Auftritt
Hans Otto Theater Potsdam: Kühe gegen den Weltschmerz
„Serotonin“ nach dem Roman von Michel Houellebecq – Regie & Bühne Sebastian Hartmann, Licht Lothar Baumgarte, Kostüme Adriana Peretzki
Assoziationen: Theaterkritiken Brandenburg Sebastian Hartmann Hans Otto Theater

Guido Lambrecht sitzt regungslos in einem weißen Kubus auf einer weißen Bank (die Bühne selbst entworfen von Sebastian Hartmann). Er erzählt monoton vom Morgentief der Depression, von der Wirkweise des Antidepressivums. Der Ich-Erzähler in Michel Houellebecqs Roman „Serotonin“ sieht sich angesichts seines Potenzverlusts (einer Nebenwirkung des Antidepressivums Captorix) einer Krise ausgesetzt: Florent-Claude, 46 Jahre alt, fühlt sich seiner Virilität beraubt. Dabei beruht sein Selbstverständnis auf dem Kontrast zwischen seinen männlichen Gesichtszüge gemeinsam mit seiner Potenz und der Passivität seines bisherigen Lebens. Alle Beziehungen zu Frauen in seinem Leben hat er verloren, weil er nicht gehandelt hat, weil er untätig und passiv geblieben ist. Sich selbst bezeichnet er als ein Weichei, seine ganze Existenz scheint unausweichlich auf einen Moment des Scheiterns hinzulaufen.
Guido Lambrecht rezitiert den Roman in einer Mischung aus Live-Hörspiel und Endurance-Performance. Nur mit sanften Strichen verlässt sich die Fassung von Sebastian Hartmann auf den Text, folgt ihm, folgt der Erzählung des Protagonisten in einer Houellebecq’schen Welt aus Supermärkten, Tankstellen, male gaze und Pornologiken sexueller Verwertbarkeit. Hier wird nichts ausgespart, und alle Stöckchen, die der französische Skandalautor (Sodomie, Pornografie, Misogynie, Femizidphanatsie, Homophobie, Rassismus und Pädophilie) im Text hinhält, werden detailliert beschrieben und damit einfach reproduziert. Keine Kommentierung, keine Kontextualisierung.
Angereichert ist der Text um scheinbar biografische Elemente des Schauspielers, der aus seiner Familienbiografie (die Vergewaltigung der Großmutter durch russischen Soldaten, die Wehrmachtsvergangenheit des Großvaters in Stalingrad) und von seinem eigenen Versagen als Partner, Mann und Vater berichtet. Dass es sich um biografische Elemente handelt, wird im Laufe der fünf Stunden über einzelne Hinweise deutlich: geografische Verweise wie ein Elbe-Hochwasser, ein Aufwachsen in der DDR, eine Schauspielausbildung oder das Wissen darum, einem Freund im Streit bis heute nicht vergeben zu haben. Bemerkenswert bleibt der Griff, der autodiegetischen Erzählperspektive des Romans zu folgen, während Lambrecht auf sich selbst als „den Jungen“ referiert, der in seinem Leben „von Stein zu Stein“ gegangen sei. In der Perspektive auf Frauen und auf die Einrichtung der Welt als einem Ort voll Gewalt, an dem es sich nur zu behaupten gilt und der Unmöglichkeit von Gemeinschaft oder gar Glück bleibt beiden Figuren gemein. Der Schlüsselsatz, den Lambrecht wiederholt: „Wer nicht den Mut hat zu töten, hat nicht den Mut zu leben.“
Der Verschnitt des Romans mit dem scheinbar biografischen Text im hell ausgeleuchteten Setting führt zum Eindruck einer Beichte, eines Verhörs oder letztlich: einer Klinik. Lambrecht trägt einen weißen Rollkragenpullover, eine weiße, verknitterte Hose und weiße Schuhe mit geschlossener Schnürung (Kostüm Adriana Braga Peretzki). Zwei um sich selbst kreisende Männeregos also, die in einer zunehmend komplexen Welt vor allem sich selbst bemitleiden.
Und man muss sagen: Es passiert lange nichts. Das Spiel ist bestenfalls subtil. Der Brutalität des Textes steht ein zartes Spiel entgegen, genauso wie die leicht untersetzte, weiche Erscheinung Lambrechts die Kälte der Sätze konterkariert. Die einzige Verwendung von Theatermitteln beschränkt sich auf ein minimales Spiel mit der Stimme, immer, wenn es im Houellebecq’schen Text um Liebe geht. Wohlgemerkt: Liebe als eine heterosexuellen Idealvorstellung, die sich unerklärlich allem entzieht, und einem einzigen Soundeffekt bei den im Roman beschriebenen Bauernprotesten. Überhaupt: Das einzig tröstliche in dieser Welt bleiben die Kühe der gescheiterten Milchbauern, denen der Agraringenieur Florent nicht zu helfen vermag. Abgesehen davon rezitiert Lambrecht, dessen graues Haar ihm hinten in den Nacken fällt, den Text und verändert lediglich jede halbe Stunde mal seine Position auf der Bank im weißen Quader. Sobald eine Person aus dem Publikum den Saal verlässt – das monotone Erzählen wird ins Foyer der Potsdamer Reithalle live übertragen –, um in den in über fünf Stunden eine Pause zu machen, unterbricht Lambrecht sein Erzählen, schaut selbstmitleidig ins Publikum. Das Neonlicht im Saal bleibt über die ganze Dauer hell und offen.
Eine Frage bleibt: Was genau soll das? In Zeiten von protofaschistischen Männlichkeiten, in Zeiten erstarkender Autoritäten, die ein misogynes Frauenbild und damit politische Ziele verfolgen, warum eine über fünfstündige, monumentale Textperformance, die so nah am Text von Michel Houellebecq bleibt? Die Geburt des alten weißen Mannes aus dem Geiste der Geschichte? Die Erklärung für toxische Männlichkeit aus ostdeutscher Herkunft? Das wäre entweder gefährlich oder uninteressant.
Schauspielerisch ist das beeindruckend (am Ende des Abends weint Lambrecht ehrlich und stumm). Sich dem auszusetzen, was da passiert oder nicht passiert, erfordert Geduld, Durchhaltevermögen und viel Glauben an den Selbstzweck der Kunst.
Erschienen am 15.12.2025

















