Auftritt
Augsburg: Stuntman im Wohnwagen
Staatstheater Augsburg: „Jerusalem“ von Jez Butterworth (DSA). Regie André Bücker, Bühne Jan Steigert, Kostüme Lili Wannert
Erschienen in: Theater der Zeit: Publikumskrise (11/2022)
Assoziationen: Theaterkritiken Bayern Staatstheater Augsburg

Den Wald als Ort der Anarchie, in dem der Mensch auf seine innere, unkontrollierbare Natur zurückgeworfen ist, bespielte schon William Shakespeare. Was dessen Komödienpersonal in den Wäldern von Athen oder Arden erlebt, lässt sich – je nach Standpunkt – als Befreiung von den Zwängen der Zivilisation oder aber als unbedingt zu sanktionierender Verstoß gegen deren weltordnende Kraft interpretieren.
Der Wald nun, den Bühnenbildner Jan Steigert in naturalismusverliebter Detailfreude aus dem Boden der Augsburger Spielstätte im martini-Park sprießen lässt, ist freilich alles andere als reine Natur. Denn die Lichtung verunziert ein abgerockter Wohnwagen, umgeben von jeder Menge schäbigem Campingmobiliar und noch mehr Unrat, der unter anderem aus leeren Bierdosen besteht, da der Bewohner dieser Absteige in großen Mengen Bier konsumiert, um die leeren Dosen mit großer Geste zu zerquetschen und achtlos ins Unterholz zu schleudern. Johnny Byron heißt der (Anti-)Held von „Jerusalem“, dem viel gepriesenen Stück des britischen Dramatikers Jez Butterworth, das in Augsburg nun seine deutschsprachige Erstaufführung erlebt hat. Ein Coup für das Staatstheater, so scheint es, sich die Rechte gesichert zu haben. Dass seit der Londoner Uraufführung allerdings deutlich mehr als zehn Jahre ins Land gegangen sind, ohne dass eine andere Bühne hierzulande zugegriffen hat, macht ein wenig stutzig.
Na, jedenfalls: Butterworths Held ist eine arbeitsloser Motorrad-Stuntman, ein abgestürzter Working Class Hero, der im zweifelhaften Ruf eines Kneipenrandalierers steht und darüber hinaus die örtliche Jugend mit Drogen versorgt. Sebastian Müller-Stahl spielt ihn als Mischung aus Punk und Prolet in Unterhemd und Armeehose. Ein räudiger Köter, der an Bäume pissend sein Revier markiert; ein brunftiger Hirsch, der nach Feuerwasser schreit; ein eitler Gockel, der seinem Spitznamen Rooster alle Ehre macht, wenn er hinkend umherstakst, die Brust stolz aufplustert, und von vergangenen oder fiktiven Heldentaten berichtet. Dass dieser Johnny Byron mit seinen Aufschneidereien auch um einen letzten Rest Würde ringt, geht bei Müller-Stahl eher unter. Die innere, kaum zu bändigende Triebnatur hat diesen Underdog zum Outcast gemacht. Längst haben ihn die Behörden auf dem Kieker, denn natürlich haust er widerrechtlich im Wald. Das Zwangsräumungskommando hat sich bereits angekündigt. Wenn es seine Arbeit getan haben wird, wird kein Hahn mehr nach diesem Rooster krähen.
Butterworths Stück spielt in der Gegend zwischen den Flüssen Kennet and Avon, für den Stücktitel stand aber nicht ein Werk des englischen Nationaldichters aus Stratford-upon-Avon Pate, sondern die Hymne „Jerusalem“ von William Blake, in der Christus durch ein idealisiertes England wandelt. Butterworth konterkariert das mit dezidierter Anti-Idylle. Um seinen Ersatz-Jesus Byron schart sich ein Häuflein äußerst windiger Jünger:innen, deren Deklassierung und krasses Außenseitertum das Ensemble unter der Regie von Intendant André Bücker durch heftiges Overacting zu unterstreichen versucht – auf dass auch ja niemandem im Publikum entgeht, dass es sich hier um besonders schräge Existenzen handelt. Byron, das ist bei Butterworth zumindest zu erahnen, ist ein Geistesverwandter von Ibsens Peer Gynt: ein Fantast und Utopist, und damit mehr als nur das Großmaul, als den ihn Bückers Inszenierung zeigt. Und Byrons Camp könnte so etwas wie ein Refugium für die Randständigen sein, mit dessen Räumung nicht nur ein Erfahrungsraum für die Ausschweifung verschwindet, sondern eben auch ein Zufluchtsort für all diejenigen, die nicht nach den Gesetzen einer durchökonomisierten Gesellschaft funktionieren wie die Rädchen im Getriebe.
In Augsburg aber wohnt man (von wenigen Momenten der Ruhe abgesehen) vier geschlagenen Stunden Dauergegröle bei. Der exzessive Gebrauch von Fäkalsprache ist dabei weder anstößig noch amüsant, sondern schlichtweg enervierend. Schon erstaunlich, wie unterkomplex hier Aufsässigkeit und Anarchie in Szene gesetzt werden. Letztlich läuft das inszenierungstechnisch sogar aufs Gegenteil hinaus: Die Art der Darstellung geht absolut konform mit übelsten Klischeevorstellungen von Prekariat. Dass „Jerusalem“, wie der Daily Telegraph jubelte, das großartigste englische Stück des Jahrhunderts sei, ist eine kühne Behauptung, die die deutschsprachige Erstaufführung nicht zu beglaubigen vermag. //