Wie entsteht eine Figur?
von Horst Hawemann
Erschienen in: Recherchen 108: Horst Hawemann – Leben üben – Improvisationen und Notate (03/2014)
Eine Figur sollte mehr Inhalt haben, als von ihr vorgezeigt werden kann. Der Mensch ist zum Glück viel mehr, als ich von ihm weiß, als von ihm zu sehen, zu hören und konkret zu erfahren ist. Man kann ihn auch erahnen und erfühlen. Ihn erklären kann die Bühne nicht. Sie kann eine offene Begegnung stattfinden lassen, bei der man Beziehungen eingeht oder nicht, sich annähert und entfernt, Einverständnis und Widerspruch austauscht. Eine Menschenkenntnis trifft auf eine andere Menschenkenntnis. Beide sind unvollständig. Das macht die Begegnung für die Beteiligten folgenreich.
Das Grundverhalten einer Figur bestimmt oft den Anfang des Handelns, es hat eine Vorgeschichte und besitzt bestimmte Ausdrucksmittel, die sich wiederholen und sich oft schon sehr verfestigt haben. Erfahrung und Überzeugung begleiten die Figur durch viele Situationen. Diese Grundhaltung verändert sich nur durch besondere Ereignisse, während die Figur ihr Grundverhalten durch die Entwicklung in einer Geschichte formt.
Bleibt die Grundhaltung, das Grundverhalten unveränderlich, haben wir es nicht mit einer Figur zu tun, sondern mit einem „Typen“. (Also ist Mephisto ein Typ und Faust eine Figur).
Die Wirklichkeit benennt viele Grundtypen, weil sie leichter zu erkennen sind als Figuren, deren Wesen man erforschen und ihr Verhalten und ihre Entwicklungen in Erfahrung bringen...