Neue Räume, neue Dramaturgien / digital
Ein Gespräch zwischen Georg Kasch, Jana Zöll, Anna Wagner und Marion Siéfert
von Marion Siéfert, Jana Zöll, Anna Wagner und Georg Kasch
Erschienen in: Recherchen 165: #CoronaTheater – Der Wandel der performativen Künste in der Pandemie (08/2022)
Assoziationen: Dramaturgie Dossier: Digitales Theater
Georg Kasch: Seit einem Jahr klicken wir uns alle durch Streams und Online-Formate. Wenn man Glück hat, ist das solides bis gut abgefilmtes Theater. Wenn man Pech hat, dann scheppert der Ton, die Gesten der Spieler*innen sind zu groß für die Kamera und alles, was einem im Saal schon stören würde, nervt vielleicht doppelt und dreifach, weil es zu laut, zu verzerrt oder irgendwie seltsam ist. Die meisten Theater und Gruppen waren offenbar überfordert mit dem plötzlichen Medienwechsel während der Pandemie – aber es gab und gibt auch viele rühmliche Ausnahmen, denen es gelungen ist, die theatertypische liveness und die Möglichkeiten des Internets zusammenzudenken. Dazu zählen auch die Arbeiten, über die wir uns heute unterhalten werden: der Zoom-Abend Challenge accepted:Ich bin der Schauspielerin, Tänzerin, Autorin und Inklusionsberaterin Jana Zöll; Manila Zoo, eine Produktion der philippinischen Choreografin Eisa Jocson, die von Anna Wagner, Dramaturgin am Frankfurter Künstlerhaus Mousonturm, betreut wurde; und die hybride Instagram-Bühnen-Inszenierung _jeanne_dark_ der französischen Autorin, Regisseurin und Performerin Marion Siéfert. Zunächst mal eine große Frage am Anfang: Was ist für euch Theater?
Jana Zöll: Ich finde den Live-Aspekt, den du bereits betont hast, extrem wichtig, etwa im Unterschied zum Film. Aber natürlich ist diese liveness gerade jetzt beim digitalen Theater zum Teil verloren gegangen. Wenn ich an das Wort »Theater« denke, habe ich immer noch vor allem den Theaterraum im Kopf und das Erlebnis mit vielen Menschen in einem Raum, das auch so digital schwer herzustellen ist. Was ich auch wichtig finde beim Theater ist eine gewisse Abstraktions- oder Metaebene, die die performativen Künste im Vergleich zu anderen Kunstformen vielleicht ausmacht.
Anna Wagner: Ich hätte es nicht besser ausdrücken können, danke, Jana. Mein Verständnis von Theater wandelt sich jetzt im Moment der Pandemie, in Bezug auf die Erfahrung, die ich als Dramaturgin an unterschiedlichen Produktionen mache, aber die liveness, die leibliche Ko-Präsenz, ist zweifellos ein wichtiger Aspekt. Nun ist die Frage, wie unmittelbar kann diese Ko-Präsenz sein? Können bestimmte Matrizen oder Folien zwischen unterschiedliche Akteure gezogen werden, wie zum Beispiel eine Leinwand? Das ist eine Frage, die sich mir gerade auch in der Arbeit von Manila Zoo stellt. Für mich als jemand, der stark aus dem Tanz argumentiert oder denkt, ist das Theater auch ein Schauraum und ein Erfahrungsraum, ein Raum der Affektionen und des Affiziert-Werdens, und das sind Aspekte, die mich gerade auch in der aktuellen Krise mit Blick auf die digitalen Formate beschäftigen.
Georg Kasch: Genau. Ich habe früher in meinem Studium der Theaterwissenschaft noch gelernt, dass sich Theater durch »leibliche Ko-Präsenz« auszeichnet, also dass Performende und Publikum gemeinsam in einem Raum sind, und durch die »autopoietische Feedbackschleife«, eines meiner Lieblingswörter von Erika Fischer-Lichte, also allein dadurch, dass sie im gemeinsamen Raum atmen, sprechen, rascheln, lachen und klatschen, einander beeinflussen können. Gibt’s das auch im Internet?
Jana Zöll: Kann es geben. Ich glaube, es wird sich immer anders anfühlen als in einem nicht-virtuellen, realen gemeinsamen Raum, aber man kann auch im Internet ein Miteinander-Sein und Einander-Beeinflussen kreieren. Da gibt es sicher auch noch viele Möglichkeiten, das herauszufinden, wie, und es gibt halt so die ersten Ansätze dazu.
Anna Wagner: Ich finde es eigentlich interessant, dabei zu überlegen, wie diese Feedbackschleife im Theaterraum funktioniert und wie stark der Raum, den wir teilen, auch die Art und Weise dieses Feedbacks beeinflusst. Selbst jetzt während unseres Gesprächs hier auf Zoom funktioniert diese Feedbackschleife bis zu einem gewissen Grad, also wir haben das Gefühl, dass wir miteinander kommunizieren und aufeinander reagieren. Das Interessante im Digitalen sind einerseits die sogenannten glitches, die technischen Fehler, andererseits vielleicht auch unser Unvermögen, bestimmte Emotionen zu lesen: Der Fokus liegt jetzt viel stärker auf der Mimik und auf dem Gesichtsfeld, sodass ich das Gefühl habe, dass man in Bezug auf diese Medialität diese autopoetische Feedbackschleife nochmal neu denken müsste, inklusive der technischen Störungen – aber die gibt es natürlich auch im Theater.
Georg Kasch: Manila Zoo, eine Arbeit der Choreografin Eisa Jocson und der Komponistin Charlotte Simon, ist ein Hybrid aus einerseits fünf Performer*innen, die aus den heimischen Wohnzimmern heraus streamen und gleichzeitig in Kacheln auf einer Leinwand projiziert werden. Auf der anderen Seite findet sich ein Publikum, das leibhaftig da versammelt ist. Warum wurde diese Performance so konzipiert, warum nicht einfach im Netz?
Anna Wagner: Eisa Jocson ist schon längere Zeit assoziierte Künstlerin bei uns am Mousonturm. Seit 2017 arbeitet sie an einer Serie, die sich mit Politiken der Repräsentation in der Unterhaltungsindustrie beschäftigt und das stark aus ihrer philippinischen Perspektive heraus. So geht sie etwa der Frage nach, welche Rollen philippinische oder Körper of colour im Theater eigentlich spielen und wie sie dargestellt werden. Eisa ist in Manila ansässig und produziert ihre Projekte vor allem dort, aber gleichzeitig ist sie sehr stark mit Theatern des sogenannten globalen Nordens verbunden. Manila Zoo war schon seit Längerem geplant. Wir wollten uns mit den Tierfiguren im Disney-Imperium auseinandersetzen, die zum Beispiel in Disneyland Hong Kong vor allen Dingen von philippinischen Performer*innen verkörpert werden, während die Prinzess*innen und König*innen, mit denen sich Eisa in zwei früheren Stücken auseinandergesetzt hat, hauptsächlich von japanischen und US-amerikanischen Performer*innen dargestellt werden, also von weißen Performer*innen. Die Grundidee war, das Theater als Schauraum mit dem Zoo als Schauraum zu verbinden, also die Käfige, die Disneywelt und das Theater miteinander in Kontakt zu bringen. Es war ursprünglich geplant, ein normales Bühnenstück zu produzieren, aber dann saßen wir im Frühjahr 2020 plötzlich im Lockdown zu Hause und haben angefangen, über Zoom zu proben. So kam die Idee, das einmal auszuprobieren, was es heißt, wenn die Performer*innen in ihren Wohnungen auf den Philippinen spielen und das Publikum – das sich damals für die Uraufführung in Taipeh schon wieder im Theater versammeln durfte – dort sitzt, und gleichzeitig zum Beispiel das Technikteam von Singapur arbeitet. Dabei haben wir gemerkt, dass diese Auseinandersetzung mit dem Schauraum, mit der Frage, wer eigentlich guckt, wie, auf wen und wann, durch dieses Dispositiv nochmal viel zugespitzter und vielschichtiger zu erfahren war. Und dass auch viel mehr über diese Frage erzählt wird, was es für Performer*innen von den Philippinen heißt, Teil dieses internationalen Gastspiel- und Koproduktionsbetriebs zu sein, und was es für mich als deutsche Zuschauerin heißt, diese philippinischen Körper anzugucken.
Georg Kasch: Das Interessante ist ja, dass sich das auch ästhetisch einlöst. Denn wenn man diese kleinen Zoom-Fensterchen sieht, in denen die Tänzer*innen sitzen und herumtigern, und die Enge wahrnimmt, die sich dabei überträgt, dann ist das ja auch eine ästhetische Übertragung des Lebens in einem Käfig: Es geht ja einerseits um Disney-Figuren, die Tiere vermenschlichen, und gleichzeitig um Menschen, die wie Tiere ausgebeutet werden, und das hat wiederum diese Zoohaftigkeit in den Kacheln. War das geplant oder hat sich das ergeben?
Anna Wagner: Dieses Layout des Bildes ist durch die Situation entstanden. Wir arbeiten mittlerweile mit Vmix, einem VJay-Programm, bei dem die Bilder irgendwann anfangen, sich zu bewegen und somit das klassische Zoom-Layout verlieren. Die Zuschauer*innen werden dann im Saal zusätzlich abgefilmt mit einer Live-Cam aus unterschiedlichen Perspektiven und das Stück endet mit einem Bild, auf dem man sieht, wie wir eigentlich in diesem Covid-konformen Pattern sitzen, mit 1,5-Meter-Abstand. Da stellt sich die Frage: Sind wir nicht eigentlich im Theater genauso eingesperrt wie im Zoo? Oder haben die Performer*innen in Manila nicht sogar eine andere Form von Freiheit, weil sie sich körperlich viel stärker ausagieren können?
Georg Kasch: Erstaunlich ist ja, dass sich trotz der räumlichen Distanz der Performer*innen immer wieder eine große Synchronizität ihrer Bewegung ergibt.
Anna Wagner: Dadurch, dass es alles Performer*innen sind, die körperlich arbeiten, sind die einfach fähig, diese periphere Wahrnehmung anzuwenden, und das ist sehr präzise, körperlich gearbeitet. Wir arbeiten an dem Projekt schon seit einem Jahr, sodass wir wirklich immer wieder geguckt haben, wie wir diese Synchronizität herstellen können. Manchmal entstehen aber auch diese glitches, von denen ich gesprochen habe, geplant oder ungeplant, und das macht eigentlich diese Unsicherheit aus, die auch in Bezug auf liveness und Feedbackschleife besonders interessant wird.
Georg Kasch: Jana, du hast deine Performance Challenge accepted – ich bin in deiner Wohnung entwickelt, geprobt und gestreamt. Warum?
Jana Zöll: Challenge accepted ist der Übertitel meiner Residenz am Theater der Jungen Welt in Leipzig, und diese Residenz war schon vor Corona für diesen Zeitraum ab Januar 2021 geplant. Da ich mich auch zu den »vulnerablen Personen« zähle, wie es jetzt so schön heißt, war für mich klar, dass ich auf keinen Fall im Theater arbeiten kann, sondern dass das Projekt für mich nur möglich ist, wenn ich hier von zu Hause aus arbeiten kann. Ich wollte dann ein Projekt entwickeln, das sich mit Identität beschäftigt. Und es hat sich dann so zusammengefügt, dass Fragen der Identität und der Räumlichkeiten sehr schön ineinandergriffen – so habe ich aus der Not eine Tugend gemacht.
Georg Kasch: Es handelt sich um eine Zoom-Performance, bei der alle Zuschauer*innen sichtbar sind, wie im Theater sozusagen. Da führst du unsere Blicke mit der Handkamera durchs Zimmer. Du zeigst lange Zeit nur die Spuren deines Körpers, einmal ein Gipsabdruck, einmal sieht man deinen Fuß und so weiter, und erst am Ende zeigst du dich selbst, wenn wir schon ein Bild von dir im Kopf geformt haben. Man kennt ja solche Erzählstrategien beispielsweise aus Romanen wie Philip Roths Der menschliche Makel oder Virginie Despentes’ Vernon Subutex. Da gibt es öfter Situationen, wo ein Mensch vorgestellt wird und man einen ersten Eindruck von ihm bekommt, ihn in eine Schublade einsortiert, und irgendwann muss man sich dann neu justieren, weil man merkt: Ah, der ist ja Schwarz oder Muslim, und man hat plötzlich ein ganz anderes Bild von dieser Person. Erst durch diese Neujustierung merkt man dann, wie konditioniert die eigene Wahrnehmung ist auf unsere Mehrheitsgesellschaft – also weiß, hetero, nichtbehindert. Würde diese Erzählstrategie, die du ja in deiner Performance eben auch anwendest, auch auf der Bühne funktionieren?
Jana Zöll: Diese wahrscheinlich nicht. Bei der Performance fange ich nur mit meiner Stimme an, das könnte man natürlich live auf der Bühne auch machen. Wenn ich aber auf der Bühne sichtbar bin, ist mein Körper da. Das ist auch tatsächlich für mich als Künstlerin mit Behinderung oft eine Krux, weil ich mit meinem Körper und vor allem mit dem Rollstuhl besonders sichtbar bin und direkt alle Stigmata mit auf die Bühne bringe. So ist es schwer, die Bilder, die die Menschen schon im Kopf haben, aus den Angeln zu heben. Gleichzeitig ist diese Sichtbarkeit von Behinderung natürlich etwas, womit ich auf eine andere Art auch arbeiten und spielen kann, aber diese Strategie hätte genau so auf der Bühne sicher nicht funktioniert.
Georg Kasch: Einer der tollen Nebeneffekte der während der Pandemie entstandenen Arbeiten ist, dass sie so zugänglich sind: Man braucht ein Handy, Tablet, Laptop, dazu ein stabiles Internet – was, wie wir alle wissen, ein ernsthaftes Problem ist – und los geht’s. Und man muss das Haus nicht verlassen, man muss nicht in den Bus steigen, man muss sich gar nicht darum kümmern, ob irgendetwas dagegen spricht, eine Vorstellung zu besuchen. Ist die Zugänglichkeit und die Barrierefreiheit eine Art Kollateraleffekt der Corona-Beschränkungen?
Jana Zöll: Also, da muss man sehr vorsichtig sein. Das Netztheater ist eigentlich alles andere als zugänglich. Wenn wir von »Barrierefreiheit« sprechen, dann denken wir im ersten Moment nur an die Bedarfe von Rollstuhlfahrer*innen und mobilitätseingeschränkten Menschen. So gesehen, ja: Für mich ist Netztheater oft sehr bequem, weil ich einfach schön zu Hause in meinem Bett liegen bleiben kann, aber es ist natürlich für sehbehinderte Menschen, für gehörlose Menschen, für Menschen, die sensibel auf Lichteffekte reagieren – und die Liste lässt sich ewig weiterführen – alles andere als »mal eben so barrierefrei«. Accessibility muss man wirklich mitkonzipieren in einer Inszenierung, was ich zugegebenermaßen in meinem Stück auch nicht getan habe, oder nur an den Stellen, wo es mit wenig Aufwand möglich war. Das ist in jedem Fall ein großes, weites Feld, auf dem wir alle noch lernen, experimentieren, ausprobieren können. Da geht es dann um mehr als um automatische Untertitelung, die meist fehlerhaft ist. Da geht es auch nicht nur darum, die Theater oder Theaterschaffenden auf eine aesthetics of access hin zu sensibilisieren, sondern auch die Plattformen selbst, wie Zoom und Instagram, damit sie das in Zukunft besser unterstützen und fördern.
Georg Kasch: Marion, du hast mit _jeanne_dark_ einen Soloabend entwickelt, den es in zwei Versionen gibt: live auf der Bühne vor Publikum und live auf Instagram. War diese Doppelstrategie eine Reaktion auf Corona?
Marion Siéfert: Nein, die Idee hatte ich im September 2019 und es war von Anfang an so geplant. In _jeanne_dark_ erzähle ich die Geschichte von einer sechzehnjährigen Frau, die alleine in ihrem Zimmer ist und entscheidet, live auf Instagram aufzutreten. Als ich die Performance konzipierte, interessierte mich die Form des Auftritts auf Instagram, ich wollte dieses Universum erkunden. Ich habe also angefangen, für dieses besondere Live-Format zu schreiben, und sehr früh haben wir diesen ersten Text, den ich geschrieben hatte, mit der Performerin Helena de Laurens geprobt – auf der Bühne, aber immer live auf Instagram. Für die ganze Probezeit, die über ein Jahr ging, hatten wir einen privaten Account, den wir benutzt haben, um zu proben und an den Texten zu feilen.
Georg Kasch: In _jeanne_dark_ geht es gar nicht um eine Aktualisierung der historischen Figur oder gar des Schiller-Dramas, sondern eben um diese junge Frau, die eher durch Zufall noch Jungfrau ist, die gemobbt wird, die sich jetzt in einem Live-Video auf Instagram ihren Frust von der Seele redet und so quasi zu einer Kriegerin gegen die Verlogenheit entwickelt. Auf Instagram ist nur das Gesicht beziehungsweise der Oberkörper der Schauspielerin zu sehen, und man kann als User Kommentare und Herzchen verteilen. Gab es da eigentlich Situationen, in denen Menschen auf Instagram geglaubt haben, Jeanne und ihr rant seien echt?
Marion Siéfert: Ich glaube nicht, weil man auf Instagram nicht zufällig auf ein Live stoßen kann. Es ist immer so, dass man erst mal dem Account folgen muss und dann sieht man, dass er live geht. Unser Account ist außerdem transparent – wir weisen darauf hin, dass es um ein Stück, um eine Fiktion geht. Aber interessant ist, dass die Zuschauer*innen dann viele Möglichkeiten haben, um mit Helena zu interagieren: Einige von ihnen entscheiden sich dafür, die Fiktion mitzuspielen, sie sprechen die Performerin als Jeanne an, geben ihr Ratschläge, machen Witze oder tun so, als wären sie in ihrer Klasse im Gymnasium und so weiter. Andere mobben sie, weil sie die Rolle der hater spielen wollen. Im Gegensatz zu Zoom sind User auf Instagram fast alle anonym oder haben ein Pseudonym oder jedenfalls die Möglichkeit, Fake-Accounts zu kreieren. Das ist natürlich auch ein Problem, mit dem ich konfrontiert wurde: Man trifft auf Leute, die sich hinter ihrer Anonymität verstecken und manchmal Sachen sagen, die unmöglich sind.
Georg Kasch: Wie reagierst du dann?
Marion Siéfert: Ich war ein paar Mal in der Situation, dass ich Besucher*innen des Livestreams blockieren musste, weil sie rassistische, sexistische oder homophobe Kommentare abgegeben haben. Aber leider kommen solche Menschen dann oft zurück, weil sie mehrere Accounts haben. Manchmal entschuldigen sie sich, aber manchmal benehmen sie sich noch dümmer als zuvor. Ich habe auch mit den Leuten angefangen zu diskutieren und habe Nachrichten geschrieben, um zu versuchen, irgendwie einen Dialog herzustellen, weil sie manchmal sehr jung sind und gar nicht merken, dass sie auf einer Bühne sind.
Georg Kasch: Diese Anonymität im Internet ist natürlich eine der großen Herausforderungen, denen sich Jana Zöll und Anna Wagner nicht gestellt haben, weil es im ersten Fall ein Zoom-Meeting ist, wo alle sichtbar sind, und im anderen das Publikum live ist. Ich finde es sehr interessant, dass du diese Publikumssituation, diese Interaktion, die ja im Netz sehr viel schneller möglich ist, darüber geholt hast und dass tatsächlich ein Gespräch zwischen Publikum und Performer*innen erfolgen kann. Aber das ist ja auch nur eine Sache, auf die man neu reagieren muss. Was verändert sich denn eigentlich in der Arbeit, wenn man Theater fürs Netz entwickelt? Das war ja vermutlich für euch alle relativ neu, oder?
Anna Wagner: Für mich war das sehr neu und ich hätte auch nie gedacht, dass ich mich so dafür begeistern würde. Ich habe überhaupt nie meine Nutzung von Online-Plattformen mit meiner Arbeit im Theater zusammengedacht. Natürlich habe ich immer mitbekommen, dass das einige wenige Gruppen auch erforschen, aber ich gehörte zu den Menschen, die dachten, Theater muss exklusiv live sein, und habe nie einen Grund gesehen, diese digitalen Arbeiten zu machen. Aber jetzt durch die Arbeit mit Eisa ist mir bewusst geworden, dass diese Digitalität natürlich schon vor Covid unser Leben und unsere Wahrnehmung stark geprägt hat, und dass für mich eine der großen Herausforderungen darin liegt, zu verstehen, wie digitale Wahrnehmungsdispositive funktionieren. Das ist auch räumlich sehr faszinierend: Bei Manila Zoo sitzt die technische Leitung in Singapur, die Performer*innen sitzen in Manila, ein Performer ist auch in Brüssel, die Komponistin sitzt so wie ich in Frankfurt, und der Lichtdesigner in Brüssel. Wie können wir über unsere Erfahrung im Raum sprechen, wie bauen wir eine Vertrauensbasis auf? Und wie wird das auch technisch kontrollierbar?
Marion Siéfert: Bei mir war die größte Herausforderung, einen Bühnentext so zu schreiben, dass er gleichzeitig für die Oralität und liveness des Theatermediums und für Instagram Live angemessen ist. Es ging mir nicht darum, eine echte Live-Situation nachzuahmen, sondern im Text die Tatsache zu reflektieren, dass eine Performerin vor ihrem Handy spielt. Für mich war das sehr aufschlussreich, weil ich gemerkt habe, dass mein Text viel weniger narrativ und viel mehr dialogisch sein musste, damit Helena einen größeren Spielraum haben kann. Für uns beide war es einfacher, zwei Inszenierungen zu konzipieren und die Show gleichzeitig im Theater und auf Instagram zu zeigen, sodass auch beide Aufführungsformate für beide Publika funktionieren. Einerseits ist das Stück sehr theatral, mit seinen grotesken und manchmal übertriebenen Zügen; andererseits aber mussten wir mit filmischen Techniken arbeiten, mit Rahmen oder Ausschnitten, mit Kamerapositionen, die sehr präzise sind und ihren Bewegungen folgen mussten. Und natürlich war auch die Interaktion mit den live Zuschauenden auf Instagram eine riesige Herausforderung, weil Helena Improvisationsstrategien entwickeln musste, damit die Kommentare des Publikums eher als Motor fungieren denn als Stressfaktor. Manchmal ist das extrem witzig und auch das Saalpublikum lacht. Die Schauspielerin muss einfach weitermachen und weiß nie genau, was passieren kann, weil sie natürlich die Live-Kommentare nicht kontrollieren kann.
Georg Kasch: Jana, was hat sich bei dir verändert in der Arbeit im Netz?
Jana Zöll: Eine unserer Hauptfragen war, wie stellt man eine Interaktivität her. Ich habe an einer Stelle mit Breakout-Sessions gearbeitet, wo sich zwei Menschen in einem virtuellen Raum begegnen und sich in die Augen schauen sollen, wobei das ja über dieses Medium nicht so wirklich funktioniert. Es war aber ganz spannend, die Rückmeldung zu haben, dass die Leute trotzdem in irgendeine Resonanz gegangen sind, ganz ohne Worte. Eine weitere Herausforderung für mich war, dass alles in meinem Zwanzig-Quadratmeter-Zimmer stattgefunden hat. Ich habe hier in der Zeit privat gelebt, ich habe hier geprobt, ich habe hier gespielt – und es ging die ganze Zeit auch thematisch um meine Identität. Es gab also wenig Möglichkeiten, auch mal Abstand von mir zu nehmen, und es war vielleicht tatsächlich auch eine künstlerische Entscheidung, das eben nicht anonym auf einer Plattform zu machen, da ich ja in dem Sinne nicht in eine Rolle schlüpfe, sondern mich wirklich direkt dem Publikum aussetze.
Georg Kasch: Was ist denn die größte, vielleicht auch die überraschendste Erkenntnis am Theater im Netz?
Anna Wagner: Vielleicht, dass man in dieser Form arbeiten kann und dabei auch noch mal viel über das Theater und vielleicht auch über seine mögliche Zukunft versteht. Es wird ja jetzt immer wieder darüber gesprochen, wie es sein wird, wenn wir wieder ins Theater zurückkehren. Heißt das, wir ignorieren alles, was sich in der Pandemie entwickelt hat? In Bezug auf Manila Zoo gibt es interessante Reaktionen von Koproduzent*innen, die uns sehr unterstützt haben bei der Entscheidung, dieses Projekt weiterhin hybrid zu entwickeln. Als dann aber klar wurde, dass das Stück unmittelbar nach der Wiedereröffnung der Theater dort gezeigt werden würde, waren sie doch auf einmal zögernd und haben gesagt: »Vielleicht ist das nicht das richtige Stück für den Anfang nach der Wiedereröffnung, weil die Leute ja jetzt Lust auf echte Körper haben.« Die Realität ist für uns aber eine andere. Covid hat sehr unterschiedliche Zeitlichkeiten in unterschiedlichen Ländern. So ist es für Performer*innen von den Philippinen schwierig, überhaupt mobil zu sein und in Europa einzureisen, obwohl das in Zukunft sicher wieder gehen wird. Alejandro Ahmed, ein Choreograf aus Brasilien, mit dem wir arbeiten, hat einmal gesagt, dass das Theater eigentlich immer ein elitärer Ort der Präsenz gewesen ist. Man sollte unbedingt Wege finden, mit dieser Exklusivität zu brechen. Als Dramaturgin und Kuratorin, die das Programm im Theater mitgestaltet, frage ich mich: Wie viel Platz geben wir zukünftig diesen digitalen Formaten? Wie viele Ressourcen gibt es dafür und wie bringt man die unterschiedlichen Realitäten zusammen, die eigentlich immer schon eine war?
Jana Zöll: Für mich war es sehr spannend zu merken, dass diese zwischenmenschliche Resonanz auch über das Internet funktioniert, wenn man sich wirklich die Zeit und die Konzentration darauf nimmt. Und gleichzeitig habe ich trotzdem das Gefühl, das Netztheater wird nie dasselbe sein wie diese Körperlichkeit, die man miteinander in einem Theaterraum hat. Da bleibt einfach trotzdem etwas, das ich persönlich vermisse, vor allem als Performerin.
Marion Siéfert: Als wir in Frankreich zum zweiten Mal einen Lockdown hatten und nur auf Instagram spielen durften, habe ich festgestellt, dass es für mich gar nicht geht. Ich habe wirklich gemerkt, an welchen Stellen ich den Raum des Theaters vermisse und dass es auch für die Leute, die die Performance auf Instagram verfolgt haben, einfach anders war. Sie hatten plötzlich nicht mehr die Vorstellung, dass es einen dritten Raum gibt, den Raum des Theaters, der irgendwie auch ein Spiegel für ihren eigenen privaten Raum ist, was mir sehr wichtig war. Und für das Publikum auf Instagram war es natürlich wichtig zu hören, dass sie auf einer Bühne sind und dass es auch Leute gibt, die zusammensitzen und gemeinsam lachen, dass sie die Performance auch physisch erleben.
Anna Wagner: Ich habe das Gefühl, dass gerade bei hybriden Formaten wie dem Stück von Marion oder auch von Eisa eine spannende Balance entsteht zwischen dem Theaterraum, der als Schaudispositiv sehr stark kulturell verankert ist, und den digitalen Medien, die eine andere Wahrnehmungsweise eröffnen. Wenn ich mir zum Beispiel Manila Zoo als relativ konventionelle Zuschauerin ansehe, habe ich das Gefühl, dass Theater durch diese Vielschichtigkeit von Wahrnehmungsräumen noch viel stärker etwas über die Komplexität meines Lebens erzählt.
Georg Kasch: Bevor wir schließen, eine letzte Frage. Man hört ja überall, sowohl von Zuschauer*innen als auch von Theaterschaffenden: »Wenn Corona wieder vorbei ist, dann will ich nie wieder Internet sehen, dann will ich ins Theater gehen, live Theater gucken.« Wie ist denn eigentlich euer Eindruck: Sind Netztheaterformen eine aktuelle Notlösung, die bald wieder verschwinden wird, oder ist es das Theater der Zukunft?
Jana Zöll: Für mich ist es eine schöne Ergänzung. Das hat auch Potenzial, eine eigene Kunstform zu werden. Ich finde zum Beispiel dieses Spielen mit Grenzübergängen zwischen Theater und Experimentalfilm, zwischen Theater und Computerspiel sehr spannend. Aber ich persönlich fände es sehr schade, wenn das irgendwann die einzige Theaterform wird, davon wäre ich gar kein Fan.
Marion Siéfert: Für mich als Künstlerin geht es immer darum, welche Realität ich auf die Bühne bringen will. Dieser digitale Raum ist schon ein Teil unserer Realität: Wir benutzen diese Medien täglich, um zu kommunizieren, um uns zu informieren; sie beeinflussen uns, ohne dass wir das merken. Und ich glaube, man braucht einfach Reflexionsräume, in denen man über diese Realität nachdenken kann. Bei der Aufführung meines Stücks auf Instagram war es sehr spannend zu sehen, dass ich neue Zuschauer*innen hatte, die auch sehr jung waren, und dass mir diese Plattform einen Zugang zu einem anderen Publikum ermöglicht hatte. Das war interessant, aber zur gleichen Zeit war das nicht das Instagram, das sie kannten, weil Helena im Stück nicht ihr best life inszeniert, sondern auch beängstigende und unheimliche Aspekte ihrer Figur zeigt. Wir wurden auch von Instagram zensiert, weil die Performerin ihren Busen angefasst hatte. Wir hatten bei der Vorbereitung des Stückes vergessen, dass Instagram diese strengen Regeln hat. Auch mit den Musikrechten war es tricky: Man darf nicht alles machen wie im Theater. Da muss man schlau sein und Lösungen finden. Ich glaube, dass es auf jeden Fall gut ist, wenn Theater andere Medien kontaminiert. In meinem Projekt fühle ich mich wie ein kleiner Pirat auf Instagram und ich versuche, etwas anderes aus diesem Medium zu machen.
Anna Wagner: Ich glaube, in der Hybridität liegt die Zukunft, oder ich hoffe es, weil es Teil unserer Lebenswelt ist, wie Marion betont hat. Und ich finde gerade toll, dass nicht nur diese Ästhetik der sozialen Medien ins Theater geholt wird, sondern dass ich auch Theaterzuschauerin sein kann, ohne im Theater zu sitzen, aber das Theater als Dispositiv trotzdem noch da ist. Ich glaube aber, dass die Hauptaufgabe bei den Institutionen liegt, diese Möglichkeitsräume auch der weiteren Erforschung zu schaffen.
Georg Kasch: Vielen Dank für das Gespräch.