Auftritt
Mannheim: Kopfkino mit Cecil
Nationaltheater Mannheim: „Cecils Briefwechsel. Ein Post-Drama“ von Sapir Heller, Lena Wontorra und Ensemble nach „Gott Vater Einzeltäter – Operation Kleist“ von Necati Öziri
von Björn Hayer
Erschienen in: Theater der Zeit: 75 Jahre Theater der Zeit – Ein Jubiläumsheft (05/2021)
Assoziationen: Nationaltheater Mannheim
Heinrich von Kleist reloaded, hineingeworfen in ein Jahrzehnt der Entfremdung und des Auseinanderdriftens der Gemeinschaft: Was das Nationaltheater Mannheim mit dem ungewöhnlichen Projekt „Cecils Briefwechsel. Ein Post-Drama“ unternimmt, ist so pfiffig wie schlagkräftig. Den Ausgangspunkt bildet die Erzählung „Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik“ (1810). Hierin schildert der 1777 geborene Kleist die geplante Stürmung des Aachener Doms durch vier ideologisch vernarrte Haudegen, die sich jedoch vom andächtigen Gesang der Nonnen befrieden lassen. Ausnahmsweise hat die heilige Cäcilia den Gottesdienst geleitet. Geht die verhinderte Zerstörung deswegen auf ein Wunder zurück?
Befasst sich Kleists Prosaminiatur noch mit der Spaltung der Christenheit im Zuge der Reformation, so bezieht sich die von Necati Öziri inspirierte Überschreibung der Vorlage vor allem auf die Zersplitterung der spätmodernen Gesellschaft. Auch hier sind es vier Brüder im Krawallmodus, und auch sie wollen einen Dom stürmen, in dem diesmal Pluralismus und Toleranz gefeiert werden sollen. So weit zur Geschichte. Nur wie bringt man derartige Passion und Erhitzung in Zeiten von Corona auf die Bühne? In physischer Hinsicht schon einmal gar nicht.
Saphir Heller, Lena Wontorra und das Mannheimer Ensemble haben sich daher einen findigen Coup ausgedacht, indem sie das Schauspiel schlichtweg in ein Kopfkino transformieren. Was wir ansonsten vor uns sehen würden, entsteht jetzt vor dem inneren Auge und zieht uns als Akteure sogar unmittelbar ins Geschehen hinein. Denn wir werden – der wörtlichen Lesart des „Post-Dramas“ gemäß – zu Post-Adressaten: zu Empfängern von Briefen. Niemand anderes als Cecil berichtet uns darin von den wutgeladenen Männern. Je mehr sie über deren Radikalisierung erzählt und uns Einblick in deren Dialoge und Monologe gewährt, desto stärker stellt sich die Einsicht ein, dass „Gewalt keine Klasse, keine Religion und keine Nationalität kennt. Aber sie hat ein Geschlecht, denn sie wird auffallend oft von Männern verübt.“ Richtig, denkt sich der Rezensent beim Lesen der Korrespondenz. Nur welche Rolle spielen dabei die Frauen, fragt er sich. Um zu erfahren, wie der geplante Anschlag, mithin ein Angriff auf unsere Prinzipien Freiheit und Gleichheit, ausgeht, muss er ein Antwortschreiben verfassen. Derweil darf er eine Telefonnummer anrufen, auf der er eine zum Stück passende Geräuschkulisse vernimmt. Oder er kann in den sakralen Bau sinnbildlich hineinblicken – liegt doch dem ersten Schreiben neben einigen Teelichtern und Räuchergut auch eine auffaltbare Minikirche bei.
Wovon handelt also die Replik an Cecil? Von einer provokativen Annahme, wie sie die frühe Feministin Elfriede Jelinek immer wieder veranschaulicht hat: Die Frauen erweisen sich, insofern sie den Machtansprüchen all der John Waynes dieser Erde folgen, ungewollt als Komplizinnen des Patriarchats, die potenziell auch ausbrechen könnten. Die Antwort darauf kommt schon bald und geht tatsächlich auf den individuell geschriebenen Brief ein. „Ich mag es sehr, wie du denkst“, heißt es darin, „du hast die Perspektive gewechselt und schön beschrieben, dass in der jetzigen Situation die Frauen eigentlich viel Macht haben ... Was aber viel zu wenig besprochen wird, ist die Befreiung des Mannes aus diesem System. Und das scheint mir schwieriger zu sein, weil der Mann in so einem System als ‚Unterdrücker‘ definiert wird.“
Wir erleben somit ein „Post-Drama“, das voll und ganz auch Postfeminismus bedeutet und sich angemessen komplex in den Diskurs einschreibt. Es zeigt, dass Rollenbilder von Strukturen geschaffen und zementiert werden und dass Begriffe wie Täter und Opfer nicht genügen, um der Komplexität der Gemengelage gerecht zu werden.
Viele Experimente von Theatern zeugen in diesen Tagen von eher halb garen und müden Anstrengungen. „Cecils Briefwechsel“ hingegen nicht. Diese Stückentwicklung überzeugt durch ihre Intimität und Gegenwärtigkeit. In der spannenden Korrespondenz entsteht eine parabelhafte Welt, jenseits der Pandemie. //