Theater der Zeit

Vorwort

von Dirk Baecker

Erschienen in: Recherchen 99: Wozu Theater? (01/2013)

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Der vorliegende Band versammelt Gelegenheitsarbeiten zum Theater. Ihre Einheit beziehen sie aus der Frage nach der gesellschaftlichen Funktion des Theaters und aus der Überzeugung, dass auch das Theater nicht auf eine moralische, politische oder pädagogische Rolle reduziert werden darf, sondern als Kunst ernst genommen werden muss. Die gesellschaftliche Funktion, die das Theater erfüllt, erfüllt es als Kunst. Diese kann jedoch nicht mehr, wenn sie es denn je konnte, als selbstverständlich vorausgesetzt werden, sondern muss immer wieder neu gesucht und kann nur so bestätigt werden. Das Theater mag immer noch eine Institution sein, aber diese Unverzichtbarkeit verdankt es nicht seiner Absicherung in den Institutionen der Kunstförderung und Kulturpolitik, sondern seiner Arbeit am Format seiner Arbeit. Es variiert Darstellung, Publikum, Ort und Ästhetik und kann nur so sicher sein, dass es gegenüber politischen Interessen, kommerziellen Rücksichten, religiösen Botschaften, pädagogischen Absichten und wissenschaftlichen Fragestellungen hinreichend unabhängig bleibt. Es kann sich all diesen Zugriffen und Zumutungen der Gesellschaft anverwandeln, die die Wirklichkeit definieren, in der sich auch das Theater bewegt, muss aber zugleich sicherstellen, dass es als Theater nicht mit dieser Wirklichkeit verwechselt wird.

Die gesellschaftliche Funktion des Theaters, das wir hier als menschheitsgeschichtliche Einmalerfindung verstehen, besteht darin, dass das Theater wie keine andere soziale Form zur Beobachtung zweiter Ordnung herausfordert und die Beobachtung zweiter Ordnung vorführt. Auf der Bühne agieren Darsteller, die sich vom Publikum daraufhin beobachten lassen, wie sich Drama, Intrige und Komödie aus der wechselseitigen Beobachtung entwickeln, deren Inszenierung sie vorführen. Im antiken Theater war die Rolle des Beobachters explizit im Chor ausdifferenziert, im modernen, mittlerweile schon klassischen Theater (Lessing, Goethe, Schiller …) ist sie auf viele Rollen verteilt, um alle Kombinationen wechselseitiger Beobachtung und Blindheit zwischen Akteuren aller Art durchzuspielen, und in dem Theater, das wir passend zur heraufziehenden ‚nächsten‘ Gesellschaft das nächste Theater nennen,1 sind es nicht mehr nur Menschen in ihren Rollen, sondern Körper, Erinnerungen, Hoffnungen, Lichter, Räume und Gesten, die ihrerseits Beobachtungen anstellen, beobachtet werden und Effekte auslösen. Im antiken Theater wird tragisch und komödiantisch das Schicksal herausgefordert, im klassisch modernen Theater wird Kontingenz inszeniert, und im ‚nächsten‘ Theater wird das Spiel selber auf seine Unvermeidlichkeit zurückbuchstabiert, ohne dass zwischen Sein und Schein irgendein verlässlicher Trennstrich zu ziehen wäre.

Eine solche Soziologie und funktionale Analyse des Theaters innerhalb seines gesellschaftlichen Kontexts beraubt das Theater nicht seines Eigensinns, seiner Autonomie oder seiner prozessualen Differenz, sondern versucht diese im Gegenteil als Ausdruck von Kunst zu würdigen. Denn auch wenn der Soziologe immer schon zu wissen glaubt, dass die Differenz zwischen Darstellung und Publikum, die jedes Theater definiert, sich auch im neuen Stück, in der neuen Inszenierung, im neuen Format und an den neuen Orten wieder durchsetzen wird, so kann doch nichts die jeweilige Arbeit des Schauspielers, Regisseurs, Dramaturgen, Bühnenbildners und Lichtdesigners vorwegnehmen. Jedes Mal neu handelt es sich wieder um Kunst, und nicht um Politik, Moral, Erziehung oder Religion. Jedes Mal neu handelt es sich wieder um die Suche nach einer passenden Ästhetik, wieder um ein Spiel mit Wahrnehmung, das sich mit jeder neuen Wendung wieder neue Freiheitsgrade erobert.

Der auch kulturpolitisch geführte Streit um die Programme des Theaters setzt dessen Funktion voraus und bleibt erstaunlich unempfindlich gegenüber der unablässigen Arbeit des Theaters an seiner Ästhetik. Gerade wenn man von einer gesellschaftlichen Funktion des Theaters spricht, muss jedoch dessen Ästhetik in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken. Dafür werben die hier gesammelten Beiträge, auch wenn ihr eigener Akzent eher auf soziologischen Fragestellungen liegt. Kommentare zu einzelnen Theaterarbeiten, die in den vergangenen Jahren in Theater der Zeit, in der taz und in der Frankfurter Rundschau erschienen sind, habe ich hier der Vollständigkeit halber noch einmal aufgenommen, obwohl ich sie bereits andernorts zusammen mit anderen kleinen Beiträgen zur Sozialkunde gesammelt hatte.2

In den vorliegenden Beiträgen geht es um das überraschende Wiederauftauchen ästhetischer Fragestellungen innerhalb einer zwischen Stadttheater, freien Szene und Performance-Kunst schon längst nicht mehr eindeutig differenzierten Kunst. Das Theater entwindet sich zunehmend dem Zugriff bürgerlicher Ästhetiken, die – halb noch Repräsentationstheater, halb bereits Milieutheater – kaum noch die Kraft zur Innovation haben, und wendet sich neuen Orten, neuen Formaten, neuen Themen und eben auch neuen Ästhetiken zu, die den Akzent nicht mehr auf Texte, sondern auf Medien legen,3 und die die Welt nicht mehr klassisch, romantisch, sentimental oder kritisch begreifen, sondern in Ton-, Text-, Bild- und Codespuren zerlegen und allenfalls verwirrend wieder zusammensetzen.

Wie bei Gelegenheitsarbeiten üblich, habe ich all denen zu danken, die mir die Gelegenheit zu diesen Arbeiten gaben, allen voran Carena Schlewitt und Matthias Lilienthal, aber auch Söke Dinkla, Christian Holtzhauer, Josef Mackert, Barbara Mundel, Heiner Goebbels, Marion Tiedtke, Christopher Balme, Philippe Bischof, Imanuel Schipper und Jurriaan Cooiman. Ohne viele Gespräche mit Wolfgang Krause Zwieback, Claudia Bosse, Kathrin Tiedemann, Bernard Fleury, Katka Schroth, Ivan Stanev, Janek Müller, Harriet und Peter Meining, Carl Hegemann, Barbara Gronau, VA Wölfl, Hans-Werner Krösinger, Hannah Hurtzig, Volker Lösch, Tobias Brenk, Boris Nikitin und Anna-Sophie Mahler hätte ich sicherlich noch weniger von der ganzen Sache verstanden, als es hier dokumentiert ist.

Der mir wichtigste Grund, die Texte noch einmal zu publizieren, ist nicht das gleichsam unvermeidlich mitlaufende Plädoyer für eine Soziologie des Theaters, sondern das Werben dafür, die Frage nach den Formaten, in denen Kunst stattfinden kann, strategisch noch ernster zu nehmen, als es jüngst vielfach bereits getan wird. Nur Formate geben die Antwort auf die Frage, wie strenge Kunst und schonungslose Öffnung miteinander Hand in Hand gehen können. Daraus erklärt sich der Titel des Bandes. Während wir uns auf die Institution des Theaters gleichsam menschheitsgeschichtlich verlassen können, stehen doch seine Institutionen nicht nur kulturpolitisch, sondern auch ästhetisch auf dem Prüfstand. Die Formatfrage liefert eine Handhabe, ästhetische, organisatorische, finanzielle und rezeptive Fragen an das Theater nicht nur wie bisher eher latent, widerwillig und dann auch intransparent, sondern offen und offensiv aufeinander zu beziehen und als eigenes Theater um das Theater zu inszenieren. Als Institution kann sich das Theater nur autoritär inszenieren, jede weitere Rückfrage als Frage von Banausen zurückweisend. Als Format unter anderen Formaten jedoch kann es sich der intelligenten Beobachtung durch sich selbst und durch andere aussetzen. Das gilt intern, zwischen den Häusern des Theaters, es gilt innerhalb der Künste, im Vergleich mit Konzert, Galerie, Museum und Performance, und es gilt innerhalb der Gesellschaft im Hinblick auf die Frage, welche Phänomene das Theater im Unterschied zu anderen Orten (Parlament, Universität, Kirche, Krankenhaus, Demonstration, Markt, Gericht, Gefängnis, Fabrik, Büro, Stadion, Bibliothek …) sichtbar und beobachtbar macht.

1 Siehe Dirk Baecker, Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt am Main 2007.

2 Siehe Dirk Baecker, Nie wieder Vernunft: Kleinere Beiträge zur Sozialkunde, Heidelberg 2008, S. 26 ff., 146 ff., 221 ff. und 263 ff.

3 Siehe dazu meinen Text „Medientheater“ in: Studien zur nächsten Gesellschaft, a.a.O., S. 91 – 97.

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