I. EINLEITUNG
3. Mahagonny und die Religion
von Charlotte Wegen
Während Hofmannsthal sein Libretto dem nach Rezeptionsvorbildern geschaffenen Mythos einer verlassenen Frauenfigur widmet und damit zumindest teilweise den Ariadne-Topos der Antike zum Gegenstand seiner librettistischen Opernarbeit von 1912 wie auch von 1916 macht, nimmt die Mahagonny-Oper Rekurs auf verschiedene Bibelpassagen, die in Mahagonny allerdings nicht in originärer Gestalt auftauchen, sondern in ihrem zitathaften Erscheinen Züge des Komischen als verfremdendes Mittel tragen. Es ist in erster Linie das Verdienst von Gunther G. Sehm, den Nachweis zahlreicher Bibelzitate im Zuge seiner These, Mahagonny sei »in seinen Grundstrukturen nichts anderes als eine Parodie der Bibel«,50 herausgearbeitet zu haben. Eine Paraphrase dessen, was längst zum Standardwerk der kanonisierten Brecht-Forschung zählt, soll nicht das Ansinnen dieser Untersuchung sein.
Da die Bibel als Glaubensfundament christlicher Religion unbedingten Wahrheits- und Geltungsanspruch erhebt, ist sie unter dem Gesichtspunkt ihrer sakralen Textualität von Mythen, wie sie die griechische Antike prägen, zu unterscheiden. Dass dieses Abgrenzen nicht ganz einfach von der Hand geht, mag sicherlich auch damit begründet sein, dass die griechische Mythologie, die griechische Kultur für das deutsche Bürgertum insofern paradigmatisch war, als es das griechische Ideal in die jetzige Zeit als deutsche Kultur zu übertragen suchte.51 Die Geschichte der historischen Bibelkritik vom 18. Jahrhundert bis zu Rudolf Bultmanns ›Entmythologisierungsthesen‹52, die man wohl mit dem problematischen Hinweis zu entkräften suchte, bei den biblischen Erzählungen handele es sich ja gar nicht um Mythen, »zeigt den prekären Status sakraler Literatur in nachmythischen Kulturen«.53
Dabei erfolgte die Rettung der Bibel »vergleichbar der Rettung antiker Mythen, einerseits euhemeristisch (nach dem Motto ›Und die Bibel hat doch recht‹, hierher gehören auch die Diskussionen um den historischen Jesus oder um die Qumran-Texte), andererseits allegorisierend, als Suche nach höheren Wahrheiten.«54 Gerade im Hinblick auf jene Entmythologisierungsbestrebungen des 20. Jahrhunderts wird der bibelwissenschaftliche Diskurs über etwaige mythologische Elemente in der Heiligen Schrift (insbesondere des Alten Testaments) nochmals deutlich.55 Das muss vor allem damit zusammenhängen, dass die Bibel als mehr oder weniger institutionell fixierter Textkörper an das Subjekt andere hermeneutische Herausforderungen stellt als der nicht kanonisierte bzw. nicht kanonisierbare Mythos. Die Feststellung, dass Religion und Mythos, allen konstitutiven Verschränkungen56 und denotativen Unschärfen zum Trotz, eines Differenzierungsversuches im jeweiligen begriffsmäßigen Einsatz, in ihrem Weltverhältnis bedürfen, kann jedoch nur eine Facette der Beobachtung sein. In diesem Sinne ist denn auch die Religion im Verhältnis zum Mythos als der zweite von drei Kernbegriffen in dieser Arbeit einstweilen darzustellen.57
Was etwaige Begriffsbestimmungen betrifft, so übersehen »die gängigen, von der Phänomenologie herkommenden Definitionen« von Religion »als ›Erlebnis des Heiligen‹ oder ›des Transzendenten‹ oder ›des Numinosen‹ geflissentlich, daß das ›Erlebnis‹ nicht spontan gegeben, sondern stets durch Institutionen vorgeprägt und vermittelt« sei.58 Als eine nennenswerte phänomenologische Betrachtung erweist sich da beispielsweise die (nicht ganz unumstrittene Argumentation) von Ernst Cassirer59, die im Abgrenzungsdiskurs von Mythos und Religion60 das ausschlaggebende Merkmal ihrer Distinktion auf Seiten des Rezipienten, im menschlichen Bewusstsein selbst bestehen sieht. Mit dem Aufkommen von Religion begründet sich also ein neues Bewusstsein, das im Gegensatz zum mythischen Weltverständnis um die Bedingungen für die Möglichkeit seiner Erkenntnis, um den unbedingten Eigenanteil, um seine »aktive Rolle des menschlichen Geistes im Akt der Erkenntnis«, am Verstehen der Welt und damit um des Menschen Part an der Erscheinung des Göttlichen in den artefaktischen Symbolen solcher Offenbarung weiß61:
Die Religion vollzieht den Schnitt, der dem Mythos als solchem fremd ist: indem sie sich der sinnlichen Bilder und Zeichen be- dient, weiß sie sie zugleich als solche, – als Ausdrucksmittel, die, wenn sie einen bestimmten Sinn offenbaren, notwendig zugleich hinter ihm zurückbleiben, die auf diesen Sinn »hinweisen«, ohne ihn jemals vollständig zu erfassen und auszuschöpfen.62
Die Ausbildung einer neuartigen reflexiven Dimension im menschlichen Geist hat damit eine Erkenntnisform zur Folge, die religiöses Denken vom mythischen Denken in gewisser Weise scheidet.63 Das Bewusstsein, zum einen der Zeichenhaftigkeit von Symbolen, zum anderen des Unterschieds zwischen dem Selbst als Subjekt und der Welt als Objekt gewahr, bekundet den Beginn einer individuierenden Weltanschauung. Die Veränderung dieses Weltverhältnisses durch die Religion, die mit dem aufkommenden »Gefühl der Individualität«64 zugleich eine neuartige Beziehung zum Heiligen setzt65, hat das mythische Lebensgefühl, ungebrochener Teil einer Einheit, eines Ganzen zu sein, weit hinter sich gelassen. »So entspricht einem Individuum, das von sich weiß, die Vorstellung einer ihrerseits individuierten Gottheit«66, wie sie in individuierenden Glaubensrichtungen und ihrem bereits abstrahierten Weltbild offenbar wird. Was dem mythischen Verständnis nach noch ununterschiedenes Seinsganzes war, wird im Zuge dieses neuen Gefühls von Individuation gelöst und in Kategorien gebracht, die sich nicht länger als symbiotisch verstehen: Transzendenz und Immanenz, Gut und Böse67 lauten jene Begriffspaare, an deren Anfang sich die Distanz zwischen Mensch und Gott setzt. Neben dem moralischen Bewusstsein68 bringen individuierende Religionen mit ihrem höheren Grad an Abstraktion aber auch ein rationalisiertes Verhältnis zur Natur dergestalt hervor, dass sie sie der Sphäre von Gesetz und Gesetzesmäßigkeit zuordnen: »Es ist dieses Moment, an dem deutlich wird, dass auf dem Weg zum rationalen Weltbild der wissenschaftlichen Erkenntnis die Ablösung der Religion vom Mythos einen entscheidenden Schritt darstellt.«69
Das kulturgenealogische Theorem Cassirers und damit seine neumethodische kritische Analyse der Ursachen kultureller Verarmung am Phänomen der Ambivalenz mythischer Kulturursprünge70 mutet zwar auf den ersten Blick wie eine Form von Dialektik der Aufklärung an71, doch ist diese speziöse Nähe zur Kritischen Theorie in wissenschaftlichen Diskursen zumindest kontrovers diskutiert worden.72 Ohne seine Philosophie in ihrer ganzen Reichweite tatsächlich kommentieren zu können, sei an dieser Stelle lediglich auf den kulturkritischen (nicht aber kulturpessimistischen) Part insbesondere der späteren Argumentation Cassirers verwiesen73, die im kulturellen Fortschritt allen voran das Kräfteringen von Mythos und die Religion Vernunft erblickt. Dass dies Ringen sich aber weder in der strukturellen Vermitteltheit von Mythos und Aufklärung begründet noch in der Instrumentalität menschlicher Vernunft realisiert sieht74, gehört an dieser Stelle ebenfalls vermerkt. Vielmehr gilt Cassirers diagnostische Beobachtung jenen Symbolwelten, denen er auch sein gesamtes philosophisches Tun widmete. Gerade in ihnen entdeckt er nämlich eine Potentialität, hinter sich selbst zurückzufallen und damit eine Möglichkeit qua natura, welche symbolische Welten bereits in ihrer Konstitution mit dem Dispositiv der Depravation versieht.75 Dabei führt der Rückfall immer zurück in jenen Zustand, an dem die Herausbildung von Kultur überhaupt erst ansetzt, der also kein Differenzbewusstsein kennt und dessen unumgrenztes Welterleben auch bei Cassirer als Mythos beschrieben wird: Mythos als kulturelles Urprinzip von Weltgestaltung, als Fundament jedweden Fortschritts menschlicher Freiheit, aber auch als indifferente Denkform, »die in der kulturellen Realisierung dieser Freiheit überwunden werden muss«76. Eben in diesem Überwindungsmoment findet sich jene unauflösliche Verwobenheit der Inhalte von Mythos und Religion wieder, die in ihrem Übergang von Mythos zu Religion auch die »Dialektik des mythischen Bewusstseins«77 markiert.
Damit ist keine Zersetzung des Mythos als Logik des Scheins im Sinne Immanuel Kants gemeint, sondern eine Bewegung, die sich mit der Genese von Religion, dem aus ihr erwachsenen Differenzbewusstsein und der für ihr Bestehen erforderlichen Negation des Mythos in Gang gesetzt fühlt. Die Religion selbst bleibt nämlich – allen Abgrenzungstendenzen gegenüber dem Mythos zum Trotz – auf den Vorgang der Symbolbildung und damit auf die mythische Symbolwelt wesentlich angewiesen:
»In dem Hinausstreben über die mythische Welt der Bilder und in der unlöslichen Verklammerung und Verhaftung mit eben dieser Welt liegt ein Grundmoment des religiösen Prozesses selbst«; die höchste geistige Sublimierung, die die Religion erfahre, bringe diesen Gegensatz nicht zum Verschwinden, sondern diene dazu, ihn – ganz im Gegenteil – immer schärfer kenntlich zu machen.78 Religion, gebunden an eine tradierte Symbolsprache und im Bann selbstreferenzieller Wirklichkeitsannahmen, vermag den menschlichen Geist, der das Zeichen- und Bildsystem von Gottessymbolen kraft seiner Vorstellung schafft, sie also in Darstellungen seiner Ideen wandelt, nicht zu erfassen. So wagt sie nicht den Sprung in eine Freiheit, wo der Mensch – die symbolische Welt nunmehr als Selbstoffenbarung seines eigenen Geistes dekuvrierend – seine unabdingbare Autonomie erfährt. Stattdessen bleibt Religion im stetigen Rückbezug auf eine mythische Symbolsprache in einer Welt verhaftet, der sie zugleich fremd geworden ist: »Denn, was sich an der Entwicklung vom Mythos zur Sprache wohl zeigen läßt, nämlich der zunehmende Wirklichkeitsverlust und die zunehmende Entfremdung durch Abstraktion als Preis einer Freiheit, die sich als Weltdistanz manifestiert, läßt sich bereits am Beispiel der Religion demonstrieren.«79 Religion ist der erste Schritt, der gegenüber der Welt entfremdet.80
Damit sei Religion nicht nur im Sinne einer definitorischen Annäherung beschrieben, sondern auch ihre problematische Stellung in nachmythischen Kulturen kurz dargestellt.
50 Die oben zitierte Beobachtung, die Gunther G. Sehm hinsichtlich der biblischen Bezüge in Mahagonny macht, lautet in Gänze: »Wer diese Verwandtschaft ernst nimmt, ist freilich genötigt, sich mit der neuartigen Vermutung vertraut zu machen, Bertolt Brechts Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny sei durchaus nicht nur ein gesellschaftskritisches Spektakulum oder ein kunstkritisches Exemplum, sondern in seinen Grundstrukturen nichts anderes als eine Parodie der Bibel.« Sehm, Gunter G.: »Moses, Christus und Paul Ackermann. Brechts Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny«, in: Fuegi, John/Grimm, Reinholf/Hermand, Jost (Hrsg.): Brecht-Jahrbuch 1976, Frankfurt/M. 1976, S. 83 – 100, hier: S. 85 f.
51 Insofern ist es nicht ganz richtig, von den griechischen Mythen als »für die Moderne theologisch neutral[en]« zu sprechen. Die griechische Mythologie ist im Hinblick auf die Moderne, im Hinblick auf das Bürgertum nicht bloß als Anekdote – wie dies bei Herwig Gottwald vertreten scheint – zu verstehen. Vgl. Gottwald: Spuren des Mythos in moderner deutschsprachiger Literatur, S. 115.
52 Ausgangspunkt für Bultmanns ›Entmythologisierungsthesen‹ ist seine Feststellung, dass das Weltbild des Neuen Testaments mythisch sei und dem mythischen Weltbild die Darstellung des Heilsgeschehens entspreche. In mythologischer Sprache werde sie zum eigentlichen Gegenstand der neutestamentarischen Verkündung. Vgl. Bultmann, Rudolf: Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündung, hrsg. v. Eberhard Jüngel (= Beiträge zur evangelischen Theologie. Theologische Abhandlungen Bd. 96), München 1985, S. 12 f. Bultmann (wie im Übrigen auch Paul Tillich) habe sich zum Ziel gemacht, »den Mythos oder das Mythische im Christentum nicht [zu] eliminieren, sondern [zu] interpretieren«. Vgl. Körtner, Ulrich H. J.: »Mythos und Entmythologisierung. Paul Tillich und Rudolf Bultmann«, in: Die Macht des Mythos. Das Mythosverständnis Paul Tillichs im Kontext, hrsg. v. Christian Danz und Werner Schüßler (= Tillich Research Bd. 5), Berlin/Munich/Boston 2015, S. 143 – 173, hier: S. 146. Was etwaige mythische Elemente im Alten Testament angeht, so habe die Umwandlung des Mythosverständnisses nach Christian Gottlob Heyne im 18. Jahrhundert die nachfolgende Verwendung des Mythos-Begriffes bei der Deutung alttestamentarischer Texte eingeleitet: War das Mythosverständnis »bisher schwankend und unsicher gewesen – im allgemeinen galten Mythen einfach als Erzeugnisse dichterischer Phantasie –, verstand der Göttinger Altphilologe Chr. G. Heyne (1729 – 1812) ›Mythos‹ erstmals […] in umfassender Weise als die infolge eines dreifachen Mangels – an Wissen um die Kausalzusammenhänge, am Vermögen, Allgemeines und Abstraktes auszudrücken, und an der Fähigkeit der Distanzierung durch Reflexion – einzig mögliche, notwendige und universale, das heißt allen einzelnen Äußerungen zugrunde liegende Vorstellungsweise der frühen Menschheit schlechthin.« Vgl. Petersen, Claus: Mythos im Alten Testament. Bestimmung des Mythosbegriffs und Untersuchung der mythischen Elemente in den Psalmen, hrsg. v. Georg Fohrer (= Beiheft zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft Bd. 157), Berlin/ New York 1982, S. 1.
53 Gottwald: Spuren des Mythos in moderner deutschsprachiger Literatur, S. 114.
54 Ebd., S. 114 f.
55 Franz Schupp führt dazu aus: »Die Problematisierung des Christentums durch alternative Bestimmungen von Mensch und Welt, die sich ausdrücklich als nicht-mythologisch verstehen, führten Vertreter des Christentums zu der Frage, ob eine nicht-mythologische Interpretation desselben möglich wäre. In den letzten Jahrzehnten wurde dieses Problem (das im übrigen so alt ist wie das Christentum selbst, wie es die Lehre von den ›Pistikern‹ und ›Gnostikern‹ und die des mehrfachen Schriftsinnes zeigt, die schon bei den Kirchenvätern zu finden ist) in aller Schärfe im Zusammenhang des Entmythologisierungsprogramms Bultmanns diskutiert. In dieser Diskussion wurde der Eindruck erweckt, als sei es tatsächlich möglich, das Verhältnis von (biblischer) Religion und Mythos bis zu einem Punkt zu transformieren, wo eine nicht-mythologische Interpretation von ›Religion‹ oder sogar eine nicht-religiöse Interpretation von ›Glaube‹ möglich wäre.« Die Grenzen dieses Programms seien aber durchaus sichtbar: »Durch die Tatsache, daß mit der nicht-mythologischen Interpretation auch gleichzeitig eine nicht-religiöse Interpretation von ›Glaube‹ gefordert wurde, wurde jedenfalls die enge (oder untrennbare?) Zusammengehörigkeit von Religion und Mythos anerkannt. Bei genauer Analyse zeigt sich aber, daß diese Zusammengehörigkeit auch das Entmythologisierungsprogramm selbst übergreift, daß also die Trennung von ›Glaube‹ auf der einen Seite und ›Mythos‹ und ›Religion‹ auf der anderen Seite nicht gelungen ist.« Was sich also als nicht-mythologische Interpretation vorstelle, sei in Wirklichkeit eine Form des Mythos, die sich auf eine höhere Abstraktions- und Generalisierungsstufe gehoben sehe, nämlich des im Existenzialismus formalisierten gnostischen Mythos. Vgl. Schupp, Franz: »Mythos und Religion: Der Spielraum der Ordnung«, in: Poser, Hans (Hrsg.): Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium, Berlin/New York 1979, S. 59 – 74, hier: S. 71 f. Walter Burkert hingegen bemerkt, dass Religion und Mythos prinzipiell unabhängig voneinander und nicht unter allen Umständen voneinander abhängig seien. Seine Beobachtung macht er daran fest, »daß es Mythen auch außerhalb religiöser Kontexte gibt und daß es Religionen ohne oder zumindest nahezu ohne Mythen gibt […] Dies besagt, daß Religion und Mythos prinzipiell unabhängig voneinander und nicht unter allen Umständen aufeinander angewiesen sind«. Vgl. Burkert, Walter: »Mythisches Denken. Versuch einer Definition an Hand des griechischen Befundes«, in: Poser, Hans (Hrsg.): Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium, Berlin/New York 1979, S. 16 – 39, hier: S. 33.
56 So schreibt Cassirer, dass kein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem mythischen und dem religiösen Denken bestehe. Beide haben ihren Ursprung in der gleichen elementaren Erscheinung des menschlichen Lebens. Zugleich konstatiert er ihre Verschränkung: »In der Entwicklung der menschlichen Kultur können wir keinen Punkt angeben, an dem der Mythos endet, und die Religion anfängt.« Vgl. Cassirer, Ernst: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, aus dem Engl. von Reinhard Kaiser, Frankfurt/M. 1990, S. 139.
57 Dass hier insbesondere Cassirers Gedanken zur Religion dergestalt zur Geltung kommen, dass sie für den angewandten Religionsbegriff dieser Arbeit herangezogen werden, ist mit der vorgeblichen Nähe von Cassirer zu Horkheimer und Adorno zu begründen. So sind es allen voran Cassirers Überlegungen einer Dialektik des mythischen Bewusstseins sowie seine zu einem späteren Zeitpunkt verfassten Thesen über politische Mythen, die eine solche Verwandtschaft zumindest laut einiger Theorien nahelegen. Grob skizziert, gehen beide von einem Mythos als potentiellem Gefahrenbringer und einer rückfallgefährdeten Kultur aus. Dass etwaige Berührungspunkte in diese Richtung bestehen, sei an dieser Stelle (noch) nicht bestritten.
58 Vgl. Burkert: »Mythisches Denken«, S. 33.
59 So verweist Hans-Thies Lehmann zu Recht mit Benjamin darauf, dass man sich Cassirers Auffassung nicht unbedingt zu eigen machen muss: »Mythos sei im Verhältnis zu rationalen Begrifflichkeit nur ›unreif‹. Schon Walter Benjamin bezweifelte, daß man wie Cassirer mythisches Denken als bloßen Gegensatz zum rationalen zureichend bestimmen kann. Es verfügt über seine eigene Rationalität. « Lehmann, Hans-Thies: »Die Raumfabrik – Mythos im Kino und Kinomythos «, in: Bohrer, Karl Heinz (Hrsg): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion, Frankfurt/M. 1980, S. 572 – 609, hier: S. 547.
60 Für die Kritik an Cassirers Religionsbegriff vgl. Paul Tillich, der die Arbeit Cassirers zwar anerkennt, dabei aber einwendet: »Es ist nur ein Punkt, der […] Bedenken erwecken könnte, die Definition des Mythos und die Bestimmung seines Verhältnisses zu Wissenschaft, Sprache, Religion. Es scheint mir nicht angängig zu sein, all diese Dinge gleichsam in einer Ebene zu sehen […] Was ist nun Mythos? Wir erfahren es von Cassirer nicht.« Tillich, Paul: »Probleme des Mythos«, in: Theologische Literaturzeitung 49 (1924), S. 115 – 117, hier: S. 116. Andreas Kubik indes wirft Cassirer u. a. vor, dass er seinen Religionsbegriff zu eng gefasst habe (was in seiner Bestimmung der Religion als Prototyp der Differenz von Symbol und Sache begründet liege) und nur auf solche Religionen anwendbar gemacht habe, bei denen das bildnegierende Moment besonders hervortrete. Zusätzlich habe Cassirer Religion einzig als Durchgangsstadium begriffen und damit ein Entwicklungsschema operabel gemacht, dass darauf abziele, den Mythos gänzlich zu überwinden. Das komme einem Evolutionismus gleich, wie ihn auch das von Cassirer kritisierte Drei-Stadien-Gesetz August Comtes vertreten habe. Vgl. Kubik, Andreas: Die Symboltheorie bei Novalis. Eine ideengeschichtliche Studie in ästhetischer und theologischer Absicht, Beiträge zur historischen Theologie, hrsg. v. Albrecht Beutel (= Beiträge zur historischen Theologie Bd. 135), Tübingen 2006, S. 11.
61 Vgl. Bongardt, Michael: »Kulturphilosophie versus Offenbarungstheologie. Die Religion in der Sicht Ernst Cassirers und Max Schelers«, in: Religion und Metaphysik als Dimensionen der Kultur, hrsg. v. Ralf Becker, Ernst Wolfgang Orth (= Trierer Studien zur Kulturphilosophie. Paradigmen menschlicher Orientierung Bd. 18), Würzburg 2011, S. 167 – 176, hier: S. 171.
62 Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen: Zweiter Teil: Das mythische Denken, Darmstadt 1953, S. 286. Enno Rudolph schlussfolgert: »Das animal symbolicum führt sein Bestes, die Symbolsprache, an den Rand ihrer Selbstdementierung.« Rudolph, Enno: »Die sprachliche Kohärenz des symbolischen Universums. Der Weg zur ungeschriebenen Religionsphilosophie Ernst Cassirers«, in: Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie, hrsg. v. Dietrich Korsch, Enno Rudolph (= Religion und Aufklärung Bd. 7), Tübingen 2000, S. 76 – 90, hier: S. 87.
63 Rudolph beschreibt diese Differenz wie folgt: »Für das mythische Bewusstsein […] offenbart sich Gott gleichsam mit jedem Augenschlag. Für die Religion hingegen wird die Singularität von Offenbarung zunehmend aufgehoben, sie wird zum Universalereignis verfremdet.« Gleichzeitig hebt er auch ihre Gemeinsamkeit hervor: »Dennoch haben beide das gemeinsam, was gerade immer wieder gern als der Wesenszug der Religion gegen den Mythos ausgespielt wird: beide sind kulturelle Leistungen […]«. Rudolph, Enno: Theologie – diesseits des Dogmas. Studien zur Systematischen Theologie, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1994, S. 8. Obwohl diese Trennung nach Cassirer den eigentlichen Anfang des spezifisch religiösen Bewusstseins ausmache, ließe sich der Inhalt des religiösen Bewusstseins, je weiter man ihn bis zu seinen Ursprüngen zurückzuverfolgen suche, umso weniger von dem des mythischen Bewusstseins scheiden. Beide seien derart ineinander verflochten und verkettet, dass sie sich nirgends in wirklicher Bestimmtheit voneinander sondern und einander gegenüberstellen lassen. Vgl. Cassirer: Das mythische Denken, S. 285.
64 Cassirer: Versuch über den Menschen, S. 151. Das Gefühl der Individualität erscheine als eine Negation oder zumindest eine Einschränkung jener Universalität des Fühlens, die von der Religion im Sinne des omnis determinatio est negatio gefordert werde.
65 Nämlich: »Die Beziehung eines Ich zu einem Du.« Waßner, Rainer: Institution und Symbol. Ernst Cassirers Philosophie und ihre Bedeutung für eine Theorie sozialer und politischer Institutionen (= Spuren der Wirklichkeit Bd. 17), Hamburg 1999, S. 32.
66 Recki, Birgit: Kultur als Praxis. Eine Einführung in die Philosophie Ernst Cassirers der symbolischen Formen, Berlin 2004, S. 97. Diese Beobachtung geht auf die Bemerkung Cassirers zurück, die er im Zusammenhang von monotheistischen Religionen macht: »Eine der ersten und wichtigsten Funktionen der höheren Religionen bestand darin, in dem, was man das Heilige, das Sakrale, das Göttliche nannte, solche personalen Elemente aufzuspüren.« Cassirer: Versuch über den Menschen, S. 152. Dabei gehe Cassirer im Anschluss an die empirische Mythenforschung seiner Zeit davon aus, dass sich Symbole personaler Gottheiten erst allmählich aus den frühen Symbolen des ›Heiligen‹ als eines unpersönlichen Numinosums herausbilden. Vgl. Höfner, Markus: Sinn, Symbol, Religion. Theorie des Zeichens und Phänomenologie der Religion bei Ernst Cassirer und Martin Heidegger (= Religion in Philosophy and Theology Bd. 36), Tübingen 2008, zugl. Diss. Univ. Heidelberg 2007, S. 131.
67 So heißt es bei Cassirer selbst: »Einem ganz anderen Aspekt des Göttlichen begegnen wir in den großen monotheistischen Religionen. Diese Religionen sind Ausfluß moralischer Kräfte; sie konzentrieren sich auf einen einzigen Punkt, auf das Problem von Gut und Böse.« Cassirer: Versuch über den Menschen, S. 156.
68 Für Cassirer sei der Mythos zwar bereits gestaltendes Prinzip gegenüber der bloßen Seinsfülle, die erste Stufe einer Gradation der Ratio, verharre aber noch in der Sinneseindrucksumgebung. So überwinde Religion deren Fesseln, »transzendiert sie in einem moralischen Bewusstsein – im übrigen ein neukantianischer Topos: schon für Cohen war Religion letztlich Moralität.« Vgl. Waßner: Institution und Symbol, S. 33.
69 Recki: Kultur als Praxis, S. 98.
70 Vgl. Rudolph: »Die sprachliche Kohärenz des symbolischen Universums«, S. 87 f. Mit seiner Diagnose nehme Cassirer, so heißt es bei Rudolph, auch methodisch die Entdeckung einer Dialektik der Aufklärung längst vor deren Konjunktur und in Anwendung auf die gesamte europäische Kulturgeschichte quasi vorweg.
71 So sei Cassirers Philosophie der symbolischen Formen wegen ihrer historisch-kulturkritischen Stoßrichtung, ihrer Fragestellung und ihrem methodischen Vorgehen ein ungenanntes Vorbild der Projektionstheorie, die Horkheimer und Adorno in der DdA aufstellen. Nach Britta Scholze begreifen beide Theorien Symbole nicht als Offenbarungen eines Transzendenten, sondern als menschliche Schöpfungen. Vgl. Scholze, Britta: Kunst als Kritik. Adornos Weg aus der Dialektik, Würzburg 2000, S. 211 f. Auch Holger Burckhart erkennt eine Nähe zu Horkheimer und Adorno, die dadurch erkennbar werde, dass Cassirer die Möglichkeit des Rückfalls, der Depravation von ›Symbolwelten‹ bereits im Zusammenhang ihrer Konstitution erörtert habe. Damit gehe er weit über Kant hinaus und auf Horkheimer/Adorno zu. Vgl. Burckhart, Holger: Philosophie, Moral, Bildung, Würzburg 1999, S. 82. Nach Christian Danz liege die Ähnlichkeit in der Verwendung des Mythosbegriffs begründet: »Ähnlich wie die Autoren der Dialektik der Aufklärung zogen auch Paul Tillich und Ernst Cassirer den Mythosbegriff zur Analyse der politischen Entwicklung im 20. Jahrhundert heran.« Danz, Christian: »Die politische Macht des mythischen Denkens. Paul Tillich und Ernst Cassirer über die Ambivalenz des Mythos«, in: Die Macht des Mythos. Das Mythosverständnis Paul Tillichs im Kontext, hrsg. v. Christian Danz und Werner Schüßler (= Tillich Research Bd. 5), Berlin/Munich/Boston 2015, S. 119 – 141, hier: S. 120.
72 Siehe hierfür allen voran Heinz Pätzolds Abhandlung, die Cassirers Spätwerk Myth of State mit der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno gerade im Hinblick auf ihre theoretische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der nationalsozialistischen Herrschaft in Verbindung bringt. Pätzold, Heinz: »Ernst Cassirers ›Myth of the State‹ und die ›Dialektik der Aufklärung‹ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno«, in: ders.: Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext, Darmstadt 1994, S. 111 – 145. Für ein Beispiel der wissenschaftlichen Analyse etwaiger Gemeinsamkeiten hinsichtlich kulturgenetischer Betrachtungen bei Cassirer und Adorno siehe die Dissertation von Bevc, Tobias: Kulturgenese als Dialektik von Mythos und Vernunft. Ernst Cassirer und die Kritische Theorie (= Trierer Studien zur Kulturphilosophie Bd. 11), Würzburg 2005, zugl. Diss. Univ. Augsburg 2004.
73 Cassirers spätere Theorien der politischen Mythen offenbaren einen Wandel in seiner Deutung von kulturellem Fortschritt. War es zunächst der Weg der Freiheit, so erkennt Cassirer jetzt: »Was wir in der harten Schule unseres modernen politischen Lebens gelernt haben, ist die Tatsache, daß die menschliche Kultur keineswegs das festverankernde Ding ist, für die wir sie einst hielten.« Cassirer: Vom Mythus des Staates, aus dem Engl. von Franz Stoessl, Zürich 1949, S. 389. Politische Mythen fasst er dabei folgendermaßen zusammen: »Mythus ist immer als Ereignis einer unbewußten Tätigkeit und als ein freies Produkt der Einbildungskraft bezeichnet worden. Aber hier [in den politischen Mythen, Anm. C.W.] finden wir Mythus planmäßig erzeugt. Die neuen politischen Mythen wachsen nicht frei auf: sie sind keine wilden Früchte einer üppigen Einbildungskraft. Sie sind künstliche Dinge, von sehr geschickten und schlauen Handwerkern erzeugt. Es blieb dem zwanzigsten Jahrhundert, unserem eigenen großen technischen Zeitalter, vorbehalten, eine neue Technik des Mythus zu entwickeln. Künftig können Mythen im selben Sinne und nach denselben Methoden erzeugt werden, wie jede andere moderne Waffe – wie Maschinengewehre oder Aeroplane.« Ebd., S. 367 f. Das Phänomen politischer Mythen deute Cassirer dabei als Rückfall in den Mythos, als Wiederkehr einer im Grunde überwundenen Kulturstufe, die ihre Ursache zwar im Erlahmen ›geistiger‹ Kräfte habe, dies Erlahmen aber nicht in der Amivalenz geistiger Kräfte im Sinne der Dialektik der Aufklärung begründet liege. Vgl. Höfner: Sinn, Symbol, Religion, S. 107.
74 Dazu hält Michael Bösch beispielsweise fest: »Bei aller Kritik an den Prozessen der jüngsten Moderne, wie sie Cassirer insbesondere in seinen Spätschriften entfaltet und dabei z. B. den Zusammenhang von Mythos und Technik im Nationalsozialismus problematisiert, ist es für ihn unvorstellbar, die Wissenschaft als solche in ihrer kultur- und gesellschaftsprägenden Form zu kritisieren oder ihr gar eine implizite Mythisierung im Sinne der Totalisierung ihrer eigenen Perspektive vorzuhalten. Dadurch unterscheidet sich Cassirers idealistische Kulturkritik von derjenigen der Kritischen Theorie.« Bösch, Michael: Das Netz der Kultur. Der Systembegriff in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers, Würzburg 2004, S. 210.
75 Ebendieser Rückfall, von dem hier die Sprache ist und der sich im Mythus des Staates zu erkennen gibt, ist für Cassirer (wie auch für Horkheimer und Adorno) durch das Aufkommen des nationalsozialistischen Staates historisch exemplifiziert worden.
76 Höfner: Sinn, Symbol, Religion, S. 135.
77 Siehe Cassirer: Das mythische Denken, S. 281 ff.
78 Vgl. ebd., S. 301.
79 Rudolph: Theologie – diesseits des Dogmas, S. 7.
80 Ursache dieser Entfremdung sei die der Religion eigene Distanz zum Mythos sowie ihr Verlust der Bilder, die sie auch die unmittelbare Verbindung von Sinn und Sinnlichkeit verlieren ließe. Vgl. Luscher, Birgit: Arbeit am Symbol. Bausteine zu einer Theorie religiöser Erkenntnis im Anschluss an Paul Tillich und Ernst Cassirer (= Tillich-Studien Bd. 19), Berlin 2008, S. 178.