist, und wenn das sein ganzes Verdienst ist, werden Sie ihn nicht für einen mittelmäßigen Menschen halten? Nehmen Sie sich in acht, das ist nochmals eine Falle. – Und wenn er mit einem außerordentlichen Gefühl begabt ist, was geschieht dann? – Was geschieht? Er wird überhaupt nicht spielen – oder lächerlich spielen. Ja, lächerlich. Und der Beweis, den können Sie in mir sehen, wenn Sie wollen. Sobald ich eine einigermaßen gefühlvolle Rede zu halten habe, verwirren sich mir Herz und Kopf. Meine Zunge versagt, es verschlägt mir die Stimme, meine Gedanken geraten durcheinander, meine Rede stockt, ich stottere, ich bemerke es, die Tränen rinnen mir über die Wangen, ich verstumme. – Aber Sie haben Erfolg damit. – In der Gesellschaft, im Theater würden Sie mich auspfeifen. – Warum? – Weil man nicht dahin kommt, um Tränen zu sehen, sondern um eine Rede zu hören, die sie hervorruft; denn diese Wahrheit der Natur stimmt nicht überein mit der Wahrheit der Konvention. Ich will mich deutlicher ausdrücken. Ich meine, |96|daß weder das dramatische System, noch die Handlung, noch die Rede des Dichters sich mit meiner erstickten, abgerissenen, zerschluchzten Deklamation vereinen ließe. Sie sehen, es ist also nicht einmal erlaubt, die Wirklichkeit nachzuahmen, selbst die schöne Wirklichkeit, die Wahrheit aus nächster Nähe, es gibt Grenzen, in denen man sich halten muß. – Und wer hat diese Grenzen gesetzt? Der gesunde Menschenverstand, der nicht will, daß ein Talent das andere beeinträchtigt. Manchmal muß sich der Schauspieler dem Dichter aufopfern. – Aber wenn es ihm das Werk des Dichters erlaubte? Dann hätten Sie eine durchaus andere Art Tragödie, als wir haben. – Und was schadete das? – Ich weiß nicht, was Sie dabei gewinnen wollten, aber ich weiß sehr genau, was wir dabei verlieren würden.“ […]
Schauspieler machen nicht Eindruck auf das Publikum, wenn sie wütend sind, sondern wenn sie die Wut spielen. Bei Gericht, in Versammlungen, überall, wo man die Menschen beherrschen will, spielt man bald Zorn, bald Furcht, bald Mitleid, um in den anderen alle diese Gefühle zu wecken. Was die Leidenschaft selbst nicht hat tun können, das leistet die gut nachgeahmte Leidenschaft. Sagt man nicht in der Gesellschaft von manchem Menschen, daß er ein großer Komödiant ist? Man versteht darunter nicht, daß er fühlt, sondern im Gegenteil, daß er hervorragend Gefühle vortäuscht: diese Rolle ist weit schwerer als die des Schauspielers; denn dieser Mensch muß auch seine Reden selbst erfinden, er hat also zwei Funktionen auf einmal zu erfüllen, die des Dichters und die des Schauspielers. Der Dichter kann auf der Bühne vielleicht geschickter sein als der Komödiant in der Gesellschaft, aber glaubt man wirklich, daß der Schauspieler auf der Bühne eindringlicher und geschickter Freude, Trauer, Gefühl, Bewunderung, Zärtlichkeit heucheln kann als ein alter Höfling?
Denis Diderot: „Das Paradox über den Schauspieler“ (geschrieben um 1770, Erstveröffentlichung 1830 in Paris), in: ders.: Erzählungen und Gespräche, Diederichsche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1953 und Insel Verlag, Frankfurt am Main 1981 (Deutsch von Katharina Scheinfluß), S. 289 – 362
Denis Diderot (1713 – 1784), französischer Schriftsteller und Aufklärer, Verfasser der Encyclopédie (gemeinsam mit d’Alembert) und anderer philosophischer, naturwissenschaftlicher und kunstkritischer Arbeiten. Er schrieb außerdem Theaterstücke (u. a. Le Fils Naturel, Le Père de famille) und begründete mit seinen theoretischen Abhandlungen über das Theater, etwa De la poésie dramatique und Le paradoxe sur le comédien, das bürgerliche Trauerspiel.