Theater der Zeit

Theater Marie – Raum stabiler künstlerischer Freiheit

Vorwort

von Sophie Witt, Patric Bachmann und Olivier Keller

Erschienen in: Ohne festen Wohnsitz – Theater Marie 2012 – 2022 (03/2022)

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Im Herbst 2012 trat in dem in den 1980er Jahren entstandenen Theater Marie ein neues vierköpfiges Leitungsteam an, bestehend aus Patric Bachmann, Olivier Keller, Pascal Nater und Erik Noorlander. Im Sommer 2022, zehn Jahre später, kommt es im Theater Marie zu einem erneuten Leitungswechsel. Patric Bachmann und Olivier Keller werden die Leitung an Andrea Brunner, Manuel Bürgin und Maria Ursprung übergeben. Je nach Sichtweise sind die zehn Jahre eine lange oder eine kurze Zeit. In dieser Zeit sind rund dreissig Produktionen entstanden, die an bis zu neunzig unterschiedlichen Spielorten gezeigt wurden.

Als Kompetenzzentrum für Theaterproduktion im Kanton Aargau/CH arbeitet das professionelle Tourneetheater eng mit Koproduktionsund Gastspielhäusern der freien Szene zusammen und besteht neben dem Leitungsteam und drei fest angestellten Mitarbeiter:innen aus einem grossen Pool freischaffender Theatermenschen. 2014 wurde die Junge Marie aus der Taufe gehoben und ist mittlerweile ein unverzichtbarer Bestandteil des Theater Marie. Und das personelle und institutionelle Netzwerk rund ums Theater Marie ist um unzählige Fäden reicher und dichter geworden.

Dieses Buch beleuchtet die einmalige Produktionsstruktur für darstellende Künste in der Schweiz aus der Perspektive vieler Autor:innen, von denen nicht wenige in unterschiedlichen Rollen am Theater Marie mitgewirkt haben. Hier konnten sie gleichermassen die programmatische Freiheit einer Gruppe der freien Szene wie die Planungssicherheit einer subventionierten Institution geniessen, eine fruchtbare Basis für eine abwechslungsreiche, bewegliche und experimentierfreudige Theaterarbeit. Angestossen durch Impulse und Erlebnisse mit dem Theater Marie machen sich die Autor:innen Gedanken zum zeitgenössischen Theaterschaffen zwischen Institution und freier Szene.

«Ohne festen Wohnsitz» ist ein Sammelband, der Menschen und Räumen eine Bühne bietet. Die Bespielung von Räumen – architektonischen, imaginären und psychologischen – ist für die Arbeit beim Theater Marie identitätsstiftend. Das Buch fragt in fünf Sektionen nach diesen Räumen.

Die Sektion RaumZeiten – ZeitRäume versteht Theater als eine Praxis, die weit über das Hier und Jetzt hinaus Zeiten und Räume thematisieren und erfahrbar machen kann. Es kann dank seiner fiktionalen Kraft regelrechte Zeitreisen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft veranstalten. Diese Dynamik des Fiktiven und des theatralen Erfindungsgeistes einerseits und die bewusste Konfrontation mit dem «Wirklichen» andererseits stehen in der Sektion Imaginäre und wirkliche Räume im Zentrum. Theater Marie ist eine kleine, vernetzungsfreudige Institution, die sich ästhetisch wie Theater Marie – Raum stabiler künstlerischer Freiheit Vorwort gesellschaftlich in viele Richtungen ausstrecken kann. Die Zusammenarbeit mit anderen Kunstgattungen, insbesondere der Musik, und die Resonanzen vermittels Förderung von «Nachwuchs» in der Jungen Marie und dem Dramenprozessor wird in der Sektion Resonanz- Räume beleuchtet. Die Jahre 2012 – 2022 sind eine Ära von schubartigen digitalen Entwicklungen, welche die Möglichkeiten des Theaters stark erweitert haben. Die Sektion Digitale Räume zeichnet die digitalen Bewegungen des Theater Marie nach. «Dazwischen im Zentrum» hiess 2012 die Bewerbung des neuen Leitungsquartetts. Der Titel bezeichnete die dem Theater Marie innewohnende Lust, mitten zwischen städtischen Zentren ein Theaterleben einzurichten. Daher benennt die letzte Sektion «Dazwischen im Zentrum?» Lebensräume! einige der in der letzten Dekade entstandenen Lebensräume.

«Ohne festen Wohnsitz» ist eine Bestandsaufnahme, die in die Vergangenheit schaut, aber auch Fragen an die Zukunft aufwirft. Fotostrecken zum Arbeitsort in Suhr/CH und zu den Theaterproduktionen geben diesen Gedanken einen visuellen Ausdruck. Eine Auswahl der Produktionsflyer zeigt die dezidiert künstlerisch gedachte grafische Begleitung der Theaterarbeit. Der abschliessende Listenteil gibt Auskunft über alle Aufführungen und alle Beteiligten der letzten zehn Jahre.

Mehr Stabilität für künstlerische Freiheit steht auf dem Wunschzettel so mancher fördernder oder künstlerisch tätiger Institution. In Zürich soll in naher Zukunft die «Konzeptförderung» längerfristiges Denken in der freien Szene ermöglichen. In grösseren Städten werden vermehrt Mehrjahresförderungen für freie Gruppen eingerichtet. Migros Kulturprozent, nationales Kulturförderungsprogramm des gleichnamigen Detailhandelsunternehmens, entwickelt ein Förderprogramm für Ko-Kreation über fachliche Grenzen hinaus. Pro Helvetia baut «Bridges to the future», die die Kunstschaffenden bei Aktivitäten neben dem reinen Produzieren unterstützen. Im Theater Marie sind viele dieser Dinge bereits Realität: Längerfristiges Konzeptdenken steht vor der Hetze von einem Projekt zum nächsten, das Vertrauen vonseiten der Förderinstitutionen garantiert Experimentiermöglichkeiten, und die Zusammenarbeit mit Expert:innen ausserhalb des Theaterfeldes kann ergebnisoffen angegangen werden.

Auch nach fast vierzig Jahren Theater Marie ist dieses Kleinod der Schweizer Theaterszene in Bewegung und sucht sich weiterhin ästhetisch, strukturell und geografisch immer neue Wohnsitze. Eine beachtenswerte Aargauer Eigenart, die beispielhafte Inspiration für eine Schweizer Theaterwelt des 21. Jahrhunderts sein kann.

Inspirierend war auch die Arbeit an diesem Buch: Für dessen Beheimatung danken wir Theater der Zeit sowie allen unseren Autor:innen, Fotograf:innen und unserem Grafiker Michael Flückiger, dass sie sich mit uns auf die Reise begeben haben!

November 2021

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