Theater der Zeit

Thema

Der Rest ist Geräusch

Der Autor, Musiker und DJ Thomas Meinecke und Johan Simons, Intendant der Münchner Kammerspiele, im Gespräch über Pop im Theater und das politische Moment von Rhythmus und Klang

von Johan Simons, Thomas Meinecke und Sebastian Kirsch

Erschienen in: Theater der Zeit: Frontmann Hamlet – Der Dresdner Musiker-Schauspieler Christian Friedel (03/2013)

Assoziationen: Dossier: Musik im Schauspiel

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Die Bedeutung der Popmusik für die antiautoritären Bewegungen lag nicht in ihren Texten.“ Vielleicht kann man diesen Satz von Heiner Müller als Ausgangspunkt nehmen, um über das Verhältnis von Theater und Pop nachzudenken. Wenn man Müller folgt, dann haben Theater und Pop gemeinsam, dass ihr wesentliches, auch politisches Moment weniger auf der Ebene eines diskursiven Verstehens liegt, sondern bei Rhythmus und Klang.

Johan Simons: Ich glaube schon, dass Rhythmus und Klang sehr wichtig sind. Ich würde aber sagen, dass für die Befreiungsbewegung der Schwarzen auch die Texte eine bedeutende Rolle gespielt haben, zum Beispiel bei James Brown. Auch Hip-Hop kann man als eine emanzipatorische Bewegung ansehen, die stark auf Texten basiert. Wenn ich Holland und Deutschland vergleiche, fällt mir übrigens auf, dass man in Holland viel mehr schwarze Musik hört als hier. Das ist ein großer Unterschied, der natürlich auch mit der Kolonialgeschichte zu tun hat.

Thomas Meinecke: Afrikanische, ganz besonders afroamerikanische Musik hat ja immer wieder dadurch brilliert – und tut es nach wie vor –, dass sie Kontexte verschieben kann. Diese Musik rekontextualisiert und kann dadurch Diskurse in Räumen ablaufen lassen, in denen sie sonst nicht ablaufen würden. Letztlich wurzelt das in den Schicksalen derer, die über den Atlantik verschleppt wurden. Ich bin darum der Meinung, dass dasjenige, was der schwarzen Musik häufig attestiert wird, nämlich, dass sie so „authentisch“ sei, gerade nicht stimmt. Im Gegenteil: Sie ist die einzige oder zumindest die erste der großen Künste, die vom Nichtauthentischen spricht, von der „Dislocation“. Und dieses Moment könnte vielleicht mit Theater zu tun haben.

 

Ich habe das Müller-Zitat auch darum genannt, weil ich mich gut an Johan Simons’ Inszenierung von „Anatomie Titus“ erinnere, die das Stück übrigens wirklich auf interessante Weise verschoben und rekontextualisiert hat – das Bühnenbild zeigte das Innere eines Flugzeugs. Zugleich wurde hier aber eben auch, so war mein Eindruck, stark an Klang und Rhythmus der Sprache gearbeitet, vielleicht auch um der Gefahr zu entgehen, einfach den berühmtberüchtigten „Müller-Sound“ zu reproduzieren.

Simons: Dazu gibt es tatsächlich eine passende Geschichte. Während der Arbeit an „Titus“ kam der Schauspieler Wolfgang Pregler zu mir und schimpfte: „Ich verstehe diesen Heiner Müller einfach nicht, was ist das für ein intellektueller Blödsinn!“, und schob mir sein Skript über den Tisch. Ich schob es ihm daraufhin zurück und sagte: „Aber hör mal, Wolfgang, auch für mich ist das ein Telefonbuch.“ Grundsätzlich versuche ich immer, stark mit der Musikalität der Sprache zu arbeiten. Weil ich Holländer bin, lese ich ein Stück zuerst auf Holländisch, danach auf Deutsch, und dann versuche ich, beides zu kombinieren. Aber auf den Proben höre ich letztendlich nur noch musikalisch. Darum ist es für mich auch immer wieder eine schöne Herausforderung, auf Deutsch zu inszenieren. Im Moment machen wir zum Beispiel „King Lear“, und dabei höre ich einfach den Unterschied zwischen dem Englischen und dem Deutschen. Im Deutschen ist es so, dass jemand, zu dem man etwas sagt, daraufhin eine Pause macht, um noch einmal zu hören, was gesagt wurde. Aber die englische Sprache funktioniert völlig anders. Wenn man dort etwas sagt, kommt sofort etwas zurück. Darum muss man Shakespeare sehr einfach sprechen, so, dass die Texte direkt aufeinander folgen.

Meinecke: Ich würde sagen, mit Musik bekommt man es im Theater eigentlich immer zu tun. Nur ist es leider oft sehr lausige Musik. Zum Beispiel habe ich an diesem Haus erlebt, damals unter Dieter Dorn, wie Claus Peymann die Stücke von Thomas Bernhard ihrer Musikalität vollständig beraubt hat, indem er sie mit Psychologie, schrecklichen Kunstpausen und Rumgeschreie vollpumpte. Ich fand diese Peymann-Bernhards übrigens umso schlimmer, als ich Bernhard eigentlich immer gerne mochte, und ich habe erst später aus seinen Briefwechseln mitbekommen, dass er sich eigentlich nur wegen des Geldes darauf einließ. Jedenfalls habe ich erst wieder begonnen, regelmäßiger ins Theater zu gehen, nachdem ich hier eine Johan-Simons-Inszenierung gesehen hatte, „Dekalog“, in der endlich nicht mehr so gepumpt und geschrien und pausiert wurde, sondern Musikalität auf einem hohen Level zu erleben war, sehr elegant, dezent und leise. Das war wirklich eine der schönsten Sachen, die ich je gesehen habe; und es hat mir so eingeleuchtet, dass ich ab diesem Moment wieder ins Theater gegangen bin.

Das hat aber vielleicht gar nicht mit dem Begriff Pop zu tun, sondern allgemein mit dem Thema Musikalität. Ich finde darum zum Beispiel auch interessant, dass ihr an den Münchner Kammerspielen jetzt auch stärker Konzertmusik und sogenannte E-Musik ins Theater bringt. Worin besteht da für dich eigentlich der Reiz, oder auch die Differenz zu einem Konzertsaal?

Simons: Zunächst einmal finde ich wichtig, die Genres zu erweitern, auch für die Schauspieler. Und dann glaube ich, dass die Musik so noch einmal eine andere Dimension erhält. Nimm zum Beispiel „La Notte“ von Franz Liszt, eine unglaublich schöne Musik, die er gegen Ende seines Lebens geschrieben hat. Wenn man dieses Stück hört, denkt man: Ja, das ist wirklich die Nacht. Wenn man dazu aber auch noch in einem Theater sitzt, in dem man sich an Inszenierungen erinnert, die man dort gesehen hat, dann bekommt man vielleicht noch einmal ein anderes Bild als in einem Konzertsaal. Darüber hinaus interessiert mich das Moment des zufälligen Geräusches sehr, wie es zum ersten Mal von John Cage als Musik behauptet und benutzt worden ist. In meinem „King Lear“ gibt es zum Beispiel ein Geräusch von Stiefeln auf der Bühne, aber einer der Stiefel hat Sporen und der andere nicht, so dass sie sehr unterschiedlich klingen. Die Arbeit mit diesen verschiedenen Geräuschen liebe ich. Ist das eine Antwort auf deine Frage?

Meinecke: Das ist eine Antwort, ja. Ich denke nur gerade darüber nach, dass diese Arbeit mit Geräuschen im Moment sehr verbreitet ist und teilweise schon wieder übertrieben wird. In manchen Filmen wird zum Beispiel von Sounddesignern jeder Schritt nachsynchronisiert. Oder es gibt Klänge von zufallenden Autotüren, die das Resultat von monatelangen Research-Arbeiten sind, weil man mit ihnen etwas Bestimmtes verbinden soll, das nicht in Worten zu fassen wäre. Auch in Werbefilmen findet man das sehr häufig. Warum gibt es im Moment anscheinend allgemein eine solche Lust auf „Sound“?

 

Ich glaube, man muss hier unterscheiden. Jemand wie Cage hat sich ja für das zufällige Geräusch, für das Moment des Zufalls, interessiert, während die monatelange Arbeit am Sound einer Autotür doch auf das genaue Gegenteil zielt, auf den Ausschluss von Zufall und Kontingenz. Und zugleich geht damit eine extreme Semantisierung einher. Es scheint mir der Versuch, etwas zu hegen oder repräsentierbar zu machen, was eigentlich unterhalb der Schwelle der Repräsentation spielt und diese vielleicht sogar durchschlagen könnte. Vielleicht lässt sich dieser letzte Aspekt aber auch noch einmal mit Pop verbinden. Denn auch Pop wird häufig mit etwas assoziiert, was unterhalb von Repräsentation spielt – das Wort „Subkultur“ zielt darauf, und auch ein Denker wie Gilles Deleuze hat von „Pop-Philosophie“ gesprochen, weil er versucht hat, das Feld der Repräsentation radikal zu verlassen. Wenn ich nun an deine Romane denke, Thomas, etwa an „Hellblau“, wo zahllose „Mikrokulturen“ in Erscheinung treten, die irgendwo unterhalb der offiziellen Bilder spielen, die sich eine Gesellschaft auf der Makroebene gibt, dann frage ich mich, ob es dir um etwas Ähnliches geht.

Meinecke: Ich weiß nicht, ob ich mit diesem Begriff eines Unterhalb von Repräsentation so viel anfangen kann, vielleicht verstehe ich ihn auch falsch. Musik zum Beispiel halte ich für ein einziges Verweissystem, das gar nicht unterhalb dieser Schwelle stattfinden kann. Ich glaube nicht an referenzlose Kunst, und ich habe auch nie verstanden, wenn Leute über Elektro oder Techno gesagt haben: „Ah, das ist endlich der reine Sound ohne Referenz!“ Schließlich sind es zumindest soziale Räume, in denen diese Musik abläuft. Und die sind wiederum durch Performance definiert, womit man nun bei dem anderen Begriff wäre, der mir auch als jemandem, der Theaterwissenschaft studiert hat, immer wieder in den Kopf kommt und den ich später in feministischen Theorien wiedergefunden habe.

Simons: Die Problematisierung von Repräsentation ist heute natürlich eines der wichtigsten Themen im Theater. Dadurch hat sich vieles verändert. Wenn ein Schauspieler wie Thomas Schmauser zum Beispiel sagt: „Ich möchte keine Figur mehr spielen, sondern nur noch etwas, das mit mir selber zu tun hat“, dann bedeutet das auch: Ich lasse mich nicht mehr auf die alte Weise inszenieren, denn ich möchte mich nicht mehr verletzen lassen. Gerade das Theater hat ja enorm viele Verletzungen durch Inszenierung produziert, und das hat immer mit Repräsentation zu tun gehabt.

 

Vielleicht kann man das Problem noch einmal von einer anderen Seite her angehen: Wenn diese Theaterräume, die ja schon rein architektonisch einer exzessiven Repräsentationskultur entstammen – nämlich der absolutistischen –, sich mit Elementen der Subkultur verbinden, dann kann es ganz schrecklich und anbiedernd werden. Aber es kann eben auch funktionieren. Und die Frage wäre: Wann und warum funktioniert es?

Simons: Ich würde behaupten, es funktioniert immer dann, wenn es eine eigene Ebene hat. Ich würde zum Beispiel niemals Popmusik oder ein schönes Lied benutzen, weil es gerade zu wenig Emotion auf der Bühne gibt. Die Idee „Jetzt machen wir mal etwas Musik, damit die Leute etwas spüren oder fühlen“ halte ich für einen richtigen Betrug am Publikum.

Meinecke: Vielleicht wird aber auch langsam das Publikum ein bisschen klüger. Du kannst jemanden nicht mehr mit Disco konfrontieren, ohne dass er oder sie nicht weiß, dass Disco auch ein subversiver, sexuell andersdenkender Raum sein kann und nicht einfach Ilja Richter und Fernsehprogramm bedeutet. Ich glaube, inzwischen sind alle durch Popzusammenhänge etwas „diskursiv trainierter“. Vielleicht kann man darum heute auch mit Bands auf der Bühne arbeiten – viele Bands der neunziger oder der nuller Jahre sind ja mittlerweile am Theater, auch mein Bandkollege Carl Oesterhelt arbeitet hier an diesem Haus. Und die schönsten Abende unserer letzten Tournee waren tatsächlich die im HAU in Berlin, im Centraltheater Leipzig und eben hier, an den Münchner Kammerspielen. Aber wie ist es eigentlich dazu gekommen, dass das, was ganz früher mal eine gammlige Betonhalle war, in der ein paar hundert Leute stehen, die warmes Bier trinken und eine Band anhören, durch Theaterräume ersetzt wurde? Was ist jetzt eigentlich anders?

Simons: Mein Sohn studiert Komposition, und er spielt auch in Bands. Sie proben einen Abend, und am nächsten Abend gehen sie schon auf die Bühne. Ich glaube, etwas Ähnliches fängt an, auch im Theater zu existieren, glücklicherweise. Wir machen hier zum Beispiel Lesungen, bei denen Carl mitspielt und die nur einen einzigen Tag geprobt werden. Das kommt natürlich auch aus einer Brecht-Tradition: Man nimmt einen Text, schreibt eine Musik darüber, manches wird als Sprechgesang gemacht, manches wirklich gesungen. An ein ähnliches Projekt denken wir auch wieder im nächsten Jahr.

Meinecke: Was habt ihr da vor?

Simons: Ich kann es noch nicht genau sagen, die Idee ist noch ganz neu. In jedem Fall wird gelesen werden, andere Texte sollen dazukommen, und Carl wird Musik machen, die damit zu tun hat. Dann sollen noch andere Musiker eingeladen werden, vielleicht ein Quartett, das zum Beispiel „La Notte“ spielt. Also eine Kombination von Popmusik, klassischer Musik und Texten, auf unterschiedlichen Ebenen. Ich bin sehr gespannt darauf. //

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