Repertoirebildung
Repertoirebildung
von Herbert Jhering
Erschienen in: Theater der Zeit: Menschliche und künstlerische Persönlichkeit (10/1946)
„Nichts leichter, als heute Spielpläne aufzustellen!“ mögen viele denken, die die Fülle der Werke überblicken, die von allen Ländern auf die Theater einströmen. Wenn es nur auf die Zahl der brauchbaren, der wirksamen, der interessanten Schauspiele ankäme, dann hätten diese Stimmen recht, und es gäbe keine dankbarere Aufgabe, als die Bühnen in diesem Winter mit Stücken zu versorgen.
Aber - was die Auswahl zu erleichtern scheint, gerade das erschwert sie: die Zusammensetzung des deutschen Publikums. Es ist gemeinsam durch die Hölle der zwölf Jahre gegangen, es hat den Krieg und in den großen Städten Hunderte von Luftangriffen durchgemacht. Und trotz der Gemeinsamkeit von Erlebnissen, die eingreifender, umschmelzender, revolutionärer sein müssten als alles, was seit Hunderten von Jahren auf die Menschheit eingestürmt ist, bleibt dieses Publikum zerspalten oder wenigstens uneinheitlich. Denn dieses Erlebnis traf auf Generationen so verschiedener Bildungs- und Erziehungsstufen, dass die Gemeinsamkeit wieder aufgehoben wurde. Es ist hier nicht der Grad der Bildung gemeint, nicht ein Mehr- oder Wenigerwissen, nicht Volksschule, Gymnasium oder Universität. Denn selbst in der Klassenschichtung der wilhelminischen Zeit umfing den Volksschüler und den Akademiker immer noch ein letzter Hauch jenes Humanismus, der die klassische deutsche Dichtung zu einem europäischen Ereignis gemacht hatte.
Jetzt aber, nach...