Theater der Zeit

Puppe50 – Was war? Was ist? Was wird?

Ein Prolog

von Jörg Lehmann

Erschienen in: Puppe50 – Fünf Jahrzehnte Puppenspielkunst an der HfS Ernst Busch Berlin (12/2023)

Assoziationen: Open Access Puppen-, Figuren- & Objekttheater

FÜNF. Stückentwicklung mit Lina Mareike Wolfram und Seth Tietze – herzlich willkommen zu „Puppe50 – Was war, was ist, was wird“!
FÜNF. Stückentwicklung mit Lina Mareike Wolfram und Seth Tietze – herzlich willkommen zu „Puppe50 – Was war, was ist, was wird“!Foto: Barbara Braun / MuTphoto

Anzeige

Eine solche künstlerische Haltung, gekennzeichnet durch Demut gegenüber der Dingwelt, die uns umgibt, nenne ich eine innere Fähigkeit, die in der besonderen Wachheit und Begabung der Spielerpersönlichkeit wurzelt. Jener Wachheit, mit der sie die Dingwelt, ihre Formen und ihre Botschaften wahrnimmt und für die Zuschauer übersetzt.
(Konstanza Kavrakova-Lorenz, Professorin für Puppenspielkunst)

Es ist Sommer 1972. Die Staatliche Schauspielschule Berlin bekommt erstmals Zuwachs. Der Studiengang Puppenspiel wird geboren: ein methodisches, kultur­politisches, vor allem aber künstlerisches Experiment.

Im Zentrum dieses komplexen Unterfangens steht seit nunmehr fünfzig Jahren die Beherrschung des Handwerks der Animation verschiedenster Materialien, Puppen und Objekte – und die Förderung einer eigenen künstlerischen Sprache. Nach dem Pilotprojekt eines Zusatzstudiums ab 1970 unter Leitung von Annemarie Esper und Heinz Hellmich, die beide ihre Wurzeln im Schauspiel hatten, wurde 1972 mit Hartmut Lorenz, Absolvent der Akademie der musischen Künste Prag, ein Fachmann mit dem Aufbau eines Curriculums für eine Fachrichtung Puppenspiel betraut. Der legte die ästhetischen Maßstäbe hoch:

Puppenspielkunst soll in ihren vielfältigsten visuellen Repräsentationen eine Weiterentwicklung des Schauspiels durch Ersetzen des lebendigen menschlichen Körpers sein, ohne seine Abwesenheit zu bewirken!
(Hartmut Lorenz, Professor für Puppenspielkunst)

Die Gründung eines Studiengangs für Puppenspielkunst ist zu diesem Zeit­punkt an einer Schauspielschule im deutschsprachigen Raum einmalig und bleibt es auch im ersten Jahrzehnt. Der künstlerische Impuls einer Handvoll Studierender und Lehrender des Studiengangs Schauspiel führte zur Befürwortung von offizieller Seite, die offenbar einen Bedarf erkannte. Ein Glücksfall.

Ein maßgeblicher Anstoß für die Wertschätzung des Puppenspiels und damit für die Gründung einer solchen Ausbildungsstätte in der DDR war sicherlich die Tournee von Sergei Obraszow 1950 / 51, der mit seiner Kunst die Säle zwischen Rostock und Dresden füllte. Sein artistisches Können inspirierte die Theaterszene und erschien zugleich als zitierfähiger Referenzpunkt für die Relevanz dieser Kunstform in der noch jungen Republik. Die entstehenden kommunalen Puppentheater und Puppensparten an den Theaterhäusern verlangten nach professionellem Nachwuchs. Dem sollte mit der Einrichtung der Fachrichtung entsprochen werden.

Eine Ironie der Geschichte ist, dass der russische Ausnahmekünstler und Puppen­spieler Obraszow einer akademischen Ausbildung auf diesem Gebiet zeitlebens eher skeptisch gegenüberstand.

Ein anderer Gedanke der Machthabenden war möglicherweise: Staatlich ausge­bildete Puppenspielerinnen und Puppenspieler könnten mit ihrer Kunst vor allem den sozialistischen Nachwuchs bestens formen und klassenbewusst be­einflussen. Wenn diese Vermutung zutrifft, ist das gehörig danebengegangen. Gerade die Studierenden der Abteilung Puppenspielkunst, einschließlich der hier Lehrenden, fühlten sich schon bald einem weiten Theaterbegriff, etwa dem Theater des Absurden, dem Anarchischen, dem Spielerischen, dem Sur­realen, der Poesie … weit mehr verbunden als etwa der im wahrsten Sinne des Wortes hölzernen Didaktik eines Verkehrskaspers. Versuche der Instrumentalisierung für unkünstlerische Absichten wussten die meisten der aus „der Puppe“ Kommenden mehr als einmal spielerisch zu unterlaufen.

Von Anfang an war das Diplomstudium in den zunächst drei, mit Erreichen des Hochschulstatus der Ernst Busch 1981 vier Studienjahren zweigleisig angelegt: gelehrt und erprobt wird die Animation verschiedenster Materialien sowie die Kunst der Darstellung. Noch heute manifestiert sich dies im zu erreichenden akademischen Rang: Puppenspieler / in / Darstellende/r Künstler/in – ein langer Titel. Das Spielfeld des Studiums hat sich seit seiner Gründung bis heute beträchtlich erweitert: Es reicht von der Untersuchung des genu­insten und ältesten Theatermittels, der Maske, die ihren Platz zu Beginn des Studiums hat, über das Mittel der Handpuppe, der sogenannten Tisch­puppe und der Marionette. In den Szenenstudien werden Puppen untersucht und gespielt, die, inspiriert vom japanischen Bunraku, von mehreren Spie­lenden geführt werden. Es gibt Gestaltungsprojekte, Sommerprojekte mit Studierenden der Regie, freie Projekte, Studioinszenierungen, mitunter mit Studierenden des Schauspiels. Die Grundlagen der bildnerischen Gestaltung werden in den eigenen Werkstätten der Schule gelehrt, hier kann gebaut und geforscht werden. Das Labor für Digitalität als neu geschaffenes Experimentierfeld für die gesamte Hochschule ist in der Puppenspielkunst verankert und wartet darauf, entdeckt zu werden.

Zurück zum Beginn und Aufbruch. An den Schauspielhäusern entstanden Puppen­sparten und es wurden Theaterhäuser für Puppenspiel gegründet. Die Liste ist lang: Neubrandenburg (das 2001 leider einer äußerst naiven Kulturpolitik zum Opfer fiel), Erfurt, Halle, Dresden … Überall prägten und prägen Absolvierende der Abteilung das künstlerische Schaffen und setzten Maßstäbe. Die Liste der Namen, die hier studierten und dann an den Häusern spielten oder inszenierten, auch an die Schule zurückkehrten, um zu lehren, ist lang. Peter Waschinsky etwa ist ab 1976 künstlerischer Leiter in Neubrandenburg. Durch den Erfolg seiner Regie- und Soloarbeiten auch über das kleine Land hinaus hat der Name der Stadt, sonst eher weniger als Sehnsuchtsort bekannt, noch heute einen legendären Klang innerhalb der Szene. Später wird das Puppentheater unter der Leitung von Knut Hirche weitergeführt. Christoph Werner, Autor und Regisseur, eine der vielen Mehrfachbegabungen in diesem Metier, leitet seit 2011 das Puppentheater Halle, das in der Szene Maß­stäbe setzt. Viele, viele andere wären zu nennen.

Was die Arbeit und die Kunst der Absolvierenden der „Puppe“ auszeichnet, ist die Breite dessen, was untersucht, erforscht, erschaffen, künstlerisch hinterfragt wird. Diese Kunstform ist – im wahrsten Sinne des Wortes – nicht zu fassen. Sie bewegt sich notwendig und selbstverständlich zwischen den darstellenden und den bildenden Künsten, sie arbeitet mit Literatur oder ganz ohne Sprache, sie lebt von der Verführung der Aufmerksamkeit des Publikums auf den eigenen Körper oder auf ein Ding, ein Objekt – und von der bewussten Umkehrung dieser Wahrnehmung. Sie hat nicht den einen Referenzpunkt, weder künstlerisch noch örtlich. Sie ist eine Kunst ohne Zentrum und zugleich keinesfalls voraussetzungslos. Aus den beschriebenen Anfängen, der künstlerischen Initiative einer kleinen Gruppe von Schauspielstudierenden und ihrer Lehrenden, den eigenen Körper als Darstellungsmittel um ein Instrument zu erweitern, ist eine eigene, weit gefächerte Darstellungsform geworden: das Theater der Dinge.

Prägend für die Lehre an der BUSCH waren u. a. Horst Hawemann, dem ein basaler Ansatz in der Improvisationsarbeit zu verdanken ist, der schon genannte Peter Waschinsky, maßgebend in der Untersuchung und Vermittlung von Puppenspieltechniken für Marionette und Handpuppe. Konstanza Kavrakova-Lorenz, die Wesentliches zur Theoriebildung beitrug, Hartmut Lorenz mit den grundlegenden Seminaren zur Animation von Puppen und Material und dem Lehrangebot „Geschichten erzählen“. Hans-Jochen Menzel durch seine Wiederentdeckung und Weiterentwicklung des Handpuppenspiels und seine schier endlose Kraft und Langmut in der Förderung des Nachwuchses. Die schon erwähnten Werkstätten werden geführt von Ingo Mewes, Karin Tiefensee hat hier über viele Jahrzehnte die bildnerischen Gestaltungslehre geprägt. Nicht zu vergessen Regina Menzel, die unter dem nüchtern anmutenden Lehrangebot „Puppen­führungstechnik“ eine ganze gedankliche und methodische Welt vereint und Generationen von Studierenden nahebringt.

Und immer wieder Zerreißproben, die bei einem solchen künstlerischen und methodischen Spagat nahe liegen: Wie viel Puppe braucht das Puppenspiel? Ist das nun zu viel Schauspiel? Früher war mehr Puppe …! Bilden wir für Schau- oder Puppenspiel aus? Konstanza Kavrakova-Lorenz hat darauf bereits 1994 in ihrem Aufsatz „Schauspieler und / oder Puppenspieler?“ die einfache und bis heute radikale Antwort gegeben: „Die Ausrichtung seiner Konzentration ist vielschichtiger als beim Schauspieler; aber deshalb muss er sicherer Schauspielen können. Umso sicherer muss er die Quelle seines Produzierens im Griff haben.“

Hans-Jochen Menzel, seit 2003 Leiter der Abteilung, öffnete das Feld noch weiter. Schon während des Studiums wurde mehr und schneller „draußen“ gespielt, was nicht unumstritten war. Ab 2013, nach erfolgreicher Leitung der Puppensparte am Theater Junge Generation Dresden, übernahm der Schweizer Regisseur Markus Joss. Dieser verbindet seitdem eine kommunikative und bedachte Leitung der Abteilung mit Theoriebildung (Mitherausgeber „Theater der Dinge“ 2016) und innovativen Regiearbeiten; 2021 entwickelte er mit Studierenden „Creatures Hill“, ein groteskes Spiel mit Puppen und Masken, das Maßstäbe setzte. Der Einbruch des Digitalen in die Theaterwelt und so auch die Puppenspielkunst eröffnete dem Kollegium im fünften Jahrzehnt der Lehre einen neuen Raum, der von Anfang an künstlerisch und methodisch umstritten war. Nach Versuchen, das neue Theatermitel der Digitalität in den Diplomstudiengang zu integrieren, erfolgte dann 2018 die Gründung des Masterstudiengangs „Spiel & Objekt“ mit derzeit 6 Studierenden pro Jahrgang, Aufnahme alle zwei Jahre, unter dem Dach der Abteilung. Seit der Spielzeit 2019/20 beherbergt eines der größten Häuser des Landes, das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen, eine neue Sparte: Puppentheater. Geleitet und mit Leben erfüllt von Studierenden und Absolvierenden der Abteilung, mit Programmen im Kleinen Haus ebenso wie auf der (dort tatsächlich) großen Bühne: „The Black Rider“ in der Regie von Prof. Astrid Griesbach feierte im September 2020 Premiere. Und der bis dahin im Theater der Dinge eher unterversorgte Pott staunte, ein immer wiederkehrendes Phänomen in den Zuschauerräumen der Theater beim Erstkontakt mit dem Metier.

Ob Handpuppen, Tischpuppen, digital hergestellte Objekte, Klappmaul, Schatten oder Marionetten theatrale Vorgänge konstituieren – immer entsteht Theater. Ein Theater, in dem die Spielenden ein Ding in den Mittelpunkt der theatralen Kommunikation stellen, ohne dabei selbst zu verschwinden. Mehr noch, es agieren immer mindestens zwei Subjekte, nie ist der spielende Mensch nur Maschinist. Und vielleicht ist diese komplexe Form der Dar­stellung eben gerade deshalb auf der Höhe der Zeit, auch weil sie mit den Mitteln der Fragmentierung der Körper, der Überhöhung, der Anarchie und der Groteske versucht, etwas über unsere fragile Gegenwart zu erzählen.

Alles begann im Sommer 1972. Fünfzig Sommer später feierte die Ernst Busch mit derzeitigen und ehemaligen Studierenden und Lehrenden, mit Freun­dinnen und Freunden, Kollegen und Nachbarn das Jubiläum des ersten Studiengangs für ein Theater der Dinge im deutschsprachigen Raum. WAS WAR, WAS IST, WAS WIRD? Unter diesem Motto stand das dreitägige Fest vom 8. bis 10. Juli 2022 am sich immer noch neu anfühlenden Standort der Hochschule in Berlin-Mitte: mit Gesprächen, Begegnungen und natürlich Theater: Theater der Dinge in den unterschiedlichsten Spielarten.

Der erste Tag begann mit Aktionen im öffentlichen Raum und einem Lauf mit Puppen, Masken und Objekten zur Hochschule. Dort ging es weiter mit spektakulären Überraschungen draußen und dann drinnen: Unter dem Motto WAS WAR? gestalteten befreundete Theater und Gruppen ein Programm auf den zwei großen Bühnen und im gesamten Haus. Der zweite Tag stand ganz im Zeichen der Gegenwart und stellte die Frage WAS IST? Er wurde von den Studierenden in Kollaboration mit Studierenden aus Budapest und Stuttgart gestaltet. Und der dritte Tag beschäftigte sich mit dem WAS WIRD?: Es wurde über die Zukunft des Studiengangs und des Theaters der Dinge diskutiert und auf den Bühnen und in Foren spielerisch Ideen, Visionen und vor allem Wünsche formuliert. Und auf denen bestehen wir nun. Ein Ergebnis ist dieses Buch. Eine subjektive Bestands­aufnahme nach fünf Jahrzehnten Forschung und Ausbildung in Wort und Bild. WAS WAR? WAS IST? WAS WIRD? Viel Freude und Anregung beim Blättern und Lesen!

 

Weitere Bilder und Eindrücke vom Fest „Puppe50 – Was war, was ist, was wird“ 08.–10.07.2022 finden Sie hier.

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Alex Tatarsky in „The Future Is For/ Boating“ von Pat Oleszkos, kuratiert von ACOMPI für die Galerie David Peter Francis, Juni 2024, vor dem Lady Liberty Deli im St. George Terminal, Staten Island, New York