Realismus nach 2008
Kunst und die Krise des Kapitalismus
von Jette Gindner
Erschienen in: Lob des Realismus – Die Debatte (09/2017)
Bertolt Brechts „Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus“ zeigt, wie die Bewohner eines Hauses – trotz schon angesengter Augenbrauen – eher das lodernde Feuer verdrängen, als den Schritt ins Freie zu wagen. 1937 im Exil verfasst, trifft Brechts Gedicht den Zeitgeist 2017 auf wirklich sonderbare Art. Das zeigt sich exemplarisch an der gegenwärtigen Realismusdebatte: Der Wiederaufstieg des Realismus in den letzten Jahren, heißt es da, sei eine Antwort auf die zunehmende Virtualisierung unserer Lebenswelt durch das Internet. Oder eine Reaktion auf die Postmoderne, insbesondere das postdramatische Theater. Die naheliegendste Erklärung für die Entstehung eines erneuerten Interesses am Realismus aber ist in der Debatte bisher abwesend geblieben: die wirtschaftliche und politische Krise der Gegenwart. Knapp ein Jahrzehnt nach der sogenannten Finanzkrise von 2007/08 leben wir in einer seltsamen Verdrängung, ganz ähnlich den Bewohnern des brennenden Hauses bei Brecht. Ja, mehr noch: Anders als in Brechts abschließendem Kommentar zu dem Gleichnis fragen die Leute heute nicht, „was aus ihren Sparbüchsen und Sonntagshosen werden soll nach einer Umwälzung“ – vielleicht, weil achtzig Jahre nach Brechts Gedicht die „Bombenflugzeuggeschwader des Kapitals“ meist unsichtbar und seit 1989 Revolutionen fast undenkbar geworden sind. Und dennoch, die allgemeine Kapitalismus- und Demokratiekrise hinterlässt Spuren: Wie Seismografen registrieren die...