Theater der Zeit

„Wenn das Asyl aus verschiedenen Perspektiven gleichzeitig erfahrbar wird“

Patrick Primavesi über den Umgang mit Fremden in der antiken Tragödie. Gespräch am 15. Januar 2016

von Patrick Primavesi und Jens Bisky

Erschienen in: Recherchen 124: Du weißt ja nicht, was die Zukunft bringt – Die Expertengespräche zu „Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen“ am Schauspiel Leipzig (10/2016)

Bisky: Patrick Primavesi ist Professor hier in Leipzig am Institut für Theaterwissenschaft, heute wollen wir über den Umgang der antiken Tragödie mit Fremden reden. Ist Aischylos eine Ausnahme gewesen damit, dass er mit den Schutzflehenden ein Problem wie Asyl oder Schutzsuche zum Thema gemacht hat, oder ist das gang und gäbe im antiken Griechenland?

Primavesi: Die Besonderheit von Aischylos’ Thematisierung der Schutzsuche hat verschiedene Gründe, nicht nur den, dass er damit ein immer wieder aktuelles politisches Thema bearbeitet. Das Problem ist, dass wir über die griechische Tragödie gar nicht so viel wissen, weil die meisten Stücke verloren sind. Manches ist noch durch Titellisten halbwegs zu rekonstruieren oder durch Erwähnungen, wer im Wettbewerb der Dichter den Sieg errungen hat.

Bei Aischylos gibt es ein vor allem auf die Theologie oder den Götterkosmos der Griechen bezogenes Denken, stärker noch als bei den anderen zwei großen Tragödiendichtern der Epoche, Sophokles und Euripides. Die drei liegen zeitlich gar nicht so weit auseinander, aber bei Sophokles beginnt dieses Denken ein Stück weit aufzubrechen und noch mehr bei Euripides. Das heißt, die Ordnungen, die Aischylos noch so beschreibt, dass man sie durch das jeweilige Stück, durch alle Krisen und Konflikte hindurch als Autorität wahrnimmt, sind schon...

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