Theater der Zeit

Gespräch

Im visuellen Schacht

Die Welt durch den Fokus betrachten – Bettina Meyer über ihre Arbeit in gigantischen Hallen und kleinen Boxen

von Bettina Meyer und Ute Müller-Tischler

Erschienen in: Arbeitsbuch: Bild der Bühne, Vol. 2 / Setting the Stage, Vol. 2 – 17 Bühnenbildner:innen im Porträt (06/2015)

Assoziationen: Kostüm und Bühne Akteure

ALLES MUSS WEG! EIN URBANITÄTSPROJEKT (Lukas Bärfuss, Katja Hagedorn, Bettina Meyer, Anja Kerschkewicz, Nadia Schrader) Schauspielhaus Zürich, 2011.Foto T+T Fotografie
ALLES MUSS WEG! EIN URBANITÄTSPROJEKT (Lukas Bärfuss, Katja Hagedorn, Bettina Meyer, Anja Kerschkewicz, Nadia Schrader) Schauspielhaus Zürich, 2011.Foto T+T FotografieFoto: T+T Fotografie

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Bettina Meyer, als Bühnenbildnerin und Ausstattungsleiterin arbeiten Sie in Zürich an drei Bühnen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Ist das für Sie ein Traum oder eher ein Fluch?

Mich ­reizen die verschiedenen Rahmenbedingungen: Der Pfauen ist eine klassische Guckkastenbühne mit einer festgelegten Zuschaueranordnung und sehr schwie­rigen Sichtlinien; im Schiffbau gibt es zwei Räume, die Halle und die Box, die ursprünglich gar nicht dafür gedacht waren, dass man Theater in ihnen spielt, und die man daher immer als Ganzes neu gestalten muss. Wenn ich ausschließlich im Pfauen arbeiten würde, wäre das wahrscheinlich ermüdend. Aber durch den Wechsel zwischen Pfauen und Schiffbau wird es nicht langweilig.

In welchem der Räume arbeiten Sie am liebsten?

Ich glaube, in der Box. Wahrscheinlich gibt es kein Theaterstück, das man dort nicht spielen könnte. Der leere Betonraum lässt Lösungen zu, die in der ­klassischen Guckkastenbühne nie möglich wären – vor allem was die Zuschauersituation anbelangt. Die Halle ist natürlich auch ein großartiger Raum. Aber sie kann allein durch ihre Größe ein ganzes Team einschüchtern.

Dass Räume Sie das Fürchten lehren, kann man nicht gerade behaupten. Mitunter verlassen Sie den klassischen Theaterrahmen und bauen gewaltige Rauminstallationen auf.

Sie spielen mit Ihrer Frage wahrscheinlich auf „Alles muss weg!“ an. Das war eine begehbare Stadtinstallation von mir, die 2011 in der Halle zu sehen war. Zürich hat sich in den letzten Jahrzehnten städtebaulich extrem verändert. Wohnraum wird immer knapper, die Mieten steigen in astronomische Höhen. Das Team, mit dem ich „Alles muss weg!“ entwickelt habe, wollte das aufgreifen. Ich habe in die Halle eine begehbare Stadt­installation gebaut, die ästhetisch für sich stand, aber auch für anderes offen war: Bildende Künstler haben darin ihre Werke ausgestellt, es gab Vorträge. Eine Besonderheit dieser Installation war übrigens, dass sie fast nur aus alten Bühnenbildern bestand. Die Werkstätten hier am Schauspielhaus bauen nämlich wirklich tolle Bühnenbilder, aber da Zürich eine verhältnismäßig ­kleine Stadt ist, werden die Bühnenbilder nach der 25. Vorstellung verschrottet. Ich habe immer wieder gedacht, man müsste mal was mit diesen alten Bühnenbildern machen.

Was Sie dann auch getan haben.

Für „Alles muss weg!“ haben wir über eine Spielzeit hinweg Bühnenbildelemente gesammelt, die ich dann neu mit­einander montiert habe. Ich habe viel aus meinen eigenen Bühnenbildern verwendet, aber wir hatten auch ein paar Sachen von Muriel Gerstner, Bert Neumann oder anderen dabei. Man konnte genau erkennen, für welchen Regisseur die einzelnen Räume entstanden waren. Es gab Räume für große, raumgreifende Inszenierungsstile neben Räumen, die für ein sehr intimes Spiel gebaut waren. Räume, in denen Schauspieler ­leise sprechen können, und Räume, für die sie ihren Körper benutzen müssen. Ich arbeite ja inzwischen mit verschiedenen Regisseuren. Mit der Zeit lernt man die Wünsche und Sehnsüchte eines Regisseurs kennen und kann sie durch klare ästhetische Setzungen unterstützen.

Ihre Bühnenbilder werden als erfindungsreich und als visuelle Poesie gefeiert. Da überrascht es fast, wenn Sie von „Unterstützung“ reden. Sehen Sie Ihre künstlerische Arbeit als angewandte Kunstform an?

Ich glaube, unterstützend zu arbeiten, ist im Theater selbstverständlich. Theaterarbeit ist immer ein kollektiver Prozess. Man versucht, sich gegenseitig zu inspirieren, so dass jeder das tun kann, was er am besten kann: eine Inszenierung erfinden, einen Raum bauen, eine Figur verkörpern, einen Text oder eine Musik kreieren … Das hat nichts mit Dienstleistung zu tun. Man kann einen Regisseur ja auch dadurch unterstützen, dass man ihn durch einen Entwurf herausfordert. Eine räumliche Setzung kann eine starke konzeptionelle Idee beinhalten. Aber letztlich gibt es bei aller Kollektivität für jeden Theaterschaffenden einen Teil der Arbeit, den er allein machen muss. Beim Bühnenbild ist es die Phase, in der man den Entwurf, die Setzung sucht, zu der sich die Inszenierung und die Schauspieler dann später verhalten müssen.
Aber Ihre Frage nach der angewandten Kunst betrifft wahrscheinlich auch diese Mischung aus Kreativität und Pragmatik, die der Arbeit eines Bühnenbildners eigen ist. Das ist ein Balanceakt, den man tatsächlich immer wieder bewältigen muss. Bühnenbild lässt sich vielleicht irgendwo zwischen darstellender Kunst, bildender Kunst und ­Architektur verorten.

Eine klare Selbstbestimmung. Trotzdem scheuen Sie sich meist, über die eigenen Sachen zu sprechen.

Ich tue mich schwer damit, wenn Kunst erklärt werden soll. Wenn ein Werk gelingt, kann es auf sehr vielen verschiedenen Ebenen kommunizieren und darin weit über das hinausgehen, was sich sein Schöpfer einmal gedacht hat. Im Theater ist diese Kommunikation manchmal besonders komplex, weil die verschiedenen Mittel ja auch noch untereinander in Beziehung treten – Sprache, Licht, Raum, Ton … Das erklären zu wollen, beinhaltet für mich oft, eine ästhetische Erfahrung zu verkleinern.
Ich habe inzwischen ungefähr 70 Bühnen­bilder entworfen. Wahrscheinlich würden mir die, die mir wichtig waren, jetzt gar nicht einfallen … Vielleicht „Medea“ von Euripides in der Inszenierung von Barbara Frey, 2006 am Deutschen Theater Berlin. Da ist die Raumidee aus der Situation der Protagonistin entstanden: Medea ist eine Gefangene, äußerlich wie innerlich. Nina Hoss hat das ganze Stück auf klaustrophobischen vier Quadratmetern gespielt. Sie befand sich in einer winzigen, aber genau ausformulierten Welt – eigentlich in ihrem Kopf und ihren Wahnvorstellungen. Der Umraum für die anderen Figuren war das Gegenteil: weit, leer, abstrakt, kalt. Oder vielleicht „Der Hodler“ von Ruedi Häusermann oder Heike M. Goetzes Inszenierung von „Messer in Hennen“ von David Harrower, ­beide in der Box. Bei Häusermann verwebt sich der Raum richtig mit der Musik, der Sprache und dem Licht. Und für „Messer in Hennen“ haben wir die Erlebnisse der Protagonistin in eine besondere Zuschauer­erfahrung übersetzt: Ich habe eine Kirchenruine in die Box gebaut und sie in einen Stall umfunktioniert. Es war eine Welt, die spirituell und profan zugleich war, in der es stark roch und in der lebende Hühner und Schweine herumliefen. Die Zuschauer saßen wie in einer Messe auf Kirchenbänken und waren gleichzeitig umgeben von Stroh, Mist und Tieren.

Als ich Sie gefragt habe, ob Sie sich als dramaturgische Bühnenbildnerin bezeichnen würden, meinten Sie, Sie seien eher eine Bühnenbildnerin, die lange über Inhalte nachdenkt und dabei genau überlegt.

Ja, weil ich das für einen selbstverständlichen Teil des Berufs halte. Sich intensiv mit den Inhalten zu beschäftigen und darüber nachzudenken, wie der Raum für diese Inhalte aussehen könnte, gehört dazu. Aber das heißt nicht, dass ich tausend Texte über ein Stück lesen würde. Gar nicht. Meine Suche nach einem Bühnenbild verläuft manchmal sehr intuitiv. In dem Moment, in dem ich ein Stück lese, beginne ich, die Welt durch den Fokus dieses Stücks wahrzunehmen. Und plötzlich sehe ich andere Sachen als vorher, plötzlich blättere ich in einer Zeitschrift und bleibe an etwas hängen. Ich steige in so eine Art visuellen Schacht und schaue, wo ich optisch haften bleibe. Wir können uns unserer Umwelt ja nicht entziehen, wir werden ständig von ihr beeinflusst. Diese Umwelt ist für mich der Stoff, mit dem ich arbeite, mein Material, das mich überhaupt erst zu einem Bühnenbild inspiriert. In Gedanken habe ich dann irgendwann das komplette Bühnenbild fertig. Ich arbeite grundsätzlich nicht über Skizzen. Das kann zum Problem werden, weil natürlich alle immer sagen: „Zeichne das doch mal auf!“ Aber ich mache das nie. Das ist dann eher – vielleicht klingt das jetzt komisch – wie ein 3D-Drucker. Bei mir kommt das Bühnenbild sofort dreidimensional aus dem Kopf heraus. Aber das klingt jetzt alles sehr einfach. Wenn man entwirft, fängt man ja immer wieder bei null an.

Sie sagen, in der Oper arbeite es sich anders, zeitversetzter, möglicherweise auch sensitiver. Wenden Sie sich darum jetzt mehr dem Musiktheater zu?

Ich würde gar nicht sagen, dass ich mich stärker dem Musiktheater zuwende. Es ist zu meiner Arbeit im Schauspiel dazugekommen. Ich habe ja auch im Schauspiel oft mit Regisseuren gearbeitet, für die Musik sehr wichtig ist. Barbara Frey kommt von der Musik. Ruedi Häusermann ist Komponist und Musiker, seine Projekte funktionieren wie Partituren. Mich interessiert zum Beispiel die neue Generation im Musiktheater, deren Teams sehr durchlässig miteinander arbeiten und zu ganz großartigen Ergebnissen kommen. Die Zusammenarbeit mit dem Regisseur Matthias Rebstock und der Komponistin Elena Mendoza, mit denen ich „La Ciudad de las Mentiras“ für das Teatro Real in Madrid vorbereite, finde ich in dieser Hinsicht sehr inspirierend. Matthias Rebstock ist auch Professor für Szenische Musik. Als ich diesen Begriff zum ersten Mal gehört habe, konnte ich zunächst nicht viel damit anfangen. Aber je länger ich über ihn nachgedacht habe, desto richtiger schien er mir, und inzwischen finde ich ihn richtig gut. Szenische Musik als Ausdruck für diese Sehnsucht, Geschichten anhand von Bildern und Musik zu erzählen. Das gefällt mir. //

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