Theater der Zeit

Protagonisten

Heimat hoch zwei

Das Apollo-Theater Siegen hat sich in den zehn Jahren seit seiner Gründung zu einem Ort entwickelt, der Identität und Differenz ausspielt

von Martin Krumbholz

Erschienen in: Theater der Zeit: Schauspiel Leipzig – Martin Linzer Theaterpreis 2017 (06/2017)

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Peter Paul Rubens wurde in Siegen geboren. Zwar hätte man den barocken Maler für einen Flamen gehalten, er hat auch nur wenige Monate in der (seinerzeit vermutlich idyllischen) Geburtsstadt verbracht, aber was soll’s – ein bisschen stolz darf man auf den flüchtigen Siegener schon sein. Wie auch auf den 390 Jahre später geborenen Navid Kermani, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, dessen Roman „Große Liebe“, 2014 erschienen, in Siegen spielt, ohne dass die Stadt je beim Namen genannt wird. Kenner sagen, sie sei erkennbar. Schön ist das heutige Siegen nicht, aber schön gelegen. Und seit zehn Jahren hat Siegen ein veritables Theater mit 520 Plätzen, von dem man gut und gern behaupten kann, dass es floriert. In der Saison 2015/16 kamen fast 100 000 Besucher in das ehemalige Apollo-Kino. Als das Theater 2007 unter maßgeblicher Beteiligung eines Trägervereins gegründet wurde, hielt man eine Zuschauerzahl von 45 000 für realistisch. Sie wurde bereits im ersten Jahr übertroffen.

Magnus Reitschuster, der Intendant und Geschäftsführer, ist ein bayerischer Schwabe. Er war zuvor Chefdramaturg in Erlangen. Die Siegener Theaterszene, erzählt er in seinem kleinen Büro, war vor 2007 „wunderbar desolat“. Die Tourneetheater gastierten in einer Schulaula. Sonst gab es nichts. Dabei hatte man sich schon seit den fünfziger Jahren mit dem Plan getragen, ein richtiges Theater zu bauen. Was folgte, nennt Reitschuster „eine fünfzigjährige Tragödie“. Aber sie fand ein gutes Ende. Als einige Bürger die Idee entwickelten, aus dem Apollo ein Theater zu machen, bildete sich rasch ein Förderverein mit vielen Mitgliedern. Ihre Namen sind auf mehreren großen Tafeln im Foyer verewigt. Schließlich ist Siegen eine Stadt, die sich nicht nur den toten Rubens, sondern eine lebendige kulturelle Identität auf ihre Fahnen schreiben möchte. Dazu leistet das Apollo-Theater einen wesentlichen Beitrag, indem es dezidiert auch die Differenz, das Andersartige, wie Reitschuster es formuliert, wahrnimmt und behauptet.

Es ist ein liberaler Gedanke, der in der Universitätsstadt Siegen nicht immer auf fruchtbaren Boden gefallen ist, sich aber letztlich durchgesetzt hat. Die Tourneetheater sind nach wie vor willkommen, doch ebenso gibt es Gastspiele renommierter Bühnen mit anspruchsvollen Aufführungen – und sogar zwei bis drei eigene Produktionen. Für dieses Siegener Modell existieren gar nicht so viele Vorbilder. „Die Idee ist gewissermaßen“, so Reitschuster, „Theater am Kurfürstendamm und Volksbühne unter einem Dach zu vereinen.“ Zwar gibt es unter den sage und schreibe 13 Abo-Reihen auch ein Komödien-Abo, es wird also kein Mensch gezwungen, sich mit schräger Gegenwartskunst auseinanderzusetzen, wenn er es denn nicht will. Aber das Angebot besteht, sich diesem so gut wie jenem zuzuwenden.

Die Sorge, als Alibi missbraucht zu werden von etwaigen Stadtvätern, die nach Siegen schielen und ihr Ensemble abschaffen wollen, kennt der Intendant nicht. Schließlich hat Siegen nie ein eigenes Ensemble besessen. Es ist schon richtig: Mehr als die Hälfte seines Budgets schöpft das Apollo-Theater aus eigenen Einnahmen (1,5 Millionen Euro). Doch alles, was hier im Siegener Frühling blüht und gedeiht, ist ein Surplus zu dem Tourneetheater-Eintopf, den man in der Vorzeit gewohnt war und nolens volens hinunterschlang. Heute wird dem Siegener Bürger beispielsweise als Gastspiel der Berliner Volksbühne die Herbert-Fritsch-Inszenierung „Die (s)panische Fliege“ serviert. Und das ist ja eine etwas andere Art von Lustspiel als die, die man vorher kannte. Den Rahmen dafür bildet die Siegener Biennale, die seit 2009 alle zwei, wenn’s Geld knapper ist, auch nur alle drei Jahre im April/Mai stattfindet und dieses Jahr unter dem Motto „Heimat2“ steht. Will sagen: Manchmal ist es eben so kompliziert mit der Heimat, dass man dafür eine mathematische Formel braucht. „10 Jahre Apollo – Heimat für alle!“ lautet der dazugehörige Slogan auf einem wunderbar kitschigen Geburtstagsherzchen. „Heimat für alle“ ist dabei durchaus politisch und hintergründig gemeint. Schließlich feiert man am Apollo nicht allein herkömmliche Poetry-Slams, sondern auch „migrationshintergründliche“, und die sind naturgemäß noch hintergründiger als andere Poetry-Slams. Die „muslimischen Rapper“ zum Beispiel nehmen in Reitschusters Ausführungen fast rituelle Gestalt an.

Ist das eine passende Überleitung zu der kleinen Apollo-Eigenproduktion „Große Liebe“ nach dem Roman von Navid Kermani? Der in Siegen geborene Deutsch-Iraner ist ja längst derart im intellektuellen Establishment des Landes angekommen, dass sein „Hintergrund“ weniger migrationspolitisch, sondern weit mehr akademisch und kulturell begriffen wird. Kaum eine nennenswerte Debatte, an der Kermani sich nicht beteiligt. Dass er aber seine Wurzeln besser kennt als jeder andere, belegen eindrucksvoll die literarischen Zitate in einem überraschend „privaten“ Roman – Zitate arabischer Mystiker, die sich mit der Liebe befassen. Der Andalusier Ibn Arabi ist eine Art Roland Barthes des Mittelalters. Diese extensiven Zitate stellen keinen Bildungsüberschuss dar, sondern sind die Brücke zu einem utopischen Raum, den der Autor offenbar im Sinn hat, wenn er die womöglich autobiografische Geschichte (aber weiß man das so genau?) der erotischen Initiation eines Fünfzehnjährigen erzählt.

Magnus Reitschuster persönlich hat den Roman für die Bühne adaptiert, Johannes Zametzer hat inszeniert. Man sieht den nackten Dachboden eines Fachwerkhauses, rechts im Hintergrund ein Mischpult, an dem die Musikerin Franziska Brücker steht, ihre eigenen Kompositionen und Songs spielt und mit zarter Stimme singt. Brücker repräsentiert Jutta, die etwas ältere Angebetete des Ich-Erzählers, den man sich als Doppelfigur vorzustellen hat: als fünfzehnjährigen Protagonisten und als dreißig Jahre älteren Schriftsteller, der jenes einschneidende Erlebnis rekonstruiert. Die Doppelung wird auch auf der Bühne vollzogen: Martin Hofer spielt, mit dem Buch in der Hand, den Erzähler, Nico Holonics den Jungen (und den gleichaltrigen Sohn des Erzählers). Es entsteht eine lange Blickachse zwischen Erzähler vorne, Handelndem in der Mitte und dem Objekt des Begehrens im Hintergrund. Man könnte auch sagen: zwischen Reflexion, Aktion und Projektion.

Kermanis Roman, Reitschuster weiß das selbst, drängt nicht auf die Bühne. Der kurze Abend ist eine brave und durchaus ehrenwerte Reverenz an den berühmten Sohn, der seiner Stadt ein – wenn auch anonymes – literarisches Denkmal gesetzt hat. Es gibt hübsche Erfindungen: Der Erzähler berichtet vom Besuch des Jungen bei seiner großen Liebe, die bereits in einer WG lebt. Holonics zieht seinen roten Schlabberpulli aus und tanzt, Brücker singt einen emphatischen Song über den Kuss. Dass es dabei nicht bleibt und explizit vom „Schamglied“ die Rede ist, gefällt nicht jedem Siegener im Publikum. Trotzdem ist die Szene in ihrer angedeuteten Sinnlichkeit gelungen. Was der Inszenierung indes fehlt, ist eine Fokussierung auf eine bestimmte Idee – beispielsweise auf den utopischen Raum, den Juttas Bude mit ihren Räucherstäbchen, der Picasso-Friedenstaube und den Topf pflanzen für den verliebten Jungen symbolisiert. Die Aporien eines (verfrühten) ersten Sexualakts sind dabei eher nebensächlich, es geht um weit Größeres. Um Politik und eben um Utopie mit allem Pathos des Begriffs. Der nackte Dachboden als Resonanzraum kann eine solche Transzendenz-Aura nicht erzeugen.

Sei’s drum, den Versuch war es wert. Das Apollo-Theater ist auch für die „Große Liebe“ fast ausverkauft. Und wenn „Die (s)panische Fliege“ fliegt, dann fliegt sie nicht nur. Dann tanzt im Apollo der Bär. //

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